Viel Papier und wenig Ergebnisse / Deutsche Kinderhilfe zu den enttäuschenden Ergebnissen des Runden Tisches gegen sexuellen Missbrauch / Gesetzgeber ist am Zuge Deutsche Kinderhilfe e.V.

(Berlin) – „Die Zwischenergebnisse des Runden Tisches in zwei Berichten auf insgesamt 117 Seiten erlauben die Spitze, dass nach dem „Viele-Köche -verderben- den- Brei-Prinzip“ viele Köche zumindest viel Papier produzieren…“, sagte heute (2. Dezember 2010) Georg Ehrmann, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe e.V. in Berlin nach Vorlage des Berichts. „Seit fast 9 Monaten tagt der Runde Tisch und es verfestigt sich der Eindruck, dass dieser ein Instrument war, den erheblichen Handlungsdruck zu mildern, der zu Beginn dieses Jahres aufgrund der öffentlichen Debatten und der großen Defizite beim Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt bestand. Die fachliche Aufarbeitung der Problematik durch den Runden Tisch ist lobenswert – letztendlich liegt die Verantwortung für konkrete und echte Verbesserungen aber beim Gesetzgeber, dieser ist daher am Zuge.“

Was soll sich nach dem Zwischenbericht konkret ändern?

Verlängerung der zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche – dies ist für den Großteil der Opfer keine Verbesserung ihrer derzeitigen Rechtsposition. Denn bereits nach geltender Rechtslage verjährt schwerer sexueller Missbrauch erst nach 30 Jahren und nicht, wie stets behauptet, nach drei Jahren: § 199 Abs. 2 BGB lautet: „Schadensersatzansprüche, die auf Verletzung des Lebens, des Körpers der Gesundheit oder der Freiheit beruhen, verjähren ohne Rücksicht auf ihre Entstehung und die Kenntnis oder grob fahrlässige Kenntnis in 30 Jahren von der Begehung der Handlung an, der Pflichtverletzung oder dem sonstigen den Schaden auslösenden Ereignis an.“ Eine Verlängerung auf 30 Jahre betrifft daher die Fälle von sog. einfacher sexualisierter Gewalt, insofern würde nur für diese Opfergruppe eine Verbesserung eintreten.

Davon zu unterscheiden ist die für die Betroffenen viel wichtigere Frage der strafrechtlichen Verjährungsfristen. Hier führt die Staatsanwaltschaft das Verfahren, hier bestehen spezielle Opferrechte: In Deutschland verjähren NS-Verbrechen und Mord zu Recht nie. Bei diesen Taten rechtfertigt der Rechtsfrieden keine Verjährung. Gleiches sollte für die Taten gelten, unter denen die Betroffenen ihr Leben lang leiden und über die eben aufgrund ihrer Besonderheit erst in vielen Fällen nach Ablauf der Verjährungsfristen überhaupt gesprochen werden kann.

Dass die Politik die strafrechtlichen Verjährungsfristen nicht reformieren will, ist ein weiterer Beleg dafür, dass hier rechtspolitische und rechtstheoretische Grundsatzerwägungen im juristischen Elfenbeinturm getroffen werden. Denn wenn schon die Weigerung, die 30jährigen Verjährungsfristen im Zivilrecht nicht abzuschaffen, ein fatales Signal aussendet, gilt dies erst Recht für die kürzeren Verjährungsfristen im Strafrecht, die zwischen 5 und 20 Jahren liegen. Nicht einer der noch lebenden Täter an der Odenwaldschule oder im Canisiuskolleg konnte strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden – ein erschreckendes Bild für einen Rechtsstaat und ein klares Signal an die Betroffenen.

Eine weitere Schwachstelle besteht in dem gefundenen Kompromiss, eine Rechtspflicht zur Einholung des sog. erweiterten Führungszeugnisses (dies beinhaltet auch Sexualdelikte, die im „normalen“ Führungszeugnis nicht erscheinen würden) nur bei hauptamtlichen Betreuern einzuführen. Gerade die ehrenamtliche Betreuung von Kindern und Jugendlichen jedoch sind ein Einfallstor für Pädokriminelle. Erst gestern (1. Dezember 2010) wurde am LG Düsseldorf ein einschlägig Vorbestrafter zu 4 1/2 Jahren Haft verurteilt, der nach seiner Haftentlassung und trotz Auflage, sich Kindern nicht zu nähern, ehrenamtlich als Schwimmtrainer und Jugendbetreuer in einer Kirchengemeinde gearbeitet hat . Die Rechtspflicht ist daher gerade bei ehrenamtlichen Helfern, die Kinder betreuen, zu fordern.

Ebenso unbefriedigend ist die gefundene Kompromisslinie bei der Kooperation mit Strafverfolgungsbehörden (S. 22 Band 1 des Berichtes). Es wird keine Anzeigepflicht geben. Stattdessen sollen sich Einrichtungen und Vereine in freiwilligen Selbstverpflichtungen und Vereinbarungen dazu verpflichten, die vorgeschlagenen Leitlinien zum Umgang bei Verdacht auf sexuelle Gewalt anzuwenden. Einer der Vorwürfe gegen die Kirchen und andere Institutionen war zu Recht, dass die Täter über Jahre ungehindert weiter agieren konnten. Eine grundsätzliche Anzeigepflicht, von der nur in begründeten Ausnahmefällen im Interesse und mit Einverständnis des Opfers abgewichen werden kann, wäre ein wichtiger Schritt und verlangt eine entsprechende gesetzliche Regelung. Hier haben sich wieder die Vertreter der „Vertrauensschutz- und Konsenslinie“ durchgesetzt, die eine Zusammenarbeit mit Strafverfolgungsbehörden aus ideologischen Gründen ablehnen und letztendlich so, auch wenn subjektiv nicht gewollt, im Ergebnis den Täterschutz vor den Opferschutz stellen.

Dass das Thema Entschädigung noch nicht ansatzweise diskutiert bzw. gelöst wurde, ist ebenso ein fatales Signal in Richtung Betroffener. Als nicht ausreichend ist es anzusehen, dass ausweislich S. 19 Band 1 des Zwischenberichts in der Arbeitsgruppe „Prävention, Intervention, Information“ nur über eine Empfehlung „diskutiert“ wurde, mehr Anlaufstellen für „pädophile“ Männer wie die in der Charité von Prof. Baier auszubauen. Gerade dieser wichtige und konkret Kinder schützende primär präventive Ansatz könnte unabhängig von weiteren Arbeitsgruppensitzungen über die Länder umgesetzt werden.

Folgende Themen fehlen vollkommen:

– Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung des Internets, die Steigerung bzw. Erregung pädokrimineller Aktivitäten durch Verbreitung und Herunterladen einschlägiger Dateien,

– Strafrechtliche Schieflagen: Sexueller Missbrauch von Kindern in Deutschland bleibt „nur“ ein Vergehen im Gegensatz zur sexuellen Nötigung Erwachsener, die stets ein Verbrechen ist, für das Herunterladen pädokrimineller Dateien bleibt das Strafmaß bei nur zwei Jahren Haft, für Urheberrechtsverletzungen im Netz dagegen drei Jahre.

– Über frei verfügbare pädokriminelle Literatur und Täterstrategien mit sog. „offenen Wohnungen“, die öffentlichen Stellen bekannt sind, wurde gar nicht diskutiert.

Dass zudem die Themen Verjährung und Entschädigung vertagt wurden verdeutlicht, dass es nur um den kleinsten gemeinsamen Nenner ging und drei Ministerinnen an einer gesellschaftspolitisch elementaren Aufgabe schlichtweg gescheitert sind. Die deutsche Kinderhilfe kommt daher zu dem Gesamturteil, dass die „Ergebnisse“ des Runden Tisches keinen wesentlichen Beitrag dafür leisten werden, die Defizite im Umgang mit sexueller Gewalt gegen Kinder zu verringern. Es gibt daher Handlungsfelder für die Politik und die Gesetzgeber, die nicht an Runden Tischen diskutiert werden müssen, dafür sind die Defizite seit Jahren bekannt, sondern die den politischen Willen voraussetzen, durch Gesetze, Schaffung von Standards und Fördermaßnahmen konkrete Veränderungen einzuleiten und Kinder besser vor sexuellen Übergriffen und Missbrauch zu schützen. Dazu fordert die Deutsche Kinderhilfe e.V. die Politik mit Nachdruck auf.

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