Es hat lange gedauert, bis ich meinem Therapeuten zustimmen konnte: Ja, ich hatte eine Missbrauchskindheit. Es waren nie die wirklich heftigen Sachen…

Mein Vater war Maler und er hat mich gezwungen, nackt für ihn Akt zu stehen. Meiner Mutter hatte ich gesagt, dass ich das nicht wolle, aber sie schaute nur zu.

Ich wuchs in einer sexualisierten Atmosphäre auf, wurde beim Wandern, wenn ich hinterm Baum austreten musste, fotografiert, im Restaurant nannte mich mein Vater einmal „mein Fickerle“. An einen Übergriff, wie man ihn sich eben vorstellt, kann ich mich nicht erinnern, obwohl mein Therapeut davon überzeugt ist, da ich von einer bestimmten Szene immer wieder Flashs u.a. habe. In späteren Jahren, etwa ab meinem 8. Lebensjahr, begann mich mein Vater verbal massiv zu demütigen. Ich sei dumm, unnütz, solle am Besten den Mund halten, wenn ich mit Menschen zu tun habe. Meine Mutter hat sich in Alkohol und ihre Arbeit gestürzt, während er pensioniert zuhause war. Alleine mit mir.

Mit 17 Jahren war ich vollkommen ausgehungert nach Zuwendung und Geborgenheit. Auf Besinnungstagen meiner Klasse (katholisches Mädchengymnasium) lernte ich Pater Gerd S. kennen. Er führte ein Meditationsspiel über die Skulptur „Russische Bettlerin“ von Ernst Barlach durch, in dessen Verlauf er einige von uns in die Arme nehmen konnte. Die Idee des Spiels: jeweils die Hälfte der Klasse sollte wie die Bettlerin mit verbundenen Augen und ausgestreckter Hand darauf warten, dass jemand kommt, die Hand nimmt, aufhilft und dann durch den Raum führt. Ich kann mich noch sehr gut an meine Gefühle erinnern, als sich die große, warme Hand des Paters in meine legte. Ich fühlte mich plötzlich wahrgenommen, liebens-wert, lebens-wert. Ich hatte Tränen in den Augen. Nach den Besinnungstagen schrieb ich euphorisch diesem Pater einen Brief, in welchem ich mich für diesen Impuls bedankte. Er nahm Kontakt mit mir auf, wir trafen uns, er schlug mir ein Brieftagebuch vor, um mich mit meinem schwierigen Elternhaus seelsorgerlich begleiten zu können. Natürlich nahm ich begeistert an und schrieb wie eine Wilde! Wir trafen uns, wenn er in der Gegend war, er nahm mich immer wieder in die Arme, nahm beim Spazieren meine Hand.
Bald darauf, ich war immer noch 17, besuchte ich ihn über ein Wochenende in seinem Pfarrhaus in Mühlenrahmede. Dort kam es dann zum Übergriff… und wie immer in meinem Leben würde ich jetzt am Liebsten schreiben: Ich mache nur halbe Sachen. Er war „nur“ mit den Fingern zugange, in mir, danach in meinem Mund, immer und immer wieder, stöhnte, usw. Ich weiss noch, dass ich irgendwann auf den Funktionsmodus geschaltet hatte: „Das muss doch jetzt einfach so sein, Du darfst Dich nicht wehren“. Aber ich fühlte, dass irgendetwas nicht richtig war. Immerhin konnte ich irgendwann sagen, dass ich müde sei und er liess von mir ab.
Das eigentlich Schlimme für mich damals war: Ich hatte tagsüber einen meiner Briefe bei ihm auf dem Schreibtisch gesehen – ungeöffnet. Er lachte darüber, in einer Mischung aus Spott und Verlegenheit. So wie er auch am Abend zuvor lachte, als er mich zum Abendessen mitbrachte und seine Mutter schimpfte: „Jetzt hab’ ich aber genug“.
Meine Prägung, die ich in späteren Jahren immer wieder bestätigt bekam: Ich selber mit meinem Wesen, mit meinen Gedanken und Gefühlen, meinen Nöten bin nicht interessant. Nur mein Körper. Und ich erhalte Zuwendung nur, wenn ich diesen Körper hergebe. Meine Reaktion darauf: Aus Angst, wieder so verletzt zu werden, hatte ich damit begonnen, meinen Körper anzubieten, sobald ein Mann auch nur ein bisschen nett mit mir gesprochen hatte, auch, wenn es nur rein menschliches Interesse war. Welcher Mann sagt dann schon nein? Zahllose heillose Beziehungen waren die logische Folge.
Nach meinem Besuch damals in Mühlenrahmede habe ich den Kontakt mit Herrn S. abgebrochen und auch alle meine Briefe zurück verlangt, die ich dann später weggeworfen habe. Als wir uns kurz nach meinem Besuch noch mal trafen  und ich ihm sagte, dass ich den Kontakt abbrechen wollte, sagte er, ich sei dagelegen wie ein Engel.

Lange Jahre habe ich diese Geschichte als Affäre abgelegt. Bis ich sie eines Tages eher zufällig meinem Therapeuten erzählte. Das war vor gut 1 Jahr. Er schüttelte den Kopf und sagte: „Das war ein sexueller Missbrauch. Sie waren eine Schutzbefohlene.“ Nach und nach wagte ich dann den Schritt und nahm Kontakt mit einer Beratungsstelle auf. Ein Psychologe der Lebensberatung Trier hat dann zwischen mir und dem Orden vermittelt und da beginnt nun das zweite Kapitel des Missbrauchs.

Gleich zu Beginn schrieb Herr S. (ich entziehe ihm die Bezeichnung „Pater“) eine Stellungnahme, in welcher er Bereitschaft signalisiert, „an der Aufarbeitung des angerichteten Unheils mitzuwirken und Konsequenzen zu tragen“. (Diese Stellungnahme liegt mir schriftlich vor). Im gleichen Bericht schreibt er, dass Prof. F. P. ihm im Jahre 2004 bescheinigt hatte, keine pädophilen Neigungen zu haben. Erstens frage ich mich, warum es dieses Gutachten überhaupt brauchte, was war der Auslöser? Und zweitens: Pädophilie ist nur die Spitze des Eisberges, wie man dem Positionspapier von NetzwerkB entnehmen kann. Auch ein Mann ohne pädophile Neigungen kann Kinder, Jugendliche und Erwachsene missbrauchen. Stichwort: Macht- und Abhängigkeitsverhältnis. Darüber hinaus machte S. 1992 / 93 eine Therapie, die er in diesem Zusammenhang erwähnte. Ein weiteres Fragezeichen.
In einer nachgereichten Stellungnahme zwei Monate später dann klingt alles etwas anders und S. stellt sich als schwach gewordenes Opfer meiner Suche nach Geborgenheit dar. (Auch dieser Bericht liegt mir vor).
Vom Orden wurde signalisiert, dass man an Aufklärung interessiert sei und es wurde die Erfüllung unserer Forderungen zugesagt:
1.    Abzug aus der Jugendpastorale (welche aus Altergründen sowieso vorgesehen war, folglich nicht als Konsequenz anzusehen ist)
2.    eine finanzielle Beteiligung an meinen Therapiekosten (ist in Höhe von € 3500.- erfolgt)
3.    eine Selbstanzeige, wozu von der Deutschen Bischofskonferenz in Abschnitt IV ihrer Leitlinien geraten wird

Letzterem widersetzte sich S., sodass der Ordensobere Herr W. uns zusagte, dies stellvertretend zu übernehmen. So weit so gut.

Zwischen dem Ordensoberen und uns bzw. meinem Vermittler, war Transparenz abgesprochen worden, d.h. sich immer gegenseitig über die jeweiligen Schritte zu informieren. Was von Herrn W. nicht eingehalten wurde: Er hat ohne uns zu fragen, geschweige denn zu informieren, meinen detaillierten und intimen Bericht beispielsweise an ebendiesen psychiatrischen Forensiker Prof. F. P. weiter gegeben, der in der Ettal-Affäre involviert war. Ebenso im Jahre 2000 im Fall M.: Dieses Mädchen war bestialisch ermordet und ihre Leiche geschändet worden, der Täter nahm sich das Leben. P. sprach von Doppelselbstmord. Sein Prinzip: Täterschutz.
So bekam ich von ihm, nicht etwa nach einem persönlichen Gespräch, sondern lediglich aufgrund meines Berichtes, über ein paar Ecken sein Urteil zu hören: „Es kann gar nicht sein, dass durch dieses einmalige, erotische Erlebnis einer 17- oder 18-jährigen Frau ein lebenslanges Trauma entsteht, zumal sie selbst schreibt, dass sie in Kindstagen missbraucht wurde.“
Aufgrund dieser Aussage kam es in meiner Ehe zu einer massiven Krise, die zu einem Zusammenbruch und einer beruflichen Auszeit mit Klinikaufenthalt im Herbst 2010 führte.
Des Weiteren wurde mein Bericht an eine Anwaltskanzlei weiter geleitet, welche die Strafbarkeit und Verfolgbarkeit überprüfen sollte. Mein Bericht war durch so viele Hände gegangen, von so vielen fremden Augen gelesen worden – ich fühlte mich nur noch beschmutzt.
Trotz dem Resümee des Anwaltes, dass die Tat, sofern überhaupt verfolgbar, verjährt sei, sicherte uns Herr W. die Anzeige zu, was sich aber über Wochen und Monate verschleppte. Auf Telefonate meines Vermittlers hin sicherte der Augsburger Anwalt J. schliesslich mehrmals zu, genau an diesem Tag die Anzeige an die zuständige Staatsanwaltschaft abzuschicken – was er dann aber kein einziges Mal einhielt.
Dann ist mir der Kragen geplatzt. Ich habe meine Deckung verlassen und mit Kopie an diverse Adressen, darunter der Missbrauchsbeauftragte des Claretinerordens und die für die Deutsche Bischofskonferenz tätige Juristin, Herrn W.und Herrn J. geschrieben, dass ich mit meiner Geschichte, insbesondere mit dem Verhalten des Ordensoberen, an die Öffentlichkeit gehen würde, wenn das Verfahren nicht eingeleitet würde. Was mir als freie Journalistin ein Leichtes wäre. Und siehe da: Nach einem ungläubigen Zögern erfolgte die Tat: Rechtsanwalt J. konnte meinem Vermittler berichten, dass er die Anzeige abgeschickt hat (allerdings an die falsche Staatsanwaltschaft … ) und von Herrn W. erhielt ich einen netten Brief im Sinne eines Schlussstriches.

Happy End?
Bis heute habe ich, trotz mehrmaliger Mails und zuletzt aufgesetztem Druck, keine schriftliche Bestätigung des Rechtsanwaltes erhalten, dass die Anzeige wirklich gemacht wurde. Und S.? Anfangs Jahr hatte Herr W. meinem Vermittler erzählt, S. wolle aus dem Orden austreten, weil er seitens seiner Mitbrüder Rückhalt in dieser Sache vermisst habe (Man stelle sich vor!). Trotz der schriftlichen Versicherung Herrn W. in seinem Schlussbrief bezüglich der Versetzung S. und der Zuteilung eines neuen Arbeitsbereiches reist S. immer noch im süddeutschen Raum umher, wohnt immer noch in seinem alten Kolleg in Weissenhorn, leitet Besinnungstage für Frauen und Eheseminare. Nach wie vor liest man in der Zeitung von seinem Charme, von seinem Humor. Die Aufarbeitung hat für S. keinerlei sichtbare Konsequenzen, er zeigt keinerlei Schuldbewusstsein keine Bussfertigkeit, genießt großen Freiraum. Und solch ein Pater soll pastorale Aufgaben ausfüllen dürfen? Welch ein Hohn, ein Schlag ins Gesicht!

Es braucht viel, bis ich aufhöre zu kämpfen. Mittlerweile bin ich in die nächste Runde gegangen.

Zum Bild:
Letztes Jahr besuchte ich das Ernst Barlach-Haus in Hamburg und setzte mich ausgiebig mit der Skulptur auseinander, die damals alles ins Rollen gebracht hatte.