netzwerkB 9.07.2011

Kommentar von Norman Schultz

Warum Verjährung für Straftaten sexualisierter Gewalt gegen Kinder substantiell ungerecht ist.

Opfer frühkindlicher sexualisierter Gewalt können oftmals vor Gericht nicht klagen. Da sie die traumatischen Ereignisse in vielen Fällen über Jahrzehnte verdrängt haben, gelten die Taten in den meisten Fällen für die Strafverfolgung als verjährt. Natürlich spielen bei den Opfern auch Entschädigungen und Therapiekosten eine Rolle, worum es aber in einem weitaus größeren Rahmen geht, ist, ein erfahrenes Leid thematisieren zu dürfen und dieses vor der Gesellschaft. Genau diese Möglichkeit spricht ihnen aber unser Rechtsstaat ab, in der Art wie die Verjährungsfrist für solcherlei Fälle angesetzt ist. Auch wenn die Argumentation lautet, dass wir mit einer Flut von Klagen rechnen müssten oder dass die Beweisaufnahme nach 40 Jahren schwierig sei, muss jedoch unser Rechtsstaat dieses Recht prinzipiell einräumen, um überhaupt gerecht zu sein. Es geht hier also nicht um dieses oder jenes Opfer, sondern um die Frage, ob wir in einer gerechten Gesellschaft überhaupt leben wollen. Wenn wir dieses wollen, so führt kein Weg daran vorbei, den Opfern auch diese Gerechtigkeit im weitesten Rahmen zu gewähren. Um dieses aber genau zu klären, müssen wir auseinanderlegen, was Gerechtigkeit in den Fällen sexualisierter Gewalt eigentlich bedeutet.

Gerechtigkeit als Moral

Gerechtigkeit ist die Frage nach unserem sozialen Miteinander und so als das Moralische in unserer Gesellschaft zu verstehen. Die Frage nach Gerechtigkeit gibt es, so gefasst, nur zwischen Menschen, die miteinander leben wollen. Sie bezeichnet den moralischen Zustand, da alle unsere Interessen ihren Ausgleich finden und der Frieden in der Gesellschaft hergestellt worden ist. Es ist wichtig sich zu merken, dass ich diese Form der Gerechtigkeit als Ausgleichsgerechtigkeit bezeichnen werde, da es hier immer um den Ausgleich von Interessen geht. Es geht bei dieser Ausgleichsgerechtigkeit also nicht so sehr um die Frage, was überhaupt gerecht ist, sondern das vorrangige Ziel ist mit weitblickender Weisheit den Frieden im Staat zu sichern. Daher ist es auch möglich, dass wir einen Täter in seinen Freiheitsrechten einschränken, obwohl das Recht auf Freiheit als unveräußerliches Menschenrecht besteht.

Diese Argumentation wird meines Erachtens nun übertragen, um Verjährungsfristen zu rechtfertigen, da Verdächtige nicht auf alle Zeit verfolgt werden sollen und der Friede im gemeinschaftlichen Miteinander im Vordergrund stehe. Ich möchte allerdings argumentieren, dass dies keineswegs gerecht ist und den Frieden in unserer Gesellschaft nicht langfristig sichert, sondern hingegen ein Problem unausgesprochen lässt, womit viele Opfer ihr Leben lang zu kämpfen haben und die Freiheit des Opfers stärker angreifen als durch einen Prozess in die Freiheit eines Verdächtigen eingegriffen werden würde. Es geht hier in besonderer Weise um Über- und Eingriffe in das Werden einer Person, die erst ihre Freiheit gewinnen muss. Vergehen, die an Kindern begangen werden lassen aus diesem Grund keine Verjährungsfrist zu. Wir müssen uns daher für eine Abschaffung der Verjährungsfrist einsetzen, um langfristig die Rechte von Kindern zu sichern und nicht nur die Rechte der bereits Betroffenen. Dafür werde ich argumentieren.

Gerechtigkeit als Bedingung für das eigene gute Leben (Ethik)

Der Gerechtigkeitsbegriff ist nicht nur als Ausgleichsgerechtigkeit bestimmt, sondern auch in unserer ethischen Lebensweise angelegt. Das heißt: Wir werden kein lebenswertes Leben empfinden können, wenn wir nicht Gerechtigkeit in unserem Leben erfahren und gerecht handeln. Aber was heißt das? Ich gehe davon aus, dass wir uns nur als freie Person fühlen können, insofern wir uns in unserer Freiheit entfalten dürfen. Diese Entfaltungsfreiheit schließt das gegenseitige Verständnis mit ein, dieses auch einem anderen zu gewähren, so wie er es mir gewährt. Ausgleichsgerechtigkeit hat daher nicht ihre Legitimation im bloßen Ausgleich von angeblich objektiv materialen Interessen des Staates. Es geht nicht allein um den Frieden im Staat, sondern es geht mit dem Frieden im Staat um die Freiheit seiner Staatssubjekte überhaupt, die damit den Staat und die Ausgleichsgerechtigkeit erst legitimieren. Jedwede Form der Ausgleichsgerechtigkeit bezieht also ihre Legitimation erst daraus, dass Individuen sich gegenseitig als freie Personen anerkennen. Ein Staat ist daher nicht gerecht, weil er irgendeine Form der Ausgleichsgerechtigkeit praktiziert, sondern weil in diesem Staat durch die Anerkennung der Individuen untereinander die freie Ausgleichsgerechtigkeit als Ideal erst etabliert wird.

Diese Würde des Menschen, sich selbst als frei am anderen zu begreifen, ist Grundlage für jede Form von Gerechtigkeitsvorstellung überhaupt und ist damit die Grundgerechtigkeit. Gerechtigkeit heißt somit vor allem dies: Als freie Person anerkannt werden.

Wie aber wird man eine freie Person, die erst den Staat in seinem Auftrag zur Ausgleichsgerechtigkeit legitimiert? Durch Erziehung zur Freiheit. Kinder müssen daher in besonderer Weise geschützt sein, um später ihre Rolle als freie Person in der Gesellschaft wahren zu können. Werden sie in dieser Weise nicht geschützt, verspielt der Staat seine Legitimation selbst. Verbrechen, die sich also gegen die Freiheit der Kinder richten, sind zu gleich Verbrechen gegen die Grundfeste des Staates selbst und gegen alle Mitglieder seiner Gemeinschaft und verlangen daher besonderer Beachtung.

Bestreitbarkeit von allgemeingültiger Gerechtigkeit

Ausgleichsgerechtigkeitsbegriffe sind ihrer Natur nach umstritten, da diese Gerechtigkeitsbegriffe erst in Gesellschaften auf den Weg kommen. Zum Beispiel: Wie viele Jahre Freiheitsstrafe soll es für Steuerhinterziehung geben? Welche Strafen für Diebstahl? Wie hoch sollen Entschädigungen sein? Diese Fragen werden in verschiedenen Staaten moralisch verschiedentlich behandelt. Daher lautet die Behauptung Gerechtigkeit sei zurückgebunden an die jeweilige Gesellschaft und relativ. Eine pluralistische Moderne mag hier die Runde für den Debattierclub als eröffnet ansehen. Gerade im westlichen Staatsverständnis setzt sich die Forderung nach Ausgleich gleichberechtigter Interessen durch. Hierbei verliert unsere Gemeinschaft in vielen Fällen die Übersicht und vor allem den Blick auf das Individuum, das Ursprung dieser Ausgleichsgerechtigkeit ist. Dieses Individuum verliert im Theoriegebäude der Ausgleichsforderungen seinen Stellenwert. Erst dieses Individuum als freie Person aber fundiert doch mit allen anderen Individuen als freie Personen den Bezugsrahmen unter dem Ausgleichsgerechtigkeit erst möglich ist. Daher muss dieses Individuum bei jeder Ausgleichsgerechtigkeit besonders berücksichtigt werden und dieses gilt insbesondere bei Fällen sexualisierter Gewalt. Denn bei sexualisierter Gewalt steht weniger die Frage nach Ausgleich im Vordergrund, sondern die Frage nach Grundgerechtigkeit.

Die Herausforderung sexualisierter Gewalt an unser Gerechtigkeitsverständnis

Frühkindliche sexualisierte Gewalt fordert unser Verständnis von Ausgleichsgerechtigkeit aus vielerlei Gründen heraus, vor allem aber, da das Kind hier einer Grundfreiheit tiefgehend beraubt ist. Hier geht es nicht um zivilrechtlichen Ausgleich, denn die Waage der Justizia kann nicht mehr ins Lot gebracht werden.

Ich will das mal an Beispielen verdeutlichen:

Prämisse 1: Person A verprügelt Person B
Prämisse 2: Person B verklagt Person A und erhält Recht. Person B erhält damit eine Entschädigungszahlung und Person A eine Haftstrafe.

Konklusion: Die Ausgleichsgerechtigkeit ist hergestellt.

Dieses Argument verkennt einen wichtigen Aspekt. Zwar ist Person B von Person A entschädigt worden, das heißt aber nicht, dass die etwaige Demütigung und die Folgen für die Psyche von Person B beseitigt worden sind. Im Falle des Kindermissbrauchs wird das deutlicher:

Prämisse 1: Person A missbraucht Person B sexuell.

Prämisse 2: Person B verklagt Person A und erhält Recht. Person B erhält damit eine Entschädigungszahlung und Person A eine Haftstrafe.

Konklusion: ?

Warum zögern wir hier davon zu sprechen, dass Gerechtigkeit wiederhergestellt worden ist? Weil wir davon ausgehen, dass hier nicht nur irgendeine Form des gerechten Zusammenlebens verletzt worden ist, sondern die Gerechtigkeit überhaupt. Wir glauben, dass hier die Gerechtigkeit, die die Grundlage für uns als freie Personen ausmacht, verletzt worden ist. Was in Beispiel I nur diffus sichtbar war, erscheint uns in Fällen sexualisierter Gewalt als offensichtlich.

Im Falle der frühkindlichen, sexualisierten Gewalt nimmt der Täter das Opfer nicht mehr im Rahmen der persönlichen Freiheitsrechte wahr und schädigt dieses Opfer dabei so nachhaltig, dass in den meisten Fällen Wiedergutmachung einfach nicht zu leisten ist. In diesem Sinne ist die Frage nach Gerechtigkeit keine Frage mehr, die sich auf materiale Entschädigung bezieht, die vielleicht nach einem Verständnis von Ausgleichsgerechtigkeit verhandelbar wäre. Ausgleichsgerechtigkeit kann hier nicht mehr walten, da das Opfers selbst so massiv in seiner Integrität beschädigt worden ist, so dass anscheinend nichts dieses mehr zurücknehmen kann.

Die Verunmöglichung der Freiheit bei sexualisierter Gewalt

Um es klarer zu sagen: Der Täter schädigt das Opfer nicht nur in dem Moment der Tat mit vielleicht physischen Verletzungen, sondern greift tief in die Entwicklung zu einer freien Persönlichkeit ein. Freie Persönlichkeitsentfaltung ist aber Voraussetzung dafür, dass Ausgleichsgerechtigkeit überhaupt ihre Grundlage findet.

Was wir als physischen Vorgang beobachten, bedeutet den Schrecken erst auf der psychischen Ebene, deren Dimension wir nur in Gesprächen erfahren, aber niemals vollends erfassen können und nicht nach Fragen der Ausgleichsgerechtigkeit abhandeln können. Der Täter zerstört den Bezugsrahmen für eine gesunde Psyche womöglich unwiderruflich, da er das Opfer zwar „nur“ in seiner Physis attakiert, darüberhinaus aber viel stärker in seiner freiheitlichen Selbstbestimmung zum Objekt degradiert. Diese Demütigung ist so einschneidend, da das, was uns als Menschen ausmacht, nämlich unsere persönliche Freiheit, in einem Stadium übergangen wird, da diese sich erst entwickelt. Unser Körper, den wir immer selbst besitzen, aber dem wir zugleich auch ausgeliefert sind, wird bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder nur auf das reine Körpersein reduziert und das, was wir vielleicht als Seele in Form unserer freien Selbstbestimmung bezeichnen können, wird somit so stark mit den erzwungenen sexuellen Handlungen verdinglicht, dass ein Entfremdungseffekt beim Opfer zu sich selbst seinen Ursprung nehmen muss. Das heißt das Opfer kann sich nicht mehr so leicht in seiner Freiheit begreifen und wird biographisch immer auf seine Geschichte als Opfer zurückbezogen sein.

Das ist natürlich keine Psychologie, die ich hier beschreibe, sondern nur die Analyse unseres Verständnisses von freien Personen. Was sind die Grundvoraussetzungen dafür, dass ein Mensch sich als vollwertige Persönlichkeit unserer Gesellschaft mit aller Selbstgewissheit erfahren kann? Hierzu gehört unweigerlich, die Anerkennung und Einbeziehung als freie Person in diese Gemeinschaft. Dieses aber wird der sich entwickelten Persönlichkeit verwehrt.

Unser Selbstverständnis müssen wir in Auseinandersetzung mit der Welt gewinnen, wenn wir im Falle der sexualisierten Gewalt aber als Gegenstand in der Welt zur Welt nur noch in dieser Weise dazugenommen werden, so ist der Zugang zur Welt als solcher durch allerlei Hindernisse verstellt. Erschwerend kommt hinzu, dass der Täter sein Opfer nicht nur als Gegenstand behandelt, sondern noch als Person mit Freiheit, die er zum Gegenstand degradieren kann. Warum muss er denn einen Menschen wählen? Es geht also nicht rein um Befriedigung der Sexualität, sondern dem Täter geht es selbst immer schon um den Angriff auf die Freiheit des Menschen überhaupt. Es muss doch klar sein, dass die Schuld nicht beim Opfer liegt, daher kann nur ein hemmungsloser Sexualdrang, der in Bezug auf die Degradierung der Freiheit eines anderen ausgeübt wird, das Motiv sein. Dieses Motiv aber ist damit nicht nur ein Angriff auf eine andere Person, das Tätermotiv ist bestimmt durch eine tiefgreifende Ablehnung gegenüber eines Prinzips, das unseren Staat erst ausmacht. Die Dimensionen sind hier also begrifflich noch in vielfältiger Weise zu erweitern und zu durchdenken, wichtig aber ist, dass der Täter das Opfer so schädigt, dass keine Ausgleichsgerechtigkeit mehr geschehen kann, da niemand dem Opfer seine freie Persönlichkeitsentfaltung zurückgeben kann und das Opfer sich immer nur unter dem Eindruck seiner psychischen Reduzierung auf Gegenständlichkeit nachhaltig bewegen kann. Da er dieses aber auch will handelt es sich nicht nur um einen Angriff auf eine Person, sondern um eine nachhaltige Störung der gesellschaftlichen Gerechtigkeit und nicht nur ihres momentanen Friedens. Dieses hat damit der Täter zu verantworten.

Die Waage der Justizia kann in diesen Fällen nie wieder zum Ausgleich gebracht werden. Kein weltliches Verfahren kann Wiedergutmachung für die Opfer leisten. Auch wenn der Täter lebenslang hinter Gittern verbringt, er seine Einsicht zeigen mag, um Wiedergutmachung ringt, wo erst ein Mensch sich so tiefgreifend als Nichts erfahren musste und so stark in seiner Entwicklung entwertet wurde, dort kann sich das Opfer nicht mehr ohne Weiteres in der Welt die Freiheit zurückgewinnen. Das Ringen um das Selbst, wird zur existentialen Frage, die erschüttert ist, von dem Erlebnis nur das niedrigste Ding unter den Dingen sein zu müssen und nicht, wie es dem Wesen des Menschen gemäß ist, sein eigener und letzter Wert (Zweck) wahrgenommen zu werden.

Wie könnte eine Entschädigungszahlung diesen Wert des Selbst-Seins zurückgeben? Wie könnte ein Wert aufwerten, was überhaupt erst Werte spontan erzeugen kann. Der Mensch in seiner Freiheit ist durch kein Geld der Welt wieder herstellbar. Hier sind Kinder von einem Täter in ein Schicksal ohne Schuld eingefügt worden und das ohne Recht auf das, was jedem zusteht: Ein ungestörtes Selbst sein zu dürfen. Ein anderer Mensch hat sie mit klarer Absicht in ihrer Freiheit entwertet und dies ist die tiefste Ungerechtigkeit, die empfunden werden kann. Dieses ist die Ungerechtigkeit man selbst sein zu müssen, zugleich die Ungerechtigkeit nicht ein anderer sein zu dürfen und zuletzt nicht man selbst sein zu können. Das Selbstverhältnis gerät hier in die stärkste Störung, die Welt überhaupt auslösen kann.

Natürlich Entschädigungszahlungen helfen, die Opfer bekommen notwendige Therapien, die vage Möglichkeit sich selbst zurückzuerlangen. Doch darin liegt keine Garantie. Für viele Opfer verbleiben Selbstzweifel ein Leben lang in Form einer zerrissenen Psyche, die auch nur frei sein will. Die Vergangenheit holt sie immer wieder in ihre Dunkelheit des ungewissen Selbst zurück. Das Vergessen kann die Geworfenheit in das eigene Schicksal nicht verbergen. Hier ist die Ungerechtigkeit Opfer sein zu müssen, obwohl er oder sie doch Person ist. Doch wäre die Alternative ein Leben ohne Vergangenheit zu führen? Wir können uns nur in Auseinandersetzung mit unserem Werden gewinnen, ein Verdrängen ist kein Glück, aber Erinnern auch nicht mehr. Das Verhältnis des Menschen in sich selbst, zu dem seine gesamte Vergangenheit dazu gehört, ist gestört. Vergessen ist oftmals die einzige Alternative, um nicht die Schmerzen noch mal zu erleben, doch zu einem Menschen gehört doch seine gesamte Existenz.

Was bedeutet dies für unsere Gesellschaft?

Da wir Schaden schnell in Verbindung mit verrechenbaren Zahlen bringen, so erweckt es den Anschein als könnte eine Geldsumme überhaupt so etwas wie Entschädigung leisten und die Waage der Justizia wieder ins Lot bringen. Natürlich sind die Opfer zumeist finanziell ruiniert, da sie nicht mehr arbeiten können und ein aufwändiges Therapieprogramm verfolgen müssen, wenn sie denn überhaupt eines zur Verfügung gestellt bekommen. Viel schlimmer aber ist, dass dem Opfer eine Entfaltung der freien Persönlichkeit genommen worden ist. Was hätte aus ihm werden können, wenn seine Freiheit nicht schon so früh und so nachhaltig eingeschränkt worden wäre? Ein hartgesottener Liberaler mag hier nun auf die prinzipielle Freiheit des Individuums pochen, sein Leben immer wieder neu beginnen zu können, wo aber das Selbstvertrauen in einer so gravierenden Weise und die ganze Persönlichkeitswahrnehmung im Rahmen der eigenen Körperlichkeit so tief zerstört worden ist, da wird die persönliche Geschichte zu einer Frage, die jedes Ereignis im Alltag bestimmt. Die Freiheit eines Menschen muss sich in einem gesunden Verhältnis zur Welt erst ausprägen, geschieht dies in dieser Weise nicht, so nützen alle Floskeln nichts mehr: „Reiß dich zusammen!“, „Vergiss, was nicht zu ändern ist!“ oder „Denke positiv!“ Jeder Motivationskünstler kommt hier an seine Grenze. Das Opfer hat einen Raub erlitten, das ihm kein anderes Gut der Welt ersetzen kann, die eigene Möglichkeit zur Freiheit in einer unbeschwerten Persönlichkeit ist ihm genommen. Die Person als Opfer, die Person, die erst allen Werten Wert gibt, hat es unermesslich schwer, die Festigkeit zu gewinnen, die es braucht, um überhaupt noch die Welt würdigen zu können. Mit dem verlorenen Selbstbewusstsein steht auch immer das Weltbewusstsein in Frage und mit dem Weltbewusstsein immer auch das Selbstbewusstsein. Wer sollte dieses jemals wieder ins Lot bringen können, wenn nicht das Opfer überhaupt selbst?

Damit ist die Ausgleichsgerechtigkeit im Prinzip nicht mehr zu bearbeiten, da ein Interessensausgleich unmöglich ist. Daher auch die strengen Forderungen der Bevölkerung für Täter solcher Vergehen wieder die Todesstrafe einzuführen, denn bei solchen Verbrechen kommt der Verstand an seine Grenze, den Schaden im Rahmen der Welt überhaupt zu verstehen. Was hier aber zerstört worden ist, ist das Transzendente selbst, nämlich der Mensch, der sich als Freiheit zum Grunde erfahren muss. Daher sind die Zahlungen der Kirchen an Geschädigte immer nur ein lächerlicher Handel. Symbolisch zwar, aber keineswegs reizen sie damit ihre noch zu gehenden Wege aus.

Warum also überhaupt Ausgleichsgerechtigkeit für die Opfer?

Die Opfer dieser Taten bedürfen Gerechtigkeit, um sich selbst zum Teil als Teil der Gesellschaft fühlen zu können. Dieses haben gerade Opfer der frühkindlichen sexualisierten Gewalt nötig, da sie in ihrer Reifung zur vollwertigen Person so nachhaltig gestört worden sind, dass sie sich nicht mehr selbst als freie Personen erleben können, die sie vom Rechtsanspruch her aber darstellen. Es ist somit eine Überwindung für das Opfer überhaupt einen Prozess anzustrengen und bereits ein Teil der Rückgewinnung der eigenen Freiheit über die grausame Vergangenheit.

Die Verjährungsfristen daher schon ab dem 18. Lebensjahr oder dem 21. Lebensjahr beginnen zu lassen, da in diesem Jahr eventuelle Abhängigkeitsverhältnisse zum Täter (zum Beispiel zum Vater) gelöst sein sollen, geht von einer physischen Persönlichkeitsentfaltung im Rahmen der Gehirnentwicklung aus. Die Persönlichkeitsentfaltung aber gelangt erst zu ihrer Entstehung, wenn der Ursprung, das freie Selbstverhältnis zu sich selbst wieder gesetzt worden ist. Dieses ist nur bedingt von den gesellschaftlichen Mittelwerten abhängig, sondern müssen wir immer auch hinsichtlich psychologisch-biographischer Konstellationen berücksichtigen. So besteht zum Beispiel die Abhängigkeit zum Täter über die Jahre der rechtlichen Volljährigkeit hinaus und entäußert sich in allerlei psychischen Problemen. Dieses reicht von der absoluten Verdrängung der Ereignisse bis hin zur Unfähigkeit sich geordnet mit der eigenen Lebensgeschichte auseinandersetzen zu können. Die Verjährung also pauschal ab dem 18. oder 21. Lebensjahr beginnen zu lassen, ist keinesfalls angemessen im Verhältnis zur Tat.

Genau genommen konnten Opfer sich nie als Teil einer gerechten Ordnung empfinden, denn erst das Erlebnis der Gerechtigkeit kann ihnen die freie Persönlichkeit geben, die sie sind. Da sie aber das Schicksal als tiefste Ungerechtigkeit erleben mussten, sich nur als Objekt in einer degradierenden Beziehung zu einem Menschen verstehen durften, muss in ihnen erst das Grundfest unseres Staates gesetzt sein und das heißt sich als freie Person vollständig zu begreifen, so dass überhaupt die Frage nach der Gerechtigkeit gestellt wird. Damit aber ist nicht die Frage nach der Volljährigkeit entscheidend, sondern die Frage nach der ersten Anerkennung ihrer Person, die durch den Täter auf Jahre hinaus verstellt worden ist.

Zur Verjährung

Der Rechtsanspruch an Opfer nach dem 18. oder 21. Lebensjahr als eine freie Person mit einem biologisch abhängigen Gehirnpotenzial ist verfehlt. Diese Opfer können oft über Jahre hinaus diese moralische Gerechtigkeit des gesellschaftlichen Miteinanders nicht nutzen. Woran liegt das aber, dass sie diese moralische Gerechtigkeit nicht rechtzeitig nutzen können? Nun der Grund, dass diese Personen als Opfer, das nicht können, liegt beim Täter. Damit ist meines Erachtens der Verjährungsgrundsatz auch abzulehnen, denn der Täter ist Grund dafür, dass es zur Verjährung kommt. Zwar hat er dieses nicht durch Arglist erwirkt, doch aber durch eine Missachtung der grundsätzlichen Freiheitsrechte eines Menschen bewirkt.

Hinzu kommt verschärfend, dass gemäß der ethischen Auffassung von Gerechtigkeit, eine Person sich nicht eher als Person in einer Gesellschaft erfahren kann, als dass sie Grundgerechtigkeit erfährt. Das bedeutet, dass sie in allen Belangen als uneingeschränkt freie Person wahrgenommen wird. Diese Freiheit ist ihr aber mit der ersten Ablehnung als Person in ihrer frühen Kindheit genommen wird. Die Person als Opfer konnte sich nicht früher zurückgewinnen und womöglich kann sie sich auch erst nach einem gerechten Verfahren zurückgewinnen, wo sie zum Beispiel erfährt, dass die Ereignisse nicht eigenes Verschulden waren, sondern einem fremden Menschen, der sie selbst nicht sind, zuzuschreiben sind und das auch, wenn das Verfahren in seiner Anlage naturgemäß schwierig ist, da die Beweislage alles andere als einfach ist.

Natürlich sind die Opfer freie Personen, diese Freiheit wird aber immer wieder durch die Erlebnisse so stark eingeschränkt, so dass sie selbst immer wieder gezwungen sind, an ihrer Freiheit zu zweifeln. Daher ist es ein Verbrechen des Staates gegen sich selbst, dass diese massive Beschädigung teilweise nicht mal mehr im Rahmen der Ausgleichsgerechtigkeit zur Anzeige gebracht werden kann, weil eine angebliche Verjährung eingesetzt hat. Dort hat ein Täter einem Menschen seine Freiheit der unbeschwerten Vergangenheit in der Weise genommen, dass er sich erst viele Jahre danach als Person in Bezug auf diese Vergangenheit zurückgewinnen kann. Dieser sich zurückgewinnenden Person diesen Rechtsanspruch zu verweigern, heißt dass der Staat das Verbrechen des Täters fortsetzt. Der Staat erkennt im Weiteren wie der Täter nicht die sich gewinnende Persönlichkeit des Opfers an. Damit wird das Verbrechen des Täters aber auch zu einem Verbrechen des Staates gegen sich selbst.

Diese Grundgerechtigkeit gegenüber dem Opfer, sich selbst gewinnen zu dürfen, ist erst die Grundlage für Ausgleichsgerechtigkeit, daher muss der Staat auch ein Interesse daran haben, diese Chancen einzuräumen. Tut er dieses nicht aufgrund der Tatsache, dass er irgendwelche Ausgleichsgerechtigkeiten in Form von Verjährung gewähren will, so nimmt er dabei Gerechtigkeit in Anspruch, die er dem Opfer in diesem Moment nicht zugesteht. Dieses ist ein performativer Selbstwiderspruch, das heißt er sagt Ausgleichsgerechtigkeit performativ dem Täter zu, obwohl er dem Opfer keine Gerechtigkeit gewährt und sich als Staat damit selbst die Grundlage für mögliche Ausgleichsgerechtigkeit entzieht. Die Grundgerechtigkeit für das Opfer ist aber in jedem Fall höher zu werten als die Ausgleichsgerechtigkeit für den Täter.

Ein Argument, warum Verjährung ungerecht ist

Ich spreche also von objektiven Gründen aus der Anlage unseres Rechtsstaates, die die Aufhebung der Verjährungsfrist fordern. Mein Argument besteht darin, dass das Opfer sich erst unter der Perspektive der Gerechtigkeit aus dem Abhänigkeitsverhältnis des Täters beginnen kann zu lösen. Zu Deutsch: Es gehört Mut in Form von Selbstbewusstsein dazu, sich einer Öffentlichkeit zu stellen und darüber hinaus über ein Verbrechen an der eigenen Intimität des Selbstseins im Rahmen eines Gerichtsprozesses zu berichten. Erst nach einem Prozess könnte daher eine Verjährungsfrist beginnen, was mit dem Prozess dann aber hinfällig ist. Zum Anderen zeigt sich klar, dass die Verjährung selbst Teil des Verbrechens ist, auch wenn der Täter diese Verjährung nicht intentional erzwingen wollte, so war die Verdrängung des Opfers aufgrund der schweren Schädigung doch Teil seiner Tat. Zu Deutsch: Er wusste bei der Straftat, dass er das Opfer in seiner prinzipiellen Freiheit beschädigt.

Wir können es auch in einem Gedankenexperiment verdeutlichen: Wenn ein Opfer von einem Mann für 45 Jahre ins Koma geprügelt wird. Warum hätte das Opfer nach 45 Jahren, wenn es erwacht, nicht mehr das Recht, diese Tatsache zur Anzeige zu bringen?

Prozesskosten können hier zwar zynische Gründe eines überforderten Rechtssystems sein, aber diese sind keineswegs gerecht. Auch die Schwierigkeit, einen Prozess aufgrund der komplizierten Beweislage führen zu können, halte ich für unangemessen, da die Beweise erst mit dem Erstarken des Bewusstseins des Opfers zu Tage kommen. Zudem müssen die Beweise auch erst in einem gerechten Verfahren geprüft werden.

Ungeachtet dieser Gründe möchte ich nochmals mein Argument schärfen: Erst mit der Eröffnung eines gerechten Verfahrens wird dem Opfer in einem Staat die Möglichkeit gegeben sich als Person in diesem Staat zu gewinnen. Daher kann eine Verjährung nicht an Gehirnpotenzialen (vollständige Entwicklung des Gehirns mit 18 soll Garant für Persönlichkeit sein?) gemessen werden, sondern es darf für solcherlei Fälle überhaupt keine Verjährung geben.

Ich will es noch mal sagen, der Prozess ist eine wichtige Möglichkeit für das Opfer sich als Mitglied in einer gerechten Gesellschaft zu verstehen, daher ist es nicht nur Aufgabe des Opfers dieses für sich einzufordern, sondern der Rechtsstaat muss dieses unterstützen, um sich selbst als gerechter Staat konsistent verhalten zu können. Konsistent verhält der Staat sich nämlich nur, wenn er von den Mitgliedern fordert Gerechtigkeit selbst zu verlangen um umgekehrt wieder legitimiert zu sein.

Erschwerend hinzu kommt, dass die Form der Gerechtigkeit, die erst im Individuum ihren Ausgang nimmt, höher zu bewerten ist als die Form der Ausgleichsgerechtigkeit, die nur unser Zusammenleben regelt. Es gibt keine anwendbare Ausgleichsgerechtigkeit, solange das Opfer nicht als Mitgleid einer gerechten Gesellschaft rehabilitiert worden ist. Darüber hinaus kann es aber für das Opfer ohnehin so gut wie keine Ausgleichsgerechtigkeit mehr geben, da das erfahrene Leid nicht mehr zum Ausgleich zu bringen ist. Das Opfer hat zwar dennoch Recht auf Entschädigung (Erstattung der möglichen Verdienstausfälle, Therapiekosten, Schmerzensgeld), das Eigentliche kann aber nicht mehr zum Ausgleich gebracht werden, nämlich die bis an die äußerste Grenze geschwundene Möglichkeit sich selbst zu gewinnen. Das Verfahren selbst aber ist ein erster möglicher Schritt zur Rehabilitierung des Opfers vor sich selbst als Person, die sich selbst gewinnen will. Dieses muss im Rechtsstaat Vorrang vor jeder Ausgleichsgerechtigkeit haben.

Schlussfolgerungen
Die Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt ist eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen unserer Gesellschaft. Es geht nicht nur um das gestörte friedliche Zusammenleben, sondern um die Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft überhaupt. Es geht um das, was erst Gerechtigkeit stiftet, die Gewähr sich als Kind frei entfalten zu dürfen und sich als freie Person ergreifen zu können. Wenn wir diese Rechte nicht uneingeschränkt zugestehen, so negiert der Staat, freie Person sein zu dürfen und setzt die Tat des Täters fort. Dieses sollte jedem Richter oder Staatsanwalt bewusst sein, der für Verjährung argumentiert. Und noch eine viel drastischere Konsequenz ergibt sich daraus: Strafverfolgung auch über den Tod der Täter hinaus. Denn es geht hier nicht (nur) um Ausgleichsgerechtigkeit zwischen Täter und Opfer, sondern der Rechtsstaat übernimmt hier die Rolle dem Opfer seine Reifung zur Person zu bestätigen und hat damit eine therapeutische Funktion für das Opfer und für sich selbst. Es geht also um eine erste Form der Anerkennung der Opfer. Der Staat kann sich hier nicht nur prozedural verhalten, sondern muss substantiell tätig werden. Er stellt nicht nur Interessensausgleich her, sondern kämpft für die Gerechtigkeit, die ihn selbst erst legitimiert.

Und  so kämpfen die Opfer auch nicht nur für sich, sondern für das, was unseren Staat von seinem Grunde her bestimmt: Endlich eine freie Person sein zu dürfen. Verjährung im Falle von frühkindlicher sexualisierter Gewalt muss aufgehoben werden.