nw-news.de 9.10.2010

INTERVIEW: „Ich habe mich geschämt“

Herford. Die Mädchenberatungsstelle femina vita hilft Mädchen und jungen Frauen beim Umgang mit den Folgen sexueller Gewalt. In diesem Interview berichtet eine junge Frau von ihrem Fall. Die Fragen stellte NW-Mitarbeiter Ralf Bittner per E-Mail, das Gespräch führte Nicole Gallemann, Diplom-Psychologin bei femina vita. Die junge Frau möchte nicht erkannt werden. Der Name „Anna“ ist ein Pseudonym.

Wie bist Du an femina vita geraten?
ANNA: Vor einigen Jahren fiel meiner Ausbilderin auf, dass ich oft durcheinander und bedrückt war und manchmal weinte. Sie riet mir, mit femina vita zu reden.

Was war Dein Problem?
ANNA: Meiner Mutter ging es schlecht, hinzu kamen finanzielle Probleme. Ich musste sehen, dass das Finanzielle läuft. Ich hab den Haushalt mit gemacht, nebenbei die Schule und nachts in Kneipen geholfen. Ich war oft kaputt. So viel Verantwortung war zu viel für mich.

Hattest Du vorher schon überlegt, dir Hilfe zu holen?
ANNA: Ja, aber ich habe es nie gemacht. Ich habe mich geschämt und wollte keinem erzählen, was wirklich los war. Außerdem habe ich immer gedacht, ich schaff’s allein.

Wie waren die ersten Gespräche?
ANNA: Am Anfang ist mir das Erzählen sehr schwer gefallen. Ich wollte nur vergessen. Da war die Angst, dass jemand was Falsches denken könnte, wenn er hört, was uns passiert ist. Ich wollte meine Mutter schützen und hatte Angst, dass wir für asozial gehalten würden oder dass ich etwas falsch gemacht haben könnte.

Wann hat der Missbrauch angefangen?
ANNA: Als mich mein Vater das erste Mal angefasst hat, war ich neun oder zehn Jahre alt. Es wurde mit der Zeit immer schlimmer. Es passierte ständig: nachts, tagsüber, sogar in Anwesenheit von Freunden. Er hat meine Schwestern und mich überall angefasst und kam nachts ans Bett.

Hattest Du vorher mit jemandem über den Missbrauch gesprochen?
ANNA: Ich hatte es meiner Mutter erzählt. Sie hat es geglaubt. Meine Mutter hat meiner Schwester und mir versprochen, dass wir abhauen. Aber es wurde immer schlimmer. Meine Mutter war von meinem Vater abhängig. Oft schickte sie uns aufs Zimmer, wenn er vorfuhr. Ich habe dann auf der Treppe gesessen und aufgepasst, dass ihr nichts passiert. Wenn sie geschrieen hat, habe ich ihr geholfen. Später habe ich erreicht, dass er uns Kinder nur in unsere Zimmer gesperrt hat. Wahrscheinlich kann ich deshalb nachts so schlecht schlafen.

Wie habt Ihr es da raus geschafft?
ANNA: Das passierte eher zufällig. Meine Mutter kam einmal auf den Spielplatz und rief „der Alte dreht durch“. Sie wollte trotzdem nach Hause, ich nicht. Er wollte uns ins Auto ziehen, aber ich habe „nein“ gesagt. Und er konnte nichts machen, weil da andere Leute waren, er hat dann zu Hause gewartet. Wir sind aber zu einer Freundin gegangen.Damals warst Du elf Jahre alt?
ANNA: Ja. Zum Glück war meine Freundin da, ihre Eltern haben die Polizei gerufen. Wir sind ohne Sachen für vier Monate ins Frauenhaus gegangen. Ich wusste vorher nicht, dass es das gibt.

Wart Ihr danach sicher?
ANNA: Ja, aber mein Vater hat versucht, uns zu finden. Deshalb waren wir ein Jahr lang vom Unterricht befreit. Der Neuanfang war schwer. Wir galten als nicht normal, ich wurde gemobbt. Meine Schwestern habe ich auch beschützt. Wir sind sitzen geblieben und haben irgendwann aufgehört mit der Schule. Später habe ich den Abschluss nachgeholt. Das hat geklappt, weil es an der Schule Sozialpädagogen gab, die wussten, was war, und mir geholfen haben.

Wie ist die Therapie verlaufen?
ANNA: Wichtig war, dass mir jemand zuhörte und ich ernst genommen wurde. Femina vita hat mir Tipps gegeben, was ich machen konnte und mich vielfältig unterstützt, etwa bei blöden Anrufen. Wichtig war auch, dass immer eine Ansprechpartnerin da war. Es ist gut zu wissen, dass ich weiter kommen kann. Mir geht es so gut, dass auch andere merken, dass ich selbstbewusst bin. Niemand weiß, dass ich mir Hilfe hole. Äußerlich wirke ich stark.

Wie hast Du davon erfahren, dass auch Deine Halbschwester misshandelt wird?
ANNA: Meine elfjährige Halbschwester hat das ihrer Mutter, der neuen Lebensgefährtin meines Vaters erzählt, die sofort Anzeige erstattet hat. Die Kripo fand dann heraus, dass er drei weitere Töchter hat. Wir wurden vorgeladen, aber meine Schwestern wollten nicht aussagen, meine Mutter und ich schon. Bis zum Prozess hat es ein Dreivierteljahr gedauert.

Hat Dich femina vita bei dem Prozess begleitet?
ANNA: Femina vita hat mir erklärt, wer wo sitzt. Wir haben uns Zeuginnenzimmer, Richter und einen Prozess angesehen, so dass ich wusste, was mich erwartet und dass jemand zwischen mir und ihm sitzen würde, und ich ihn nicht sehen muss. Auch die Rechtsanwältin wurde mir empfohlen. Ohne Hilfe hätte ich das nie geschafft, weil ich solche Angst vor meinem Vater hatte und davor, dass er noch einmal Macht kriegt.

Wie lief die Verhandlung ab?
ANNA: Überraschend waren Freunde zum Gericht gekommen. Die haben mir gesagt, dass sie hinten sitzen und ich sie anschauen soll. Dann bin ich ins Zeuginnenzimmer. Ich wurde nervös, weil ich ihn zehn Jahre nicht gesehen hatte. Dann musste ich rein und eine Mitarbeiterin von femina vita war bei mir. Dann habe ich ihn gesehen. Er sah schrecklich aus. Zum Glück habe ich seinen Atem nicht gehört. Zwei Tage später kam das Urteil. Ich wusste vorher, dass er wegen seines Geständnisses nur fünf Jahre kriegt. Bei der Urteilsverkündung habe ich auf der Seite der Guten neben Staatsanwältin und Rechtsanwältin gestanden. Mir fiel auf, dass er gar nicht viel größer ist als ich. Vorher war der immer so riesig. Erst als es vorbei war, habe ich geweint, ich wollte mir vor ihm keine Blöße geben. Es war komisch -, er hat das alles verdient, anderseits ist er mein Vater.

War es richtig auszusagen?
ANNA: Ich bin froh, dass ich es gemacht habe. Heute weiß ich, dass ich keine Angst mehr vor ihm haben muss, auch nicht wenn er raus kommt. Jetzt ist er das arme Würstchen, und ich bin größer, reifer, älter, selbstbewusster. Er hat keine Macht mehr über mich.

Wie geht es Dir jetzt?
ANNA: Gut, aber es gibt immer noch Dinge aufzuarbeiten. Deshalb komme ich weiter zu femina vita. Ich habe eine Ausbildung und Abi gemacht, will studieren und habe Freunde.

Warum hast Du Dich zu diesem Gespräch bereit erklärt?
ANNA: Ich möchte, dass andere erfahren, dass sie da raus kommen und sich Hilfe holen können.

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