Warum sie weder Schuld noch Reue kennen

VON DORIS WEBER

Endhaltestelle München-Arabellapark. Es ist der 20. Dezember 2007. Die Überwachungskamera in der U-Bahn wird zum einzigen Zeugen, als zwei Jugendliche einen Mann niederschlagen und brutal zusammentreten. Ihr 76-jähriges Opfer lassen sie mit schwersten Verletzungen auf dem Boden liegen. Der alte Mann, ein pensionierter Schulleiter, hatte die beiden zuvor in der U-Bahn ermahnt, nicht zu rauchen. »Sie haben meinen Kopf als Fußball verwendet«, sagte das Opfer vor Gericht aus. »Gezielt und kaltblütig, brutal und erbarmungslos«, so nannte der Richter das Verhalten der Täter und verhängte harte Strafen, doch die beiden jungen Gewalttäter blieben davon scheinbar unberührt. Aus dem Gefangenentransporter heraus verabschiedete sich einer von ihnen mit »Stinkefinger«. »Taten wie jene in München verunsichern, machen fassungslos und wütend«, schreibt die Stern-Reporterin Ingrid Eissele in ihrem Buch Kalte Kinder. Aber Ingrid Eissele will nicht stehenbleiben beim ohnmächtigen Entsetzen, sie fragt weiter: »Welche Faktoren spielen eine Rolle, wenn junge Menschen weder Skrupel noch Mitgefühl zeigen? Geht es hier um einige wenige Fälle von extremer Verrohung und seelischer Kälte? Oder steckt dahinter mehr: Ist der Mangel an Mitleid ein Phänomen, das auf einen allgemeinen gesellschaftlichen Aggregatzustand hinweist? Ein Phänomen, das bald breiter um sich greifen könnte, wenn es nicht erkannt und bekämpft wird?« Karsten ist 25 Jahre alt. Mit 17 hat er einen Menschen ermordet. Ich besuche ihn in der Jugendvollzugsanstalt, die er in einem Monat verlassen wird, und ich muss ihm versprechen, dass ich weder den Ort der Vollzugsanstalt noch seinen richtigen Namen erwähne. Karsten, so nenne ich ihn, hat eine Strafe von sieben Jahren und sechs Monaten verbüßt. Buße? Wofür? Schuld? Das Wort kennt Karsten bis heute nicht. Wenn er über seine Tat spricht, dann klingt das so kalt und anonym, als berichte er von irgendeiner beliebigen, ihm unbekannten Person: »Ich hab einfach drauflosgeschlagen und -getreten, bis er sich nicht mehr bewegt hat, und so ist er dann innerlich verblutet. Den kannte ich nicht, den habe ich zum ersten Mal gesehen. Das war ein Pole, der eigentlich nur auf der Bank gesessen und einen getrunken hat. Er hatte noch einen Kollegen dabei, er hat einen dummen Spruch gemacht, und ich sagte mir: Mensch, der kann mich doch nicht meinen, der kann mich doch nicht einfach so blöd anquatschen. Also gehe ich auf den los und schlag ihn tot.« Karsten weiß nicht genau, wie viele Menschen er getötet oder – wie er sagt – zum Krüppel geprügelt hat, er weiß nur, er war noch ein Kind, als das Unglück in sein Leben einzog: »Da war ich acht Jahre alt. Ich bin vom Spielen nach Hause gekommen und habe ein blaues Auge gehabt. Es war Winter, wir sind Rodeln gewesen, da bin ich vom Schlitten gefallen, darum dieses blaue Auge. Und da sagte mein Vater zu mir: ›Kommst du noch ein einziges Mal nach Hause und hast eine Schramme oder ein blaues Auge, dann schlag ich dich tot.‹ Von dem Moment an hab ich mir nie wieder etwas gefallen lassen. Bevor es zum Streit gekommen ist, hab ich zugeschlagen.« Karsten schlug zu und drehte sich nicht einmal mehr um. »Einfach entladen«, sagt er, »irgendwo muss es ja bleiben.« – »Was meinst du mit ›es‹?«, frage ich ihn. – »Na das«, antwortet Karsten. Auf jeden Fall ist »es« etwas, was er nicht runterschlucken kann. »Man musste in seinem Leben so viel schlucken, man musste so viel ertragen, man wurde so oft erniedrigt«, sagt Karsten, »irgendwann schlägt man halt zu.« Sein Vater war ein Trinker, ein Schläger. Jedes Mal, wenn er nach Hause kam, hat er geprügelt, spielte er den Helden. Die Geschwister verkrochen sich, hatten Angst, ließen alles mit sich machen. Karsten nicht. »Ich bin in seine Fußstapfen getreten, ich habe gar nicht mitgekriegt, wie ich meinem Vater immer ähnlicher wurde.« Eines Tages schlug Karsten zurück. Da lag sein Vater am Boden, der Sohn war der Held. »Ich hab überhaupt nichts gefühlt. Ich hab gedacht: entweder der oder ich. Es darf nur einen von uns beiden geben. Ich stehe über meinen Opfern, ich schlage drauflos und sehe zu, dass der andere keine Chance hat. Deshalb bin ich schon mal überlegen, ich bin der Held. Das hat etwas mit Befriedigung zu tun, man hat etwas geschafft. Man hat zwar ein Opfer produziert, aber das Opfer selbst interessiert überhaupt nicht.«

kalte kinder, das passt nicht in unser menschenbild. kinder spielen und toben, aber sie morden nicht

Am 17. Mai 2010 erstach Elias A., 16 Jahre jung, im Hamburger S-Bahnhof Jungfernstieg völlig grundlos Mel D. auf dem Weg zu einer Disco. Bereits mit zehn war er das erste Mal kriminell aufgefallen. Vier Monate zuvor werden in England zwei zehn und elf Jahre alte Brüder zu unbefristetem Freiheitsentzug verurteilt. Sie hatten zwei gleichaltrige Kinder mit Stöcken und Glasscherben fast zu Tode gequält – aus Langeweile, wie sie sagten. Im April erfährt die Öffentlichkeit, dass in der Türkei acht Schuljungen ein dreijähriges Mädchen vergewaltigt und ermordet haben. Nicht nur Richter und Staatsanwälte erfasst blankes Entsetzen, wenn diese jungen Täter »reuelos und gänzlich ohne Schuldbewusstsein« vor ihnen stehen. »Kalte Kinder« hat die Journalistin Ingrid Eissele solche Täter genannt. Welch ein Begriff. Kalte Kinder. Das ist ein Widerspruch in sich. Kalte Kinder – das passt nicht in unser Menschenbild. Kinder sind gut. Kinder sind unschuldig. Sie spielen, lachen und toben – aber sie morden nicht. »Es gibt auf jeden Fall etwas, das man als kalte Persönlichkeit beschreiben kann. Sowohl bei Kindern und Jugendlichen als auch dann später im verschärften Maße bei Erwachsenen«, sagt der Bremer Kriminologe Lorenz Böllinger. Er arbeitet seit vielen Jahren als Psychoanalytiker mit sogenannten kalten Persönlichkeiten, die landläufig als Psychopathen oder Soziopathen bezeichnet werden. Lorenz Böllinger spricht von Menschen mit einer Borderline-Störung mit dissozialer Symptomatik: »Das Entscheidende ist, dass diese Menschen keine Fähigkeit zur Einfühlung in andere Menschen haben, das heißt, sie können sich weder in die Perspektive anderer Menschen versetzen und deren Sichtweise reflektieren, noch können sie wirkliche Gefühle für andere Menschen empfinden. Mit dieser Einfühlungsstörung geht eine Art Gefühlskälte und Gewissenlosigkeit einher. Sie haben kein Schuldgefühl in dem Sinne, sie können ja nicht fühlen, dass andere Schmerzen haben aufgrund ihrer Übergriffe. Sie sind überzeugt, in völliger Berechtigung zu handeln. Ihr eigenes Begehren, ihre Gier, ihre Wut sind immer verknüpft mit einem subjektiven Gefühl
von Gerechtfertigtsein.« Lorenz Böllinger führt diese Gier und diese Wut auf einen ursprünglichen Mangel im Leben dieser Kinder zurück, auf eine Traumatisierung, die sie schon sehr früh aus der Bahn geworfen hat. Die zentrale Ursache, das hat die Forschung gezeigt und das bestätigen therapeutische Erfahrungen, ist, so Böllinger, »dass diese Menschen keine angemessene, ausreichende Bindungserfahrung in ihrem Leben gemacht haben. Das hat natürlich primär mit den Eltern zu tun. Wenn die Eltern dazu nicht in der Lage sind, dann liegt das in der Regel schon an deren eigener Vernachlässigung in der Kindheit, also wiederum an deren Eltern.« Und so wiederholt sich die Schädigung oft von einer Generation zur nächsten. Ausnahmslos stößt man bei sogenannten Psychopathen oder schwer gestörten Gewaltstraftätern in der frühen Kindheit auf Vernachlässigung, Missbrauch, Misshandlung, das heißt: traumatisierende Verhaltensweisen der Umwelt. Lorenz Böllinger: »Diesen Menschen wurde keine Gefühlsfähigkeit vermittelt, sie leiden an einem drastischen Mangel an Zuwendung, an Anerkennung, an Liebe. Darum versuchen sie schon als kleine Kinder und erst recht dann in der späteren Entwicklung, sich mit allen Mitteln diese Zuwendung, die ihnen entgangen ist, zu besorgen.« Um diese aggressive Gier zu befriedigen, verfügen Psychopathen bereits als Kinder über raffinierte Methoden, sich bei anderen einzuschmeicheln, sie zu täuschen, zu missbrauchen, ihnen in den Rücken zu fallen, wenn sie es am wenigsten erwarten. Die Biografien der Menschen, die Opfer von Psychopathen wurden, weisen oft schmerzhafte Risse und tiefe Narben auf. Psychopathen sind fähig, ein Loch in das Leben anderer zu reißen. Darum ist es notwendig, für einen Augenblick in die düstere Welt der Psychopathen einzutauchen, um diese Persönlichkeiten näher kennenzulernen und eine angemessene Haltung zu ihnen zu finden. Amerikanische Studien belegen: Psychopathen entwickeln sich im Lauf der Jahre zu äußerst geschickten Manipulatoren, die gern ihr Spiel mit Menschen treiben; sie sind – oft getarnt mit kindlicher Unschuld – zwanghaft auf der Suche nach neuen Opfern, die sie betrügen und ausnehmen können. Dabei leitet sie ein sicheres Gespür vorwiegend für Menschen, die sich in einem labilen, verwundbaren Zustand befinden, Menschen mit einer Ich-Schwäche, Menschen, die sich einsam fühlen oder sich nach emotionaler Unterstützung sehnen. Nicht jede Persönlichkeit mit dieser Störung wird automatisch ein krimineller Gewalttäter. Viele dieser kalten Menschen leben äußerlich angepasst in scheinbar völlig normalen Verhältnissen und geben dort ihren zerstörerischen Impulsen nach. Kennzeichen aller Psychopathen ist, dass sie keine Bindungen eingehen, dass sie über keinerlei Empathie verfügen und weder Leid noch Schuld noch Reue empfinden. Darum wird ihnen das Opfer nie zu einem Gegenüber, zu einem Du – es bleibt bloßes Objekt. Für den erfahrenen Kriminologen und Psychoanalytiker Lorenz Böllinger gehören diese Fälle zu seinen schwersten Therapien, weil diese Menschen im Allgemeinen mindestens ein Jahr brauchen, »bis sie einen Funken Einsicht haben, dass Therapie ihnen überhaupt etwas nützen kann«. Fast ausschließlich kommen diese Patienten zu ihm, weil sie vom Gericht dazu gezwungen werden. Sie kommen nicht aus eigenem Leidensdruck, sie haben keinen Leidensdruck. Weil sie nicht fühlen können für andere, können sie auch nicht für sich selbst fühlen. »Was sie spüren«, so Böllinger, »ist immer nur ein unmittelbarer Lustgewinn aus ihren destruktiven Handlungen. Das befriedigt ihr Machtgefühl, da sie ansonsten ohnmächtig sind, und es befriedigt spontan und kurzfristig ihre Gier. Sie fügen die Zerstörung, die sie erlitten haben, anderen Menschen zu. Das ist wie eine unbewusste Rache. Aber dahinter steckt ein Appell, der heißt im Klartext formuliert: Du sollst spüren, wie es mir gegangen ist, damit du mir endlich hilfst und mir das gibst, was ich brauche. Das ist ein Überlebensmechanismus, aber langfristig natürlich keine Lösung.«

»in mir und um mich herum ist langeweile, stille, gähnende leere, tod«

Dass es diesen Menschen an einer frühen Bindungserfahrung mangelt, darin stimmen Hirnforschung und Psychotherapie überein. Die Neurobiologie stellt darüber hinaus die Frage, ob auch hirnorganische Fehlentwicklungen oder Schäden Ursache derartiger Persönlichkeitsstörungen sein können. Für den Bremer Hirnforscher Gerhard Roth besteht daran kein Zweifel. Er verweist auf einen Ort im Gehirn, den der Schweizer Psychoanalytiker Arno Gruen einst »die Schranke zum Unmenschlichen« nannte: »Das ist der sogenannte orbitofrontale Cortex, direkt über unseren Augen. Von dem weiß man seit langer Zeit, dass er der Sitz unseres Gewissens ist, und man weiß auch, wie er sich ausbildet beziehungsweise nicht ausbildet. So können unter anderem frühe, sehr negative Bindungserfahrungen und Traumatisierungen die Entwicklung dieses Teils des Gehirns stark schädigen, was dazu führt, dass ein Mensch schlimmstenfalls jede Moral und Ethik verliert.« Doch das muss nicht zwangsläufig so sein. Manchmal, so Gerhard Roth, sind Gehirne in der Lage, diese Fehlentwicklung auf rätselhafte Weise zu kompensieren. Wirklich nachweisbar ist – und darüber herrscht ein breiter wissenschaftlicher Konsens –, dass nahezu alle diese sogenannten kalten Kinder selbst Opfer von Gewalt sind. Doch es ist Teil dieser Persönlichkeitsstörung, dass diese Menschen über ihre Vergangenheit nicht nachdenken. Es interessiert sie nicht, warum sie so geworden sind. Spätestens als Jugendliche haben sie jeden Kontakt zu ihren Gefühlen, zu sich selbst und zu anderen Menschen verloren. »In mir und um mich herum ist Langeweile, Stille, gähnende Leere, Tod«, sagte ein jugendlicher Gewalttäter, der nachts einen schlafenden Mann auf einer Parkbank mit zahllosen Messerstichen ermordet hatte. Vielleicht ist das auch eine zutreffende Beschreibung für den Seelenzustand des 17-jährigen Amokläufers, der am 11. März 2009 mit dem Gewehr seines Vaters die Albertville-Realschule in Winnenden betrat und 15 Menschen ermordete, bevor er sich selbst auf der Flucht tötete. Der Kriminologe und Psychoanalytiker Lorenz Böllinger erkennt bei ihm viele Symptome eines sogenannten kalten Kindes: »Ich bin davon überzeugt, dass schon frühzeitig Sozialisationsmängel vorgelegen haben. Es war ein starker Rückzug zu bemerken, er saß viel vorm Computer, dann kam diese Identifizierung mit einem hochbewaffneten Vater hinzu und damit waren die Ingredienzien geschaffen: einerseits eine starke Aggressivität aufgrund emotionaler Vernachlässigung und Bindungsschwäche der Eltern, auf der anderen Seite dann auch die Idealisierung von Aggressivität. Das ist ein explosives Gemisch geworden.«

»er war in diesem haus wie ein fremder, er war da und doch nicht da, man hat ihn einfach übersehen«

Nina Mayer arbeitete als Referendarin an der Albertville-Realschule. Sie war 24 Jahre alt, als der junge Amokläufer sie mit fünf Kugeln tötete. Ihre Mutter, Gisela Mayer, sagt heute: »Es nimmt dir den Atem und du verstummst, wenn das Böse so unmittelbar in dein Leben einbricht. Fortan lebt man begraben unter einer Lawine von Schmerz.« Dennoch fand sie die Worte, ein Buch zu schreiben. Es trägt den Titel: »Die Kälte darf nicht siegen. Was Menschlichkeit gegen Gewalt bewirken kann«. Manchmal wünscht sich Gisela Mayer, dass auch der Mörder ihrer Tochter unsägliche Pein über seine furchtbare Tat oder wenigstens eine Ahnung von Schmerz fühlt, doch im nächsten Augenblick ist sie sicher, dass auch er zu den kalten, reuelosen Kindern gehört: »Ja, das denke ich, und das ist sehr belastend. So grausam sich das jetzt anhört, ich bin froh, dass er nicht am Leben ist. Wenn ich ihm begegnen würde und erkennen müsste, dass er nichts bereut, dass er nichts verstanden hat, dass er nicht wahrhaben kann, was er getan hat, das wäre ein unerträglicher Moment für mich. Ich wüsste nicht, wie ich so etwas überstehen sollte.« Es hat lange gedauert, bis der Mörder ihrer Tochter ein menschliches Antlitz bekam. Er, der ihre Familie in dieses unvorstellbare Leid gestürzt hatte, war eine Leerstelle in ihrem Leben. Sie konnte seinen Namen nicht aussprechen, und sie ertrug es nicht, wenn andere seinen Namen aussprachen. Der Name bedeutet für sie Personsein, Menschsein, Wertschätzung. Sie hat ihm seinen Namen verweigert. Erst im Laufe eines Jahres gab sie diesem namenlosen Unglück allmählich ein Gesicht. »Da ist ein Kind, geboren wie Millionen anderer Kinder auf dieser Welt, und siebzehn Jahre später war es absolut kalt. Was ist mit diesem kleinen Kind geschehen?«, fragt Gisela Mayer, und mit dieser Frage bekam dieses Kind einen Namen: »Ich bin ja auf Hinweise angewiesen, was diesen Tim Kretschmer betrifft«, sagt Gisela Mayer heute. »Ein Hinweis, den ich habe, ist von einer Mitschülerin seiner Schwester, die in diesem Haus war und dann sagte, es war komisch, er war in diesem Haus wie ein Fremder, er war da und doch nicht da, man hat ihn einfach übersehen. Das ist für mich ein Zeichen dafür, dass er unendlich einsam war auf dieser Welt. Er war unglücklich, er war zutiefst unglücklich, und aus diesem Unglück hat sich ein Rachedurst an all denen entwickelt, die er für schuldig hielt. Dass er unsere Tochter umgebracht hat, war natürlich vollkommen sinnlos. Aber er wollte Aufmerksamkeit, das heißt, diese Menschen suchen verzweifelt nach Anerkennung in einer Gesellschaft, die sie hassen. Die Gesellschaft, das sind wir, und wir sind ihnen ja nicht gleichgültig. Und das ist der Grund, warum wir ihre Opfer sind: Aber es ist auch die unglaubliche Chance, die wir haben, hier einzuwirken.«

»je weiter die empathiestörung fortschreitet, desto mehr verfestigt sie sich in den köpfen der kinder«

So böse ihre Taten auch sein mögen, erst der differenzierte Blick auf ihre ganze, oft so kurze Lebensgeschichte ermöglicht es, zu verstehen. Kalte Kinder sind Menschen in Not. Diese Not frühzeitig wahrzunehmen ist die Chance, von der Gisela Mayer spricht. Es geht darum zu erkennen, warum diese Kinder in ihrer Familie, in dieser Gesellschaft die geworden sind, die sie heute sind. Denn Psychopathie ist keine feststehende, eventuell sogar angeborene Qualität einer Persönlichkeit. Menschen mit derartigen Störungen durchlaufen einen Prozess, er beginnt in der frühen Kindheit und endet im Erwachsenenalter. Als Kinder sind sie nicht verloren, man kann sie in gute Bahnen lenken. Doch hier gilt der Satz: Je früher, desto besser. Zehnjährige sind mit einer Therapie bereits verhältnismäßig spät dran. Die Stern-Reporterin Ingrid Eissele rät darum, bei allen Kindern gleich nach der Geburt auf mögliche Warnsignale zu achten, zum Beispiel: »Wenn Babys keine Bindung zu ihren Eltern haben, wenn das Kind den Blick der Mutter nicht sucht, wenn es den Kopf wegdreht. Das sind frühe Anzeichen, die professionell geschulte Betreuer erkennen, und da kann man schon viel bewirken, wenn jemand den Eltern in dieser oft verunsichernden Phase der ersten Jahre zur Seite steht. Wenn Kinder verhaltensauffällig sind, indem sie andere Kinder schlagen und dabei kein Schuldbewusstsein erkennen lassen, sondern einfach weitermachen, gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Kinder zu trainieren und ihnen zu erklären, warum es dem Peter wehtut, wenn man ihm die Schaufel über den Kopf zieht. Je weiter die Empathiestörung jedoch fortschreitet, ohne dass von außen etwas geschieht, desto mehr verfestigt sie sich in den Köpfen der Kinder.« Ingrid Eissele geht in ihrem Buch »Kalte Kinder« aufsehenerregenden Fällen nach und blickt hinter die Kulissen betroffener Familien. Ihre Biografien über die kalten Kinder lesen sich wie Lebensgeschichten, in denen so vieles schiefgelaufen ist, was im Grunde genommen auch hätte gut laufen können. Hätte es nur an irgendeinem Tag an irgendeinem Ort irgendeine gute Erfahrung gegeben, irgendeinen Menschen, der die Weichen noch einmal neu gestellt hätte, dann hätte es vielleicht eine Wende zum Guten geben können. Ingrid Eissele hält an diesem Wort »hätte« fest, sie will nicht nur Missstände beschreiben, sondern Mut machen hinzuschauen: Die Schule muss aufmerksamer werden, der Kindergarten muss aufmerksamer werden und auch die Nachbarschaft kann da aufmerksamer werden. »Die Schule kann viel Gutes erreichen, wenn sie schon in der ersten Klasse mit den Kindern übt, dass nicht nur Lesen und Schreiben und Bruchrechnen und Fremdsprachen wichtig sind, sondern auch die Frage: Wie komme ich mit dem anderen klar, wie verstehe ich, was in ihm vorgeht? Wenn Schule vermittelt: Du wirst ernst genommen bei dem, was du selber fühlst und was in dir vorgeht, wir hören dir zu, du hörst aber auch den andern zu, dann kann man Wunderbares bewirken. Ich glaube, dass für das soziale Lernen in der Schule bisher zu wenig Zeit und Aufmerksamkeit bleibt.« Ein ganzes Netzwerk, so Ingrid Eissele, sollte es geben, das die gefährdeten Kinder auffängt – von Anfang an: Hebammen, Erzieher in Kindergärten und Schulen, Kinderärzte. Sie alle sollten ihren Blick schärfen, um auf die frühen Warnsignale, die durchaus schon in den ersten Lebensjahren zu erkennen sind, rechtzeitig zu reagieren und Hilfen für die betroffenen Familien anzuregen. »Wir dürfen uns verantwortlich fühlen«, sagt Ingrid Eissele, auch als Nachbarn, Freunde und Verwandte, nicht als Denunzianten, sondern als Menschen mit einem fürsorglichen und solidarischen Blick. Therapie und veränderte soziale Bedingungen können bei diesen sogenannten kalten Kindern bewirken, dass allmählich vielleicht ein Minimum an Einfühlung entsteht, das sie davor bewahrt, weiterhin fremddestruktiv handeln zu müssen. Auch der Staat muss sich verantwortlich fühlen und die Folgen bedenken, wenn er sich daranmacht, den Rotstift im Sozial- und Bildungssektor und im Bereich der Jugendhilfe anzusetzen. Der Kriminologe und Psychoanalytiker Lorenz Böllinger beobachtet, dass diese kalte Politik in Zukunft zwangsläufig auch mehr kalte Kinder hervorbringen wird: »Mit aller Vorsicht sage ich, dass diese Störungen zunehmen werden. Das liegt an den Prozessen der gesellschaftlichen Entfremdung, wo einerseits immer mehr Bevölkerungsteile als Verlierer qualifiziert werden, als Absteiger, und von daher dann auch selber große Probleme mit Depressionen und Alkoholismus bekommen, sodass sie ihrer Funktion als Eltern nicht mehr gerecht werden. Andrerseits sind die Menschen alle überlastet, die Arbeit wird immer intensiver und der Arbeitsprozess immer dichter, dann gibt es zunehmend eben solche Ersatzfunktionen wie Computer und Fernsehen, wo die Kinder abgestellt werden. Das alles trägt zu diesem Bindungsverlust bei.«

»grundsätzlich ist das böse ein mangel an gutem, und wir können gutes tun, um das böse zu überwinden«

Das Phänomen der kalten Persönlichkeiten ist nicht neu. Die Menschheitsgeschichte berichtet von Anfang an davon. Kain erschlug seinen Bruder Abel. Heute sind die sogenannten Soziopathen oder Psychopathen in den öffentlichen Blick geraten, weil sie vielleicht tatsächlich auf einen allgemeinen gesellschaftlichen Aggregatzustand hinweisen, auf einen »Sozialisationstyp« unserer Zeit. Sosehr uns die Taten jener gefühlskalten Persönlichkeiten auch frösteln lassen, das alles ließe sich aushalten, weil wir es mittlerweile gewohnt sind, mit allem zu rechnen – unerträglich wird es jedoch, wenn sich das Böse in die Herzen unschuldiger Kinder einnistet. »Das zerstört die letzte Bastion unseres Glaubens an das Gute im Menschen«, sagt die Theologin Johanna Haberer, Professorin für christliche Publizistik an der Universität Erlangen: »Wir haben das Bild, dass Kinder wie eine Landschaft von unbeflecktem weißen Schnee vor uns liegen, wo dann langsam das Leben Spuren hineinzieht. Das ist aber nicht die urchristliche Vorstellung. Wenn die Bibel Sätze formuliert wie: Der Mensch ist böse von Jugend auf, oder wenn der heilige Augustinus sagt: Man muss nur zwei Zwillinge an der Brust der Mutter beobachten, um zu sehen, wo der Hass herkommt, wenn die sich um die Milch streiten, dann meint er, dass das Böse auch im Kind ist. Da kommt diese Vorstellung von der Erbsünde her, dass wir immer beides schon in uns haben und im Wettbewerb und Überlebenskampf die Egoismen meistens stärker sind als Altruismus, vor allem bei Kindern.« »Es schmerzt«, sagte Karsten, der jugendliche Mörder in unserem Gespräch in der Jugendvollzugsanstalt, »wenn du so lange auf Eis gelegen hast, und plötzlich fließt Blut durch deine erstarrten Adern. Aber man hat mir gesagt: Das Einzige, was hilft, ist, dir die Wunden, die du den anderen zugefügt hast, und die Wunden, die andere dir zugefügt haben, anzuschauen. Vielleicht wirst du dann zu dir zurückfinden. Vielleicht. Man hat mir nichts versprochen.« Johanna Haberer: »Ich glaube, das ist der Zustand äußerster Einsamkeit, wenn man die Beziehung zu den Artgenossen oder zu den Menschengenossen verloren hat. Das ist Hölle. Die Hölle ist nicht heiß, die Hölle ist kalt und einsam. Martin Luther beschrieb die Hölle als den Ort, wo ein Nichts das andere frisst. Wo nichts ist. Keine Beziehung, keine Wärme, keine Liebe. Liebe heißt ja, ständig in Beziehung sein. Das, was das Christentum beschreibt mit Glaube, Hoffnung, Liebe. Das Gegenteil davon ist das von den Menschen Ausgeschlossen-Sein. Die Hölle ist nicht heiß, die Hölle ist kalt.« Gegen diese Hölle der Ausgrenzung und des Ausgeschlossen-Seins appellieren die Experten, die sich intensiv mit der Problematik der »kalten Kinder« befasst haben. Die Gerichtsreporterin Ingrid Eissele fände es verheerend für eine Gesellschaft, wenn sie dem Verlangen, das hin und wieder laut wird, nachgäbe, diese Kinder als verloren aufzugeben und wegzusperren. Für den Kriminologen und Psychoanalytiker Lorenz Böllinger wäre das juristisch und ethisch ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Und für die Theologin Johanna Haberer das Ende aller Hoffnung auf die Gnade der Umkehr: »Es gibt das Böse im Kind. Wir wissen nicht, woher es kommt, so, wie wir auch nicht wissen, wie die Schlange ins Paradies kommt. Trotzdem, Christen dürfen diesen Satz von Augustinus nicht aufgeben, der gesagt hat: Grundsätzlich ist das Böse ein Mangel an Gutem, und wir können Gutes tun, um das Böse zu überwinden. Dass man dann ab und zu ratlos dasteht und sagt: Wir wissen nicht, wie es entstanden ist in dem Menschen, ist es Einsamkeit, ist es Traurigkeit, ist es ein genetischer Fehler?, das muss man ertragen. Der christliche Standpunkt verlangt: Man darf nie einen Menschen aufgeben, damit jedem Menschen, ganz egal, wie vorbelastet er ist, die Möglichkeit zur Umkehr bleibt. Die Zukunft muss immer noch die Überraschung zum Guten in sich haben.«

Quelle: Publik-Forum, kritisch – christlich – unabhängig, Oberursel, Ausgabe 15/2010.