Pressemitteilung (als PDF herunter laden)

In einem Interview mit MDR INFO am 29.12.2010 sagte die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Dr. Christine Bergmann, „Sexueller Missbrauch ist kein Thema der Vergangenheit“. Dem stimmt netzwerkB ausdrücklich zu! Sexueller Missbrauch ist ein Thema der Gegenwart und muss sich jetzt mit der Vergangenheit – den Versäumnissen, den Taten und Opfern der Vergangenheit – ebenso befassen wie mit der aktuellen Situation vieler Kinder, denen gerade jetzt, während in Berlin seit Monaten nur angekündigt wird, immer noch sexuelle Gewalt angetan wird. Und es muss ein Thema der Zukunft bleiben, weil die jahrelange Erfahrung von uns Betroffenen-ExpertInnen zeigt, dass der Schutz vor sexueller Gewalt gegen Kinder eine komplette Neuausrichtung der Gesellschaft erfordert.

Wenn Frau Bergmann also von „Monaten“ spricht, die die „Debatte um den sexuellen Missbrauch noch braucht“, dann muss darauf hingewiesen werden, dass dies ein äußerst kurz bemessener Zeitraum ist angesichts der umfassenden Thematik. Und mit einer „Debatte“ allein ist den Betroffenen – weder denen der Vergangenheit, noch denen der Gegenwart und Zukunft – auch nicht geholfen!

Wir wollen Frau Bergmann den guten Willen nicht absprechen. Und doch macht sich in jüngster Zeit der Eindruck breit, dass viele ihrer Statements nicht mehr ganz so forsch und fordernd klingen wie noch wenige Monate zuvor. Hat Frau Bergmann nicht selbst schon davon gesprochen, dass die Verjährungsfrist ganz abgeschafft gehört? Heute ist davon nichts mehr übrig:

Zitat: „Alle Betroffenen miteinander fordern eine Verlängerung der Verjährungsfrist im zivilrechtlichen Bereich.“

Das kann in dieser Pauschalität sicherlich als falsch bezeichnet werden. „Alle Betroffene miteinander“ gibt es in dieser Homogenität schon mal nicht. Bei netzwerkB jedenfalls sind viele organisiert, die die ABSCHAFFUNG der Verjährungsfrist fordern, nicht bloß eine Verlängerung!

Die von der Justizministerin geplante Verlängerung der zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche, ist für den Großteil der Betroffenen keine Verbesserung ihrer derzeitigen Rechtsposition. Denn bereits nach geltender Rechtslage verjährt schwerer sexueller Missbrauch erst nach 30 Jahren und nicht, wie stets behauptet, nach drei Jahren. Eine Verlängerung auf 30 Jahre betrifft daher die Fälle von sog. einfacher sexualisierter Gewalt, insofern würde nur für diese Opfergruppe eine Verbesserung eintreten.

Und für viele Betroffenen geht es auch nicht um die „Verjährungsfrist im zivilrechtlichen Bereich“, sondern ganz klar um die Verjährungsfrist im STRAFrechtlichen Bereich! Gerade an diesem Punkt sind Betroffene heute am stärksten von dem, was bisher vonseiten der Missbrauchsbeauftragten und des Runden Tisches (sM) zu hören war, enttäuscht. Der (überwiegend) uninformierten Öffentlichkeit wird vorgegaukelt, dass man sich enorm bewegt hat und nun eine „Verlängerung der Verjährungsfrist“ anstrebe. Tatsächlich wird es für die meisten Betroffenen auch zukünftig schwer sein, ihr Schweigen „rechtzeitig“ zu durchbrechen und ihr Recht durchzusetzen. Denn was sich noch immer nicht geändert hat, sind die gesellschaftlichen Tabus und die Weigerung, den Opfern und ihrer Wahrheit wirklich Glauben zu schenken.

Zitat: „So hören wir immer wieder, dass der Zugang zum Opferentschädigungsgesetz für diese Menschen ausgesprochen schwierig ist. Da müsse mit Sicherheit noch mal kräftig rangegangen werden.“

Was heißt das konkret? Werden dann zum Beispiel die Beschränkungen für „Fälle“ vor dem 15. Mai 1976 aufgehoben? Werden tatsächlich entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt, wenn jetzt alle ehemaligen Heimkinder und alle ehemals von sexueller Gewalt Betroffenen auf diese Form der „Entschädigung“ zugreifen? Wie wird sichergestellt, dass Betroffene nicht durch das Ausfüllen der Anträge erneut retraumatisiert werden? Oder durch die anschließenden Untersuchungen? Wie wird sichergestellt, dass die Anträge von kundigen Sachbearbeitern und Gutachtern bearbeitet werden? Wie wird sichergestellt, dass Folgen von jahrelanger sexueller Gewalt in der Kindheit auch als solche erkannt und anerkannt werden?

Zudem wird übersehen, dass der Verweis der Betroffenen an das OEG wieder einseitig ein Aktivwerden von den Betroffenen verlangt. Die Gesellschaft und der Staat verweigern sich im Grunde der Mühe, die eine strafrechtliche Verfolgung der Täter und eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung über die Bedingungen für sexuelle Gewalt an Kindern kostet, und lasten die (letztlich erst durch die Taten/Täter notwendig gewordene) Inanspruchnahme dieser Hilfeleistungen den sowieso schon zu Unrecht Belasteten noch zusätzlich auf.

Besonders bestürzt sind wir Betroffenen darüber, dass es die Bundesfamilienministerin Christina Schröder offenbar für ausreichend hält, das erweiterte Führungszeugnis nur für Festangestellte zur Pflicht zu machen. Wir fragen uns, was hat Frau Schröder vom Thema sexuelle Gewalt an Kindern tatsächlich verstanden? Wenig, wie es aussieht. Aber vielleicht geht es ja auch hier vorrangig um den Effekt, den man durch so eine Maßnahme in der Öffentlichkeit erzeugen kann. Stichwort: „Wir tun was“. Doch sagt nicht gerade Frau Schröder ständig, „wir müssen ALLES tun, um sexuelle Gewalt gegen Kinder zu verhindern“?? Wenn die Pflicht zum erweiterten Führungszeugnis für Festangestellte „ALLES“ ist, dann ist das aus Sicht der Betroffenen ein „ALLES“ für ganz Arme!

Wenn das erweiterte Führungszeugnis schon daran scheitert, dass sich dadurch einige Ehrenamtliche auf den Schlips getreten fühlen könnten, dann sollte vielleicht insgesamt noch einmal darüber nachgedacht werden, worum es eigentlich geht. Wenn die „Unantastbarkeit“ einiger Ehrenamtlicher wichtiger ist als die Unantastbarkeit von Kindern, dann ist man dort im Bundesfamilienministerium, am Runden Tisch und wo noch im letzten Jahr viel Aktionismus zur Schau gestellt wurde, noch ganz weit weg von der tatsächlichen Realität von Betroffenen.

netzwerkB.org (Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt) ist eine unabhängige Interessenvertretung. Wir setzen uns für die Rechte Betroffener ein, indem wir das gesellschaftliche Schweigen brechen, über Ursachen und Auswirkungen sexualisierter Misshandlung informieren, beraten und uns für konkrete Veränderungen stark machen.

netzwerkB bittet darum an Betroffene die netzwerkB-Kontaktdaten weiterzugeben sowie die Kontakt-Email (info@netzwerkb.org) und Website (www.netzwerkB.org) zu veröffentlichen.

Für Journalisten-Rückfragen:
netzwerkB – Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt e.V.
Nobert Denef, Vorsitzender
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