Ein Opfer sexuellen Missbrauchs durch einen Pfarrer wendet sich nach Jahren vertrauensvoll an das Erzbistum Freiburg. Und bekommt plötzlich Post – vom Täter.

„Mein Anliegen ist die Bitte um Versöhnung und um Vergebung“, so beginnt der Brief, den Karl W. *) im Mai an Jan Beguk *) schreibt. „Mir geht es gesundheitlich sehr schlecht. Ihr Wort der Vergebung wäre für mich das heilsamste Mittel.“

Karl W. ist hochbetagt und lebt in einem Altersheim. In seinem Brief an Beguk bittet er immer wieder um Verzeihung. „Ich bin mir meiner Schuld an Ihnen sehr wohl bewusst und in manch schlaflosen Nächten muss ich meine Schuld immer wieder erleiden und durchleiden“, schreibt er. Die Schuld scheint ihn zu plagen. Denn einst war er katholischer Pfarrer – und missbrauchte seine minderjährigen Schützlinge. Eines seiner Opfer: Jan Beguk, der Empfänger des Briefes.

Von 1965 an war Karl W. als Pfarrer erst in Vimbuch und später in Weitenung in Baden-Württemberg tätig. 1990 versetzte ihn das Erzbistum Freiburg nach Löffingen. Die Begründung: Karl W. hatte ein Kind sexuell belästigt. Sechs Jahre später kam es erneut zu Vorwürfen. Wegen sexuellen Missbrauchs von acht Minderjährigen, davon fünf Fälle minderschwer, wurde Karl W. schließlich zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt. Das Erzbistum handelte und versetzte den Pfarrer in den vorzeitigen Ruhestand. Es empfahl ihm, sich einer psychotherapeutischen Therapie zu unterziehen.

Fast zwei Jahrzehnte bleibt es ruhig um ihn. Doch im Dezember 2010 gesteht Karl W. im Altersheim: In seiner Zeit als Pfarrer habe er Jugendliche sexuell missbraucht. Die betroffenen Pfarr-Gemeinderäte, Vertreter des Ordinariats des Erzbistums Freiburg und Domkapitular reagieren. Sie beschließen, das Geständnis des Karl W. zu veröffentlichen. In den Badischen Neuesten Nachrichten erscheint im Januar ein Artikel über den Fall Karl W.. Ein Infokasten ergänzt den Artikel: Das Erzbistum gibt Kontaktadressen für Opfer an. Hier sollen sie sich vertrauensvoll beim Bistum melden können.

Jan Beguk meldet sich. Bis heute leidet er unter den Folgen des sexuellen Missbrauchs durch Karl W. und benötigt psychotherapeutische Hilfe. Lange zahlte er die Kosten für die Therapie aus eigener Tasche. Nicht immer konnte er sich alle benötigten Therapiesitzungen leisten. Gemeinsam mit seiner Therapeutin Anke Lufner *) sucht er nun erstmals finanzielle Hilfe beim Erzbistum – in der Hoffnung, seine Therapie durch höherfrequente und länger dauernde Sitzungen intensivieren zu können. Er erhält die Nachricht, dass das Erzbistum die Therapiekosten übernehme.

Beguk reicht eine auf ihn ausgestellte Rechnung über die Behandlungskosten beim Erzbischöflichen Ordinariat ein. Doch sie wird erst einmal nicht beglichen. Beguks Therapeutin erkundigt sich telefonisch bei der Sekretärin des Erzbistums. Dort erklärt man ihr, sie solle ihre Rechnungen über die monatlichen Therapiekosten fortan direkt an das Bistum senden. Schließlich begleicht das Bistum die Rechnungen, und alles scheint zufriedenstellend. Doch kurze Zeit später bekommt Beguk plötzlich einen Brief. Nicht vom Bistum. Sondern vom Täter Karl W..

Das Erzbistum Freiburg hielt die persönlichen Daten von Opfer Beguk scheinbar nicht vertraulich. Und so nahm Karl W. Kontakt auf – erst mit Beguks Therapeutin, dann mit Beguk selbst.

Therapeutin Anke Lufner erhält am 27. April den ersten Brief von Karl W.. Darin bittet er sie, seinen Ersuch um Vergebung an Beguk weiterzuleiten. Drei Tage später erreicht sie ein zweiter Brief. Darin bittet Karl W. darum, die finanziellen Zahlungen für Beguks Therapie mit einer letzten Zahlung abschließen zu können. Eigentlich müsste Karl W. sich mit dieser Bitte direkt an das Bistum wenden. Denn dieses holt sich die Therapiekosten für Beguk vom Täter wieder. Stattdessen schreibt Karl W. an Lufner. Die Therapeutin ist empört. Woher hat Karl W. ihre Adresse? „Nach Erhalt des zweiten Briefes von Karl W. habe ich in Freiburg angerufen und mit der Sekretärin des Bistums gesprochen“, erinnert sie sich. „Ich sprach die Datenschutzverletzung und die Gefahr einer Re-Traumatisierung meines Patienten an. Aber die Sekretärin wiegelte nur ab.“

Dann erhält auch Beguk selbst einen Brief von Karl W. – direkt an ihn adressiert. „Mein Patient hat Angst geäußert, der Täter könne nun als nächstes leibhaftig vor der Tür stehen“, sagt Lufner. In einem Schreiben antwortet sie Karl W., mit der Bitte, ihren Patienten zukünftig nicht mehr zu kontaktieren. „In der Vergangenheit haben Sie Herrn Beguk zur Befriedigung Ihrer sexuellen Begierden benutzt“, schreibt sie. „Jetzt wollen Sie ihn zu Befried(ig)ung Ihrer Gewissensnot benutzen. So wird Herr Beguk, das Opfer Ihrer sexuellen Übergriffe, quasi erneut missbraucht, erneut für Ihre Bedürfnisse funktionalisiert, indem er jetzt noch die Verantwortung dafür übernehmen soll, sie zu entlasten um Ihnen damit Ihr Leben leichter zu machen.“

Lufner benachrichtigt auch das Erzbistum Freiburg. Sie weist auf das Schutzbedürfnis ihres Patienten hin – und beanstandet den Verstoß des Bistums gegen den Datenschutz. Am 27. Mai erhält sie eine Antwort des Domkapitulars. „Ich bitte Sie um Verständnis für unsere Situation“, heißt es in dem knappen Schreiben. Dass Beguks Adresse an den Täter weitergegeben worden sei, dass seine Daten nicht genügend durch das Bistum geschützt worden seien, darauf geht der Domkapitular in dem Schreiben nicht ein.

Therapeutin Lufner und Opfer Beguk suchen daraufhin Rat beim netzwerkB für Betroffene von sexualisierter Gewalt. Norbert Denef, der Sprecher des Netzwerkes, vermutet: Die Kirche gebe Opfer-Daten an Täter weiter. „Wir vom netzwerkB haben Sorge, dass es bereits eine Vielzahl weiterer Fälle dieser Art gibt“, sagt er. „Wir halten diesen Umgang mit den Opfern für gefährlich. Hier besteht das Risiko eines erneuten Traumas. Die Mehrzahl der Opfer verfügt nicht über eine therapeutische Unterstützung und wäre einer solchen Situation hilflos ausgesetzt.“ Daten von Opfern und behandelnden Therapeuten dürften von der katholischen Kirche nur mit ausdrücklicher Zustimmung der Opfer an die Täter weitergegeben werden.

Denef fordert außerdem personelle Konsequenzen im Bistum Freiburg. Dabei hat er besonders Erzbischof Robert Zollitsch im Visier. Zollitsch war von 1983 bis 2002 Personalreferent der Erzdiözese Freiburg, 2002 wurde er Erzbischof. Der Fall Karl W. fällt also in seine Dienstzeit. „Wir glauben nicht, dass eine gründliche Abkehr und Aufklärung unter einer Führung möglich ist, die schon seit den siebziger Jahren für Personalpolitik und auch Verdrängungsstrategien über den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen verantwortlich war“, sagt Denef.

Das Erzbistum Freiburg will den Fall erst prüfen. Dort heißt es: „Die Weitergabe von Daten eines Opfers ist ausnahmslos nur dann rechtmäßig, wenn der Betroffene dies ausdrücklich gewünscht oder hierin eingewilligt hat.“ Sollte tatsächlich ein Datenschutzverstoß vorgekommen sein, werde man Konsequenzen ziehen.

*) Name von der Redaktion geändert

Nachtrag: Einen Tag nach Erscheinen dieses Artikels hat das Erzbischöfliche Ordinariat Freiburg einen Fehler beim Datenschutz eingeräumt: Die Erzdiözese erstatte Opfern von sexuellem Missbrauch die Therapiekosten und fordere dann die Täter zur Übernahme dieser Kosten auf. Im beschriebenen Fall habe das Bistum die Rechnung der Therapeutin an den Täter geschickt – die Rechnung habe jedoch auch die Adresse des Opfers enthalten. Künftig, so heißt es in der Presseerklärung, sei sichergestellt, dass Adressen nur dann weitergeleitet werden, wenn eine entsprechende Einwilligung vorliegt. Das Erzbistum bedauere den „Einzelfall sehr, zumal die Kontaktaufnahme durch den Täter zu einer seelischen Belastung des Opfers geführt“ habe. Den Vorwurf des vorsätzlichen Verstoßes gegen den Datenschutz weist das Erzbistum jedoch zurück.

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