„Die Revolte des Körpers“ – eine Herausforderung

von Alice Miller

Fast alle meine Bücher haben gegensätzliche Reaktionen bewirkt, doch bei diesem Buch fällt gerade die emotionale Intensität auf, mit der dessen Ausführungen bestätigt oder abgelehnt werden. Ich habe den Eindruck, dass diese Intensität indirekt zum Ausdruck bringt, wie nahe, oder wie fern, der Leser sich selbst gegenüber befindet.

Nachdem Die Revolte des Körpers im März 2004 erschienen war, schrieben mir viele Leser, sie seien froh, sich nicht länger zu Gefühlen zwingen zu müssen, die sie in Wahrheit nicht empfinden würden. Sie seien auch froh, sich endlich die Gefühle nicht verbieten zu müssen, die immer wieder unverändert in ihnen entstünden. Doch in manchen Reaktionen, vor allem in der Presse, fand ich häufig ein grundsätzliches Missverständnis, zu dem ich möglicherweise selbst beigetragen habe, indem ich das Wort Misshandlung in einem viel weiteren Sinn gebrauchte, als dies üblich ist.

Wir sind gewohnt, mit diesem Wort das Bild eines womöglich am ganzen Körper verwundeten Kindes zu verbinden, dessen Wunden eindeutig auf die erlittenen Verletzungen hinweisen. Was ich aber in diesem Buch beschreibe und mit dem Begriff Misshandlung benenne, sind vielmehr Verletzungen der seelischen Integrität des Kindes, die zunächst UNSICHTBAR bleiben. Deren Folgen werden oft erst nach Jahrzehnten registriert und auch dann wird der Zusammenhang mit den in der Kindheit erfahrenen Verletzungen nur selten gesehen und ernst genommen. Sowohl die Betroffenen selbst, als auch die Gesellschaft (Ärzte, Anwälte, Lehrer, und leider auch viele Therapeuten) wollen von den Ursachen der späteren „Störungen“ oder des „Fehlverhaltens“, die in der Kindheit liegen, nichts wissen.

Wenn ich diese unsichtbaren Verletzungen Misshandlungen nenne, stoße ich häufig auf Widerstand und auf laute Empörung. Diese Gefühle kann ich gut nachempfinden, weil ich sie sehr lange teilte. Ich hätte früher heftig protestiert, wenn man mir gesagt hätte, dass ich ein misshandeltes Kind gewesen war. Erst jetzt weiß ich mit Bestimmtheit, dank Träume, meiner Malerei und nicht zuletzt dank der Botschaften meines Körpers, dass ich als Kind über Jahre seelische Verletzungen hinnehmen musste, aber dies als Erwachsene sehr lange nicht wahrhaben wollte (s. S. 24). Wie so viele andere Menschen habe ich gedacht: „Ich? Ich wurde doch nie geschlagen. Die paar Klapse haben ja kaum eine Bedeutung gehabt. Und meine Mutter hat sich doch so viel Mühe mit mir gegeben.“ (auf S. 79 findet der Leser ähnliche Äußerungen).

Doch wir dürfen nicht vergessen, dass die schweren Folgen der frühen unsichtbaren Verletzungen gerade durch die Bagatellisierung des kindlichen Leidens entstehen, durch die Leugnung von dessen Bedeutung. Jeder Erwachsene kann sich mühelos vorstellen, dass er zu Tode erschrecken und sich entwürdigt fühlen würde, wenn ein Riese, der achtmal größer als er wäre, ihn plötzlich wütend überfallen würde. Doch vom kleinen Kind nehmen wir an, dass es diese Reaktion nicht verspürt, obwohl wir leicht beobachten können, wie wach und kompetent das Kind auf seine Umgebung reagiert. (vgl. Martin Dornes, Der kompetente Säugling, Jesper Juul, Das kompetente Kind) Die Eltern denken, dass Klapse keineswegs wehtun, sie sollten dem Kind nur bestimmte Werte vermitteln, und das Kind übernimmt dieses Urteil. Manche Kinder lernen sogar, darüber zu lachen und ihren Schmerz über die erfahrene Entwürdigung und Erniedrigung zu verspotten. Als Erwachsene halten sie sich an diesem Spott fest, sind stolz auf ihren Zynismus, machen sogar Literatur daraus, wie wir es bei James Joyce, Frank McCourt u.a. sehen können. Wenn sie an Symptomen wie Angst und Depressionen leiden, was wegen der verdrängten echten Gefühle unvermeidbar ist, dann finden sie mühelos Ärzte, die ihnen für eine Weile mit Medikamenten helfen. So können sie ihre Selbstironie, die bewährte und geschätzte Waffe gegen alle aus der Vergangenheit aufsteigenden Gefühle, ruhig aufrechterhalten. Damit passen sie sich auch den Forderungen der Gesellschaft an, für die die Schonung der Eltern ein oberstes Gebot darstellt.

Eine Therapeutin, die mein letztes Buch sehr gründlich gelesen und verstanden hat, erzählte mir, dass sie fast bei allen ihren Klienten auf Widerstand stoße, wenn sie, jetzt deutlicher als früher, versucht, ihnen die durch die Eltern verursachten Verletzungen aufzuzeigen. Sie fragte mich, ob das Vierte Gebot als Erklärung genüge, um diese hartnäckige Bindung an idealisierte Eltern zu verstehen.
Ich denke, dass das Vierte Gebot erst bei größeren Kindern wirksam sein kann. Der Ursprung der hohen (manchmal durch Fremde kaum nachvollziehbaren) Toleranz geht aber auf ein sehr frühes Lebensalter zurück. Er liegt im Umstand, dass schon das kleinste Kind gelernt hat, seinen Schmerz, den die Eltern nicht wahrnehmen, zu verleugnen („ein Klaps tut doch nicht weh“), sich dessen zu schämen, sich selbst für ihn zu beschuldigen oder, wie ich oben zeigte, ihn zu verspotten. Das Opfer darf auch später nicht fühlen, dass es ein Opfer war. So kann der Klient in der Therapie den wahren Täter zuerst gar nicht ausmachen. Auch wenn seine unterdrückten Emotionen aufleben sollten, die Wahrheit wird es schwer haben, sich gegen die früh angelernten Mechanismen durchzusetzen. Sie dienten doch so lange dazu, den Schmerz zu verharmlosen und sich angeblich von ihm zu befreien. Dies nicht mehr zu tun, bedeutet gegen den Strom zu schwimmen, und das macht nicht nur Angst, sondern es bringt auch zunächst Gefühle von Einsamkeit. Man setzt sich dem Vorwurf der Larmoyanz aus. Und doch beginnt hier der Weg zur eigenen Reife. 
Ein Klient, der am Anfang seiner Therapie weiß und es ernst nehmen kann, dass er von seinen Eltern schwer verletzt wurde, gehört daher zu den größten Ausnahmen. Menschen, deren Eltern die Gefühle des Kindes von Anfang an ernst genommen haben, brauchen sich später nicht so anzustrengen, um ihr Leben und ihr Leiden ernst nehmen zu können. Bei der Mehrheit bleibt jedoch der früh angelernte Mechanismus weiter aktiv, d. h. diese Menschen bagatellisieren ihr Leiden hartnäckig, auch wenn sie sich selber therapeutisch betätigen. So bleiben sie zwar dem Geist der Schwarzen Pädagogik und der Gesellschaft, in der sie leben, treu, aber sich selber häufig sehr fern. Ich meine, dass es die Aufgabe einer wirksamen Therapie wäre, diese Distanz zu sich selbst zu verringern.

Auch viele Therapeuten, doch hoffentlich nicht alle, sind bemüht, die Klienten von ihrer Kindheit abzulenken. Wie und warum, zeige ich in diesem Buch sehr deutlich, auch wenn ich nicht weiß, wie hoch ihr Prozentsatz ist, darüber besteht keine Statistik. Der Leser kann sich auf Grund meiner Beschreibung selbst orientieren, ob er auf diesem Weg zu sich selbst begleitet oder von sich selbst entfremdet wird. Letzteres kommt leider häufig vor. Ein in analytischen Kreisen sehr geschätzter Autor behauptet sogar in seinem Buch, dass es das wahre Selbst gar nicht geben könne, dass es irreführend sei, darüber zu sprechen. Wie kann ein auf diese Weise in der Therapie begleiteter Erwachsene seine kindliche Realität finden? Wie kann er erfahren, in welcher Ohnmacht er als Kind gelebt hat? In welcher Verzweiflung er sich befand, als die Verletzungen stattfanden, immer wieder, jahrelang, ohne dass das Kind sich wehren, ohne dass es die Realität wahrnehmen durfte, weil niemand da war, der ihm geholfen hätte, sie zu sehen. So musste das Kind versuchen, sich alleine zu retten, indem es in die Verwirrung flüchtete, und zuweilen eben in den Spott. Wenn es dem Erwachsenen später nicht gelingt, diese Verwirrung in Therapien aufzulösen, die den Zugang zu den verschollenen Gefühlen des Kindes nicht blockieren, bleibt er im Spott über das eigene Schicksal verhaftet.

Sollte es ihm aber doch möglich sein, mit Hilfe seiner heutigen Gefühle zu den einfachsten, berechtigten und starken Emotionen des kleinen Kindes zu gelangen, und diese als begreifliche Reaktionen auf (gewollte oder ungewollte) Grausamkeiten der Eltern oder Ersatzeltern zu verstehen, dann vergeht ihm das Lachen, verschwinden der Spott, der Zynismus und die Selbstironie. Und es verschwinden meistens auch die Symptome, mit denen man für diesen Luxus bezahlt hat. Dann wird das wahre Selbst, d.h. es werden die authentischen Gefühle und Bedürfnisse eines Menschen erlebbar. Ich selber bin darüber verblüfft, wenn ich auf mein Leben zurückschaue, mit welcher Konsequenz, Ausdauer und Unnachgiebigkeit sich mein wahres Selbst gegen alle äußere und innere Widerstände durchgesetzt hat und dass dies auch weiter ohne die Hilfe von Therapeuten geschieht, weil ich sein Wissender Zeuge geworden bin.

Natürlich reicht der Verzicht auf Zynismus und Selbstironie nicht aus, um die Folgen einer grausamen Kindheit aufzuarbeiten. Aber er ist dafür eine notwendige, unerlässliche Voraussetzung. In der Haltung der Selbstverspottung hingegen könnte man zahlreiche Therapien absolvieren und käme doch nicht vom Fleck, weil die wahren Gefühle und damit die Empathie für das Kind, das man war, weiterhin verschlossen blieben. Man zahlt dann lediglich (oder lässt die Krankenkassen bezahlen) für eine Begleitung, die eher behilflich ist, vor der eigenen Realität zu fliehen, was logischerweise kaum Veränderungen bewirken kann.

Sigmund Freud unterwarf sich vor mehr als 100 Jahren uneingeschränkt der herrschenden Moral, indem er eindeutig das Kind beschuldigte und die Eltern schonte. So verfuhren auch seine Nachfolger. In meinen letzten drei Büchern habe ich darauf hingewiesen, dass sich die Psychoanalyse zwar mittlerweile den Fakten über Kindesmisshandlung und sexuellen Missbrauch von Kindern mehr geöffnet hat und diese Fakten in ihre theoretischen Überlegungen zu integrieren versucht, dass aber leider diese Versuche häufig am 4. Gebot scheitern. Die Rolle der Eltern beim Entstehen der Symptomatik des Kindes wird weiterhin verbrämt und verschleiert. Ob die angebliche Erweiterung des Horizontes die innere Haltung der Mehrheit der Therapeuten wirklich verändert hat, kann ich nicht beurteilen, doch aus den Publikationen habe ich den Eindruck, dass die Reflexion über die traditionelle Moral immer noch aussteht. Das Verhalten der Eltern wird weiterhin verteidigt, in der Praxis, aber auch in den Theorien. Das bestätigte mir das Buch von Eli Zaretsky (Secrets of the Soul, Knopf 2004), mit seiner ausführlichen Geschichte der Psychoanalyse bis heute (ohne das Problem des 4. Gebotes überhaupt zu thematisieren). Daher beschäftige ich mich in der „Revolte“ eher am Rande mit der Psychoanalyse.

Leser, die meine anderen Bücher nicht kennen, haben vielleicht Mühe zu realisieren, worin der große Unterschied zwischen dem, was ich schreibe und den Theorien der Psychoanalyse liegt. Denn auch Analytiker befassen sich ja bekanntlich mit der Kindheit und lassen heute zunehmend den Gedanken zu, dass die frühen Traumen das spätere Leben beeinflussen, doch die von den Eltern zugefügten Verletzungen werden häufig umgangen.. Zu den meisten Traumen gehören Todesfälle der Eltern, schwere Erkrankungen, Scheidungen, Naturkatastrophen, Kriege usw. Mit ihnen fühlt sich der Patient nicht allein gelassen, der Analytiker kann sich in seine Situation als Kind mühelos einfühlen und ihm als wissender Zeuge helfen, seine Kindheitsleiden zu bewältigen, die ihn selten an seine eigenen erinnern. Anders ist es da, wo es um Verletzungen geht, die die meisten Menschen erfahren mussten, wenn es nämlich darum geht, den Hass der eigenen Eltern, aber auch später die Feindseligkeit der Erwachsenen gegenüber den Kindern wahrzunehmen.

Das verdienstvolle Buch von Martin Dornes (Der kompetente Säugling, 1993/2004) zeigt m. E. sehr deutlich, wie schwer sich die bisherigen Vorstellungen der Analytiker mit den neuesten Forschungen über den Säugling vereinbaren lassen, obwohl sich der Autor sehr darum bemüht, den Leser vom Gegenteil zu überzeugen. Es gibt dafür viele Ursachen, auf die ich in meinen Büchern hinweise, doch ich meine, dass die Hauptursachen in der Wirkung der Denkblockaden liegen (vgl. AM., Evas Erwachen, S. 109-133), die, zusammen mit dem 4. Gebot, von der Realität der Kindheit wegführen. Schon Sigmund Freud, aber vor allem Melanie Klein, Otto Kernberg, deren Nachfolgerschaft, sowie die weltfremde Ich-Psychologie Heinz Hartmanns haben dem Säugling all das zugeschrieben, was ihnen die einst von ihnen selbst erfahrene Erziehung im Geiste der Schwarzen Pädagogik diktiert hatte, nämlich, dass Kinder von Natur aus böse oder „polymorph pervers“ seien. (In Das Verbannten Wissen habe ich eine ausführliche Passage des bis heute sehr angesehenen Analytikers Glover zitiert, die seine Sicht auf das Kind beschreibt.) Mit der Realität eines lebenden Kindes hatte das wenig zu tun, schon gar nicht mit der eines verletzten und leidenden Kindes, zu denen ja unbestreitbar die Mehrheit gehört, solange körperliche Strafen und andere seelische Verletzungen fast allgemein als legitimer Teil einer richtigen Erziehung gelten.

Analytiker, wie etwa Ferrenzi, Bowlby, Kohut und andere, die sich dieser Realität zuwandten, blieben am Rande der Psychoanalyse, weil ihre Forschungen der Triebtheorie krass widersprachen. Trotzdem ist meines Wissens keiner von ihnen aus der IPA (International Psychoanalytical Association) ausgetreten. Warum? Weil sie alle, wie viele auch noch heute, vermutlich hofften, die Psychoanalyse sei kein dogmatisches, sondern ein offenes System und könne Ergebnisse der neuesten Forschungen integrieren. Ich will das für die Zukunft nicht ausschließen, doch ich meine, dass eine unabdingbare Voraussetzung für diese Öffnung die Freiheit wäre, die realen, seelischen Verletzungen im Säuglingsalter (Misshandlungen) wahrzunehmen und die bagatellisierende Haltung der Eltern dem kindlichen Leiden gegenüber zu erkennen. Das wird erst möglich sein, wenn die Arbeit an den Emotionen in die psychoanalytische Praxis Einzug hält, wenn die Entdeckungskraft der Emotionen nicht mehr gefürchtet wird, was ganz und gar nicht mit der Primärtherapie identisch zu sein braucht. Dann kann sich der Überlebende seinen frühesten Verletzungen stellen und sich mit Hilfe des Wissenden Zeugen und der Botschaften seines Körpers den Weg zu seinen Ursprüngen, zu seinem wahren Selbst bahnen. Soviel ich weiß, ist dies im Rahmen der Psychoanalyse noch nicht geschehen.

In meinem Buch Evas Erwachen (2001) habe ich meine Kritik der Psychoanalyse an einem konkreten Beispiel illustriert (S.149-156). Ich konnte zeigen, dass sogar Winnicott, den ich als Menschen sehr schätzte, dem Kollegen Harry Guntrip in dessen Analyse nicht wirklich helfen konnte, weil es ihm unmöglich war, den Hass der Mutter auf das Kind Harry wahrzunehmen. Dieses Beispiel zeigt deutlich die Grenzen der Psychoanalyse, die mich seinerzeit dazu bewogen haben, mich von der Psychoanalytischen Gesellschaft zu trennen und eigene Wege zu suchen, was mir für immer die Position einer abgelehnten Ketzerin verschaffte. Abgelehnt und missverstanden zu sein ist zwar nicht angenehm, aber die Situation der Ketzerin brachte mir anderseits große Vorteile. Sie erwies sich als sehr ergiebig in meiner Forschung, und sie schenkte mir viel Freiheit, die ich brauchte, um meine Fragen weiter zu verfolgen. Nun standen mir alle Wege offen, und niemand konnte mir vorschreiben, wie ich denken sollte oder gar müsste, was ich sehen dürfe und was auf jeden Fall nicht. Diese Art von Denkfreiheit schätze ich ganz besonders.

Dank dieser Freiheit konnte ich es mir unter anderem leisten, die Eltern, die die Zukunft ihrer Kinder ruinieren, nicht mehr zu schonen. Damit überschritt ich ein großes Tabu. Denn nicht nur innerhalb der Psychoanalyse, auch in unserer ganzen Gesellschaft ist dieser Schritt nach wie vor tabuisiert, das heißt, die Institution „Eltern“ wie die Institution Familie dürfen auf keinen Fall als Quelle der Gewalt und des Leidens gezeigt werden. Die Furcht vor diesem Wissen lässt sich deutlich in den meisten TV-Sendungen zum Thema Gewalt beobachten. (Zu diesen Fragen habe ich mich in der letzten Zeit auch in unterschiedlichen Beiträgen auf meiner Webseite geäußert.)

Die statistischen Erhebungen über Kindesmisshandlung, aber auch die vielen Klienten, die in den Therapien über ihre Erlebnisse als Kind berichteten, führten dazu, dass sich neue Therapieformen jenseits der Analyse etablierten, die sich auf die Behandlung des Traumas konzentrieren und in vielen Kliniken praktiziert werden. Es können auch in diesen Therapien (trotz aller guten Vorsätze, den Klienten empathisch zu begleiten) die echten Gefühle eines Menschen und der wahre Charakter seiner Eltern verschleiert werden, und zwar mit Hilfe von Übungen (Imaginationen und Kognitionen) oder spirituellen Tröstungen. Diese sogenannten therapeutischen Interventionen lenken von den authentischen Gefühlen eines Menschen wie von seiner Realität als Kind ab. Beides (den Zugang zu den Gefühlen und – damit – zu seinen realen Erfahrungen) braucht der Klient aber, um zu sich selbst finden und so die Depression auflösen zu können. Andernfalls können zwar einige Symptome verschwinden, aber beispielsweise in Form körperlicher Erkrankungen wieder auftauchen, solange die Realität des einstigen Kindes ignoriert wird. Diese kann auch in Körpertherapien ignoriert werden, vor allem, wenn der Therapeut die eigenen Eltern noch fürchtet und sie deshalb nach wie vor idealisieren muss.

Inzwischen sind viele Berichte erschienen, in denen Mütter (in den ourchildhood-Foren auch Väter) ehrlich erzählen, wie sehr sie durch die Verletzungen in ihrer eigenen Kindheit daran gehindert waren, ihr Kind zu lieben. Wir können daraus lernen und aufhören, unentwegt weiter die Mutterliebe zu idealisieren. Dann müssen wir den Säugling nicht mehr als ein schreiendes Ungeheuer analysieren und werden beginnen, dessen Innenwelt zu verstehen, die Einsamkeit und Ohnmacht eines Kindes zu erfassen, das bei Eltern aufwachsen musste, die ihm jede liebevolle Kommunikation verweigerten, weil sie diese selber nicht kannten. Wir kennen dann im schreienden Säugling eine logische, berechtigte Reaktion auf meistens unbewusste, aber faktische, reale Grausamkeiten der Eltern finden, die von der Gesellschaft noch nicht als solche erkannt werden. Eine ebenso natürliche Reaktion ist die Verzweiflung eines Menschen über sein beschädigtes Leben, die in manchen Traumatherapien durch positive Phantasien beschwichtigt werden soll. Aber gerade diese starken Gefühle ermöglichen eine Erkenntnis darüber, wie es dem Kind einst bei misshandelnden oder es ignorierenden Eltern ergangen ist.

Die elterliche Grausamkeit ist nicht immer durch Schläge gekennzeichnet (wenn auch ca. 85% der heutigen Weltbevölkerung in der Kindheit geschlagen wurden). Man sieht sie auch und vor allem im Mangel an freundlicher Zuwendung und Kommunikation, im Ignorieren der Bedürfnisse des Kindes und dessen seelischen Schmerzen, in sinnlosen, perversen Strafen, im sexuellen Missbrauch, in der Ausbeutung der bedingungslosen Liebe des Kindes, in der emotionalen Erpressung, im Zerstören des Selbstgefühls und in den unzähligen Formen der Machtausübung. Die Liste ist unendlich. Und was das Schlimmste ist: Das Kind muss lernen, all dies als ganz normales Verhalten anzusehen, weil es nichts anderes kennt. Trotzdem liebt jedes Kind seine Eltern bedingungslos, was auch immer sie mit ihm machen.

Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz beschreibt einmal sehr einfühlsam die Treue einer seiner Gänse zu seinem Stiefel. Dieser war nämlich der erste Gegenstand, den das Gänseküken bei seiner Geburt erblickte. Eine solche Bindung folgt dem Instinkt. Aber würden wir Menschen lebenslang diesem am Anfang des Lebens sehr sinnvollen natürlichen Instinkt folgen, so blieben wir für immer artige Kinder, ohne die Vorzüge des erwachsenen Daseins genießen zu können. Zu diesen gehören aber Bewusstheit, Denkfreiheit, Zugang zu den eigenen Gefühlen und die Fähigkeit, zu vergleichen. Dass Kirchen und Regierungen daran interessiert sind, diese Entwicklung zu erschweren und den Menschen in der Abhängigkeit von Elternfiguren zu belassen, ist allgemein bekannt. Dass der Körper einen hohen Preis dafür bezahlt, ist weniger bekannt. Denn wo kämen wir hin, wenn wir die Untaten der Eltern durchschauen wollten? Und wo kämen die Elternfiguren hin, wenn ihre Machtausübung nicht mehr wirkte?

Daher genießt die Institution „Eltern“ heute immer noch eine absolute Immunität. Wird sich das aber eines Tages ändern (was dieses Buch postuliert), dann werden wir in der Lage sein, zu fühlen, was uns die Misshandlungen unserer Eltern ausgemacht haben. Dann werden wir die Signale unseres Körpers besser verstehen und mit ihm in Frieden leben, nicht als geliebte Kinder, die wir nie waren und nie werden können, aber als offene, bewusste und vielleicht liebende Erwachsene, die ihre Geschichte nicht mehr fürchten müssen, weil sie diese kennen.

In den Reaktionen, die ich zu lesen bekam, sind mir noch andere Missverständnisse aufgefallen, von denen ich hier nur zwei aufgreifen möchte. Sie beziehen sich auf die Frage der Distanz zu den verletzenden Eltern in Fällen von schweren Depressionen und auf meine persönliche Geschichte.

Zum ersten muss ich darauf hinweisen, dass ich im Buch immer wieder von den introjizierten, selten von den realen und nirgends von den „bösen“ Eltern spreche. Ich gebe keine Ratschläge für Hänsel und Gretel, die selbstverständlich die bösen Eltern fliehen mussten, sondern ich plädiere für das Ernstnehmen der echten Gefühle, die seit der Kindheit unterdrückt wurden und im Keller der Seele ihr Dasein fristen. Es ist begreiflich, wenn Rezensenten ohne jegliche psychologische Ausbildung nichts davon wissen und ganz naiv meinen, ich würde die Leser gegen ihre angeblich „böse Eltern“ aufhetzen. Doch ich hoffe, dass mit dem Seelenleben etwas mehr vertraute Leser das Wort „introjiziert“ nicht übersehen werden.

Es würde mich natürlich auch freuen, wenn die Mitteilungen über meine Kindheit auf eine differenzierte und nicht oberflächliche, pauschale Leseart stoßen würden. Seitdem ich mich mit Kindermisshandlungen beschäftige, wird mir von Seiten meiner Kritiker vorgeworfen, dass ich sie überall sehe, weil ich selbst misshandelt wurde. Zuerst reagierte ich darauf mit Staunen, weil ich ja über meine frühe Geschichte noch wenig wusste. Heute kann ich mir zwar vorstellen, dass gerade meine abgewehrten Leiden mich zur Beschäftigung mit diesem Thema drängten. Doch was ich gefunden habe, als ich dieses Gebiet zu durchforschen begann, war nicht nur mein eigenes Schicksal, sondern das sehr vieler Menschen. Im Grunde waren sie meine Führer, dank ihrer Geschichten fing ich an, meine Abwehr abzubauen, mich umzuschauen, und aus der hartnäckigen universellen Leugnung des kindlichen Leidens Schlüsse zu ziehen, die mir geholfen haben, mich zu verstehen. Dafür bin ich diesen Menschen sehr dankbar.

Quelle: http://www.alice-miller.com