Stand: 13. Januar 2011

„Sexualisierte Gewalt ist lebensbedrohlich, vor allem wenn sie Kinder betrifft.“ Eine Überlebende

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder stellt eine massive Form von Gewalt mit großem Zerstörungspotenzial dar. Expert/innen sprechen von Traumatisierung, wenn Menschen mit Ereignissen konfrontiert sind, die ihre normalen Anpassungsstrategien überfordern. „Anders als gewöhnliches Unglück bedeuten traumatische Ereignisse im allgemeinen eine Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit, bringen sie die unmittelbare Begegnung des Betroffenen mit Gewalt und Tod“, so die US-amerikanische Traumaforscherin Judith L. Herman. (1)

Wird ein Kind mit sexualisierter Gewalt bzw. sexualisiertem Machtmissbrauch durch einen Erwachsenen konfrontiert, stellt dies nicht nur eine Verweigerung dessen dar, was das Kind von einem Erwachsenen eigentlich lebensnotwendig benötigt (Schutz, Fürsorge, Nahrung, Wärme, Unterstützung, etc.), sondern es bedeutet darüber hinaus eine massive Überforderung seiner kognitiven, emotionalen, sozialen und neuronalen Handlungs- und Bewältigungsmöglichkeiten. Sexualisierte Gewalt setzt ein Kind in extremer Weise Hilflosigkeit und Angst aus.

Erfährt ein Kind sexualisierte Gewalt durch einen Erwachsenen – womöglich sogar einer Vertrauensperson –, so löst dies aufgrund der absoluten Abhängigkeitssituation des Kindes ein massives Gefühl der Lebensbedrohung aus. „Das Kind, das in einer Missbrauchssituation gefangen ist, muss ungeheuerliche Anpassungsleistungen erbringen. Es muss sich irgendwie das Vertrauen in Menschen bewahren, die nicht vertrauenswürdig sind; es muss sich in einer unsicheren Situation sicher fühlen, darf trotz der angsteinflößenden, unberechenbaren Umgebung die Kontrolle nicht vollkommen verlieren und trotz seiner Hilflosigkeit den Glauben an die eigenen Kräfte nicht aufgeben. Obwohl das Kind sich nicht schützen, nicht allein für sich sorgen kann, muss es den Schutz und die Fürsorge, den die Erwachsenen ihm nicht bieten, mit den einzigen Mitteln ausgleichen, die ihm zur Verfügung stehen: mit einem unausgereiften System psychischer Abwehrmechanismen.“ (1)

Nicht wenige Betroffene überleben eine solche Kindheit nicht. Entweder, weil sie tatsächlich an den Folgen der massiven Gewalt der Erwachsenen, denen sie ausgeliefert sind, sterben, oder weil sie mit Selbstzerstörung bis hin zum Suizid darauf reagieren. Expert/innen erklären dies u.a. damit, dass ein Kind, das solcherart gewaltsame Übergriffe erlebt, den Grund für diese Handlungen häufig in sich selbst sucht. Es konstruiert sich ein Sinnsystem, das die Taten rechtfertigt. Unweigerlich komme es zu dem Schluss, dass das Böse in ihm der Grund für die erfahrenen Übergriffe sein muss. „Selbstbeschuldigungen sind typisch für das Gefühl und die Denkweise von traumatisierten Menschen jeden Alters“, so die Ärztin Ingrid Olbricht. Und häufig bestätigen die Erwachsenen das misshandelte Kind in dem Gefühl, im Innersten böse zu sein, weil sie einen Sündenbock brauchen. (1) (2)

Nicht selten sind selbstzerstörerische Handlungen eine Reaktion der Betroffenen auf dieses Gefühl, im Innersten böse zu sein. Selbstzerstörerische Handlungen sind beispielsweise: Essstörungen (Magersucht, Bulimie, Esssucht), Selbstverletzungen (Ritzen, Verbrennen, Kopf gegen Wände schlagen), riskantes Verhalten (exzessives Sporttreiben, riskantes Sportverhalten, schnelles Autofahren, riskantes Sexualverhalten, exzessives Arbeiten, Gewaltbeziehungen, Prostitution), Suchtmittelmissbrauch (Tabak, Alkohol, Drogen, Medikamente), negative Selbstbezichtigungen. Dies alles kann bereits als Suizidalität angesehen werden, wie Olbricht (2) darlegt: „Suizidalität ist die Summe aller Denk- und Verhaltensweisen, die durch aktive Handlungen, durch das Zulassen schädigender Handlungen anderer oder durch das Unterlassen einer Handlung den eigenen Tod anstreben oder ihn als mögliche Folge in Kauf nehmen.“

Selbstzerstörerisch kann aber auch die Somatisierung des Traumas sein; bei vielen Betroffenen kommt es zu schweren chronischen Erkrankungen, die nicht selten tödlich enden. Die Adverse Childhood Experiences (ACE) Studie, eine Untersuchung von 17.421 Erwachsenen am Zentrum für Präventive Medizin des Kaiser Permanente Department in San Diego, Kalifornien, beispielsweise hat gezeigt, dass belastende Kindheitserfahrungen tiefgreifende Folgen haben, und hinter körperlichen Erkrankungen wie Herzerkrankungen, Diabetes, Asthma oder Adipositas stecken können (3). Kanadische Forscher kommen auf der Basis der Daten von über 13.000 Menschen zu dem Schluss, dass Menschen, die in der Kindheit körperlich misshandelt wurden, statistisch gesehen häufiger an Krebs erkranken (4). Amerikanische Kinderärzte und Psychologen der University of Wisconsin in Madison zeigten, dass Stress in der frühen Kindheit dauerhaft das Immunsystem schwächen kann (PNAS, online) (5).

Der ultimativ selbstzerstörerische Akt ist der Suizid. Das Risiko eines Suizidversuchs ist bei früh Traumatisierten um das 12,2-fache erhöht, berichtet Olbricht (2). Die Forscher der ACE-Studie (3) fanden heraus, dass mit zunehmender Zahl der Gewaltfaktoren in der Kindheit (u.a. wiederholter körperlicher Machtmissbrauch, wiederholter emotionaler Machtmissbrauch und sexueller Machtmissbrauch) die Häufigkeit eines Selbstmordversuchs auf das 30- bis 51-fache ansteigt.

Dies alles macht deutlich, dass sexualisierte Gewalt lebensbedrohlich ist. Und sie führt nicht selten zum Tod. Häufig wird allerdings der Zusammenhang zur erlebten sexualisierten Gewalt nicht gesehen, bzw. nicht hergestellt. Zum einen, weil sexualisierte Gewalt an Kindern nach wie vor stark verdrängt und verschwiegen wird. Zum anderen, weil die Zeitspanne zwischen den Gewalttaten und dem Tod manchmal Jahrzehnte ausmachen kann. Nicht zuletzt, weil noch viel zu wenige Menschen sich für die Hintergründe und Folgen von sexualisierter Gewalt gegen Kinder interessieren.

Jede/r Betroffene von sexualisierter Gewalt bzw. sexualisiertem Machtmissbrauch in der Kindheit kann sich angesichts der frühen Bedrohung seines/ihres Lebens, der bis ins Erwachsenenleben hineinreichenden Folgen und der allgegenwärtigen Möglichkeit des Todes als Folge seiner frühen Gewalterlebnisse nur als Überlebende/r bezeichnen.

Nicht zuletzt drückt sich für Betroffene im Terminus „Überlebender“ auch die Tatsache aus, dass es nicht „leben“ ist, was die meisten Betroffenen als Erwachsene tun (können), sondern eben nur überleben. Das „Handwerkszeug“, um ein selbstbestimmtes, buntes, unbeschwertes, konstruktives, erfüllendes Leben in vertrauensvoller Verbindung mit anderen Menschen führen zu können, wurde ihnen nämlich verweigert.

„Überlebende/r“ bringt aber auch das besondere Maß an Stärke, Lebenswillen, Mut, Kreativität, Intelligenz und Durchhaltevermögen zum Ausdruck, das Kinder, die sexualisierte Gewalt erleben mussten, auszeichnet. Sie hätten sonst die anhaltend lebensbedrohlichen Zustände ihrer Kindheit nicht überlebt.

(1) Judith L. Herman „Die Narben der Gewalt“, Junfermann 2003
(2) Ingrid Olbricht, „Wege aus der Angst“, C.H.Beck 2004
(3) Adverse Childhood Experiences (ACE) Study, Department of Preventive Medicine, Southern California Permanente Medical Group, San Diego, California (USA), 2002
(4) veröffentlicht vom Deutschen Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V. 07/2009
(5) Werner Bartens, „Missbrauch schwächt das Immunsystem”, sueddeutsche.de, 27.01.2009

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