DiePresse.com 19.12.2010

MICHAEL FLEISCHHACKER (Die Presse)

Christoph Schönborn beklagt, dass „seit der Nazizeit“ nicht mehr so viele Menschen aus der Kirche ausgetreten sind. Seine Botschaft ist – kalkuliert – ambivalent.

Der Erzbischof von Wien, Christoph Schönborn, ist eine vielschichtige Persönlichkeit. Hoch gebildet und fast kindlich fromm zugleich wirkt der Spross aus altem Adel, er überrascht bald durch Offenheit, bald durch die Einnahme eher exzentrischer „wissenschaftlicher“ Positionen.

In den heftigen, für die Kirche sehr schmerzhaften Debatten über den massenhaften sexuellen Missbrauch in staatlichen und kirchlichen Erziehungsinstituten hat er konservative Katholiken und den einen oder anderen Borderline-Blogger durch reflektierte Äußerungen und Bußfertigkeit verärgert. Er habe sich, sagten seine Kritiker, dem Entschuldigungsterror der politischen Korrektheit unterworfen, statt triumphierend darauf hinzuweisen, dass in den nicht kirchlichen Instituten viel mehr passiert sei als in den kirchlichen.

Aber der Kardinal blieb bei seiner Linie. „Wir haben uns in der Kirche für die Wahrheit entschieden, auch wenn sie schmerzlich ist. Wir haben vor allem versucht, auf die Opfer zu hören und nach dem Wort von Vaclav Havel den Versuch gewagt, in der Wahrheit zu leben. Dieser Versuch lohnt sich, er gibt Kraft“, sagte er bei der „Stephans-Matinee“. Und ließ in einem Interview für die „Tiroler Tageszeitung“ mit den neuesten Kirchenaustrittszahlen aufhorchen. Sie werden sich vom Rekordjahr 2009 um weitere 50% auf mindestens 80.000 erhöhen. Schönborn sprach von der schlimmsten Austrittswelle „seit der Nazizeit“.

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