Sehr geehrter Herr Professor Jörg Fegert,

Sie nennen Opfer sexueller Gewalt als Beispiel für Personen, die kontinuierlich lügen. Diese Aussage, dazu noch aus berufenem Mund, ist unhaltbar und unverschämt. Sie macht die Opfer zu Tätern, indem sie suggeriert, dass die Opfer sexueller Gewalt lügen, um Aufmerksamkeit zu bekommen, Mitleid oder Zuneigung. Da liegt die Vermutung nahe, dass sie sogar über ihre schreckliche Vergangenheit lügen.

Richtig ist, dass Personen, die sexuelle Gewalt in ihrer Kindheit erleben mussten, eine grundsätzliche Erschütterung ihres Verhältnisses zu Familie und Umwelt erlebt haben. Die Grundannahme eines jeden Kindes, dass die Eltern es gut mit ihm meinen und es lieben, wurde in das Gegenteil verkehrt. Das Kind reagiert darauf hin mit der Einübung eines Vermeidungsverhaltens und dem Schön- und Umfärben seiner Wirklichkeit. Es tut das aber nicht, um andere Menschen zu manipulieren, wie Sie es suggerieren, sondern um dieses Leben für sich selbst erträglich zu machen. Es wird die seltsamsten Umstände erfinden, um das Verhalten der Eltern oder Verwandten zu erklären oder  zu relativieren. Oftmals begegnet ein Kind damit auch einer ganz realen Gefahr für Leib und Leben. Einer kritischen Überprüfung halten diese Umstände natürlich nicht Stand, weshalb man sie als genau das sehen sollte, was sie sind: Hilfeschreie einer gequälten Seele.

Ziel einer erfolgreichen Therapie muss doch in erster Linie die Wiederherstellung von Vertrauen sein. Mit Vertrauen kommt der Mut, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen. Ist dieser Schritt gelungen, gibt es keine Notwendigkeit mehr zu lügen. Mit dem Bekenntnis und der Offenheit entsteht innere Stärke.

Einem Therapeuten, der Opfer generell als unglaubwürdig darstellt, wird ein solcher Prozess nicht gelingen. Die Opfer werden ihn bewusst oder unbewusst, aber völlig zu Recht, als Bedrohung ablehnen.

Wir können  nur vermuten, dass Sie, Herr Professor Fegert, sich sehr missverständlich ausgedrückt haben oder in grober Weise falsch zitiert wurden. In beiden Fällen sollte Ihnen als Psychiater klar sein, was Ihre  Ausführungen bei den Opfern anrichten, was die Konsequenz ist, wenn Opfer zu Tätern umfirmiert werden. Letztlich schützen Sie mit Ihren Äußerungen die Täter. Die Personen, die in der Tat aus Angst vor gerechter Strafe ein Netz aus Lügen um ihre Opfer und ihr Umfeld gesponnen haben und denen eine solche Generalverdächtigung nur entgegen kommen kann, sind die Täter.

Seien wir ehrlich: Gelogen und manipuliert wird von den Tätern, nicht von den Opfern.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Christian und Eleonore Röthig