Rede der Bundeskanzlerin zum `Missbrauchsgesetz´

Kommentar von Amos Ruth 27.03.2011

Nun ist also alles geregelt. Die Missbrauchten wurden angehört, die Kirchen kriechen mit stolzgeschwellter Brust demütig zu Kreuze und wollen Entschädigungen und die psychologischen Behandlungen, der Staat kommt seiner Vorsorgepflicht nach und sorgt  für die Prävention.  Die Kanzlerin hat jetzt das Wort zum Abschluss der Affäre gesprochen. Ende gut, alles gut!

Gleichzeitig glaube ich eine tiefe Resignation in vielen Kommentaren zu spüren. Immer wieder finde ich das Verhalten von Staats- und Kirchenvertretern beklagt, die Ungerechtigkeiten, das Auseinanderfallen von Sprache und Tat, die in ihrer Heuchelei  scheinbar oder tatsächlich als genauso katastrophal empfunden werden wie das eigentliche Geschehen. Das Unbehagen wird ausgedrückt in einem Kommentar – und  sofort zieht  sich der Kommentator, die Kommentatorin wieder in ihr Schneckenhaus zurück, angewidert von seiner / ihrer erneuten Instrumentalisierung, voller Wut über die Dreistigkeit der Lügen der berufsmäßig Wahrhaftigen, frustriert über die eigene Ohnmacht. Ende gut, alles gut?

Wir sind kleine Lichter gegen übermächtige Gegner, auch wenn wir uns zusammenfinden – aber wir sind Lichter, jede / jeder! Sind wir wirklich so ohnmächtig, wie Staat oder Kirche oder wer sonst uns mit Erfolg einredet, einhämmert geradezu wie beide in unglaublicher Eintracht der unbeteiligten Öffentlichkeit ihre neu erfundene, mit Reue über Vergangenes verbundene Gutheit in penetrant aufdringlicher Weise einhämmern? Die Quelle von Resignation, Frustration scheint mir die im Grunde und im Kern völlig fehlende Reaktion von Kirche und Staat auf all die Eingaben, Forderungen, Aussagen und Aktivitäten zu sein; daran ändert auch der jetzt vorgestellte Gesetzentwurf, auch die hehre, mit wohltemperierter Getragenheit vorgetragene Rede der unverehrten Bundeskanzlerin nichts. In der Tat hat Sie dem Anlass gemäß gesprochen. Der Anlass war eine Beerdigung, beerdigt wurde der Missbrauchsskandal und die Missbrauchten gleich mit. Die Regierung, die Kanzlerin vollendet, was Herr Bode in Osnabrück begonnen, was die Herren Diener der Gläubigen am 14.März 2011 weitergeführt haben. Und der Laichenschmaus? Er ist lange verzehrt in Form von 32 Millionen Euro an Forschungsgeldern.

Noch einmal: Sind wir wirklich so ohnmächtig wie die Toten? Sind wir also tot? Wollen wir es wirklich zulassen, uns lebendig begraben zu lassen? Sind wir tot, dann sind wir damit nicht mehr in der Lage, die Möglichkeiten des deutschen Rechtssystems zu nutzen.  Dann aber wird der Gesetzentwurf und jedes gesetzgeberische Wollen, aber auch jede privatrechtliche Zusage zu einer reinen Schauveranstaltung, einzig dazu bestimmt, Mangels Adressaten nicht genutzt zu werden. Aber wenn wir leben? Dann gilt das Rechtssystem auch für uns, für mich, für Sie. Gesetzliche Bestimmungen, aber auch privatrechtliche Zusagen erhalten und behalten einen,  gar viele Adressaten. Es ist an uns, die Möglichkeiten des Rechtssystems für den Einzelfall zu konkretisieren und anzuwenden – niemand wird uns diese Aufgabe abnehmen, und das völlig zu Recht. Mir scheint genau hier das Problem zu liegen: nämlich in der unausgesprochenen Erwartung, dass sich die Herren von Staat und Kirche selbst demaskieren, noch einmal! Sie werden es wohl nicht tun, aber das heißt doch nicht, dass die Demaskierung nicht möglich ist, dass ein Arbeiten daran nicht sinnvoll ist. Das deutsche Rechtssystem bietet durchaus ganz praktische Möglichkeiten, Kirche, Staat, Täter beim Wort zu nehmen  – und das öffentlich und womöglich privatrechtlich Zugesagte einzufordern.  Jede Versagung des Zugesagten ist dokumentierter Widerspruch und als solcher ein Erfolg , reißen sich die Herren von Kirche und Staat doch durch jede Versagung des Zugesagten selbst die Maske vom Gesicht, auf dass jedermann erkennen kann, dass die Worte, die Maske des vergangenen Jahres nichts anderes ist  als die gestopften Lumpen der in den Jahrzehnte, Jahrhunderte davor getragenen Masken. Ist es nicht an der Zeit, nach dem Prozess des Sprechens, das nur Ohren, aber keine Hörer fand, nach dem Prozess des Politischen, das die Missbrauchten gestalten, nicht aber für sie und mit ihnen gestalten wollte, die ganz praktische, ganz konkrete  Auseinandersetzung  zu beginnen? Die Versammlung am 09.04.2011 in Scharbeutz böte  Gelegenheit, hier ganz konkret zu werden.

Voltaire scheint mir die Situation sehr anschaulich beschrieben zu haben, auch wenn er sich auf einen völlig anderen Lebensbereich bezieht. Voltaire schrieb 1764 in der Einleitung zum Dictionnaire Philosphique: „Gegen 1750 machte die Nation, übersättigt mit Versen, Tragödien, Komödien, Opern, Romanen und noch romantischeren Reflexionen über die Moral und die theologischen Streitereien, über die Gnade und die Verzückungen, … sich (endlich) daran über das Getreide nachzudenken. Man vergaß selbst die Weinberge, um nur von Weizen und Roggen zu sprechen. Man schrieb nützliche Dinge über die Landwirtschaft; alle Welt las sie, mit Ausnahme der Bauern. Man stellte fest, wenn man aus der Opéra Comique kam, daß Frankreich Getreide in Hülle und Fülle zu verkaufen hätte“.  Bleibt zu ergänzen: `allein die Bauern wussten, wo das Getreide war: in ihrer Hände Werk´. Oder mit Bezug auf den obigen Regenwurm:  In der Regel nützt dem Regenwurm sein Winden nichts; er wird geschluckt – früher oder später.