Ich bin Landwirt, Physiotherapeut und Opfer sexueller Gewalt.

War es ein ganz normales Leben, das ich geführt habe? Wohl nicht, wenn der erste Satz stimmt. Trotzdem erschienen mir die nächtlichen Panikattacken, das Misstrauen gegenüber anderen Menschen, die Angst vor neuen Situationen und meine Unfähigkeit zwischen Nähe und Distanz zu unterscheiden, die letzten vierzig Jahre als durchaus normal. Normal, bis meine Sprachlosigkeit und die Düsternis meiner Stimmung mich endlich gezwungen haben eine Therapie zu beginnen. Waren es ursprünglich die Gewalterfahrungen als Kind und Jugendlicher die mich belasteten? Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass da noch mehr geschehen sein musste.

Mit elf Jahren, 300 Kilometer von zu Hause entfernt in einer Klosterschule in der die Kinder und Jugendlichen einem brutalem Regiment unterstanden, wurde ich in der Kirche, nachts und nur mit einem Messdienergewand bekleidet vergewaltigt. Wer der Täter war weiß ich bis heute nicht. Warum vergisst man ein solch gravierendes Ereignis so vollständig, dass die wiederkehrende Erinnerung unglaubhaft und fremd wirkt? Das Perfide an dem, was mir in der Klosterschule der Augustiner in Würzburg in den Jahren 1962 bis 1964 geschehen ist: wie soll ein frommes Kind damit umgehen, wenn ihm im Beichtstuhl dann nach dem Ereignis gesagt wird, dass das „Ritual“ , ein Beichtgeheimnis bleiben muss, bei Strafe der ewigen Verdammnis. Vielleicht deshalb bleibt der Täter für mich unerkannt, eine vage Erinnerung an einen großen Mann in einer schwarzen Kutte mit eine großen Kapuze über dem Kopf.

Diese Tat, für den Täter wohl ein aufregendes Erlebnis, hat mich im Innersten getroffen und mein Vertrauen in Andere komplett zerstört. Niemand glaubt dir, niemand will sich auch nur ansatzweise damit beschäftigen. Niemand versteht deine Unsicherheit und Sprachlosigkeit. Die Folgen: Scham und das Wissen, dass man nicht viel Wert ist. Bestätigt auch durch die Leitung der Klosterschule indem sie mich nach Hause ließen mit der Begründung, der Junge ist nicht würdig ein Augustiner zu werden. Er fühlt sich nicht berufen. Er hat so nah am Wasser gebaut. Ein richtiger Kerl verträgt doch eine Ohrfeige….

Stigmatisiert als „komischer Typ“ kam ich zu Hause an und blieb es auch.

Der Beauftragte des Ordens, ein Psychologe, der sich um die gemeldeten Fälle kümmern soll, bot sich 2009 als Mediator an. Leider beschränkt sich die Mediation darauf, Forderungen abzuwehren und meine leidvollen Erfahrungen zu relativieren oder auch meine Glaubwürdigkeit infrage zu stellen. Das heißt, das Unverständnis und die Abwehr setzen sich fort.

Glücklicherweise bin ich durch die Therapie recht stabil und soweit symptomfrei, dass ich keine Angst mehr vor der Konfrontation mit Männern in seltsamen Gewändern habe, oder in katholischen Kirchen Schweissausbrüche bekomme, und eine aufsteigende hilflose Wut mich lähmt.

Meine Hoffnung ist, dass durch die öffentliche Diskussion über Missbrauch und Gewalt gegen Kinder, die Bevölkerung weiter sensibilisiert wird, damit weniger Menschen diese schlimmen Erfahrungen machen müssen. Auch möchte ich allen, die ähnliches erleben mussten, Mut machen sich damit auseinanderzusetzen und, wenn möglich mit professioneller Hilfe, sich aus dem Kreislauf von Depression und Unverständnis zu befreien. So wie ich es auch geschafft habe.

Gerd