AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2010
Runder Tisch gegen Kindesmissbrauch beriet am 30. September 2010 Ergebnisse der Arbeitsgruppen
von Britta Meyer
Die Zusammensetzung des Runden Tisches hatte bereits im Frühjahr 2010 für harsche Kritik gesorgt. Jetzt kam es während einer Pressekonferenz im Anschluss an die zweite Tagung des Tisches …
… in Berlin zum öffentlichen Eklat.
Die Tatsache, dass unter den insgesamt 61 VertreterInnen aus Politik, Kirche und Gesellschaft mit „kibs“ (Kontakt-, Informations-, Beratungsstelle für männliche Opfer sexueller Gewalt) genau eine einzige Organisation eine Vertretung für erwachsene Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs zu finden ist, hat zu wütendem Protest der Betroffenenorganisationen geführt. Aus Sicht des Familienministeriums hatte man jedoch „alle relevanten Gruppen eingeladen“. Auch die Vorstellung der „Unabhängigen Beauftragten“ Dr. Christine Bergmann, der Runde Tisch solle auch der Versöhnung dienen, war auf heftige Kritik gestoßen. Dass Bergmann von Versöhnung rede, „macht mich stutzig“, sagte „Zartbitter“-Leiterin Ursula Enders im Gespräch mit der „Frankfurter Rundschau“. „Ich weiß nicht, wer sich da mit wem versöhnen soll, wenn noch nicht mal „Tauwetter“ eingeladen wurde.“ Bergmann sei gut beraten, die Opfer zu allem Überfluss „nicht noch unter unheimlich großen moralischen Druck zu setzen“.
Am 30. September 2010 hatte der Runde Tisch nun erneut getagt und über Maßnahmen gegen sexuellen Missbrauch und mögliche Entschädigungen für die Opfer beraten. Vor den Türen des Justizministeriums demonstrierten derweil Mitglieder des „Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt“ – kurz „NetzwerkB„. Die Gruppe wollte sich, wie viele andere Opferverbände, am Runden Tisch beteiligen, doch die Einladung blieb aus. Norbert Denef, Gründer von „NetzwerkB“, nannte die Veranstaltung ein „politisches Lügentheater“. Die TäterInnen seien durch ArbeitgeberInnen und Berufsverbände in der Runde vertreten, nur die Opfer würden von jeglicher Entscheidungsmacht ausgegrenzt und damit erneut zu Objekten gemacht.
Wütender Protest gegen den Ausschluss der Betroffenen
Auf der sich der Tagung anschließenden Pressekonferenz hatten die Ministerinnen des Runden Tisches – Bundesjustizministerin Dr. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesbildungsministerin Prof. Dr. Anette Schavan und Bundesfamilienministerin Dr. Kristina Schröder – eine erfreuliche Bilanz der bisherigen Arbeit präsentieren wollen. Doch noch während Christine Bergmann als erste Rednerin den Zwischenbericht zu ihrer telefonischen Anlaufstelle und der Kampagne „Sprechen hilft“ vorzutragen versuchte, stand ein junger Mann aus der ersten Reihe der JournalistInnen auf und kritisierte lautstark, er als Betroffener finde es „traurig und inakzeptabel“, dass Bergmann ihm und anderen Opfern sexualisierter Gewalt ungebeten als Vertreterin „vor die Nase gesetzt“ werde. Er griff sowohl die Zusammensetzung des Runden Tisches, als auch dessen Vokabular im Umgang mit sexualisierter Gewalt mit scharfen, wütenden Worten an. Formulierungen, wie „das Schweigen brechen“, würdige die Betroffenen herab und degradiere sie erneut zu Objekten.
Die benutzte Wortwahl spiegelt den „ganz normalen“ unsensiblen Umgang der Allgemeinheit mit dem Thema sexualisierter Gewalt wieder. So hätte statt der von TäterInnen verwendeten Selbstbezeichnung „pädophil“ das angemessenere Wort „pädokriminell“ benutzt werden müssen. Eine Anpassung des Sprachgebrauchs an die Leidensrealität der Betroffenen sollte für eine Einrichtung wie den Runden Tisch gegen sexuellen Missbrauch eigentlich obligatorisch sein.
Mehrere Versuche der Veranstaltenden, den Mann zu beschwichtigen und ihm schließlich das Wort zu entziehen, brachten ihn nur noch mehr in Rage. „Sie arbeiten hier mit den Tätern statt mit den Opfern zusammen. Wir wollen nicht mehr, dass ständig Leute für uns sprechen“, rief er auch ohne Mikrophon laut und deutlich. „Wir wollen am Runden Tisch mitreden!“. Auf seine Frage, warum von den 61 am Runden Tisch repräsentierten Vereinigungen nur eine einzige eine Betroffenenorganisation sei, antwortete Kristina Schröder, die Anzahl der Opfer sei viel „viel zu groß und zu unüberschaubar“, um daraus eine Auswahl treffen zu können, die „nicht willkürlich wäre“.
Die vorlegten Ergebnisse
Leutheusser-Schnarrenberger, Leiterin der AG Justiz des Runden Tisches, trug deren Ergebnisse vor. So sollen für die OpferzeugInnen schmerzhafte Mehrfachvernehmungen durch den verstärkten Einsatz richterlicher Videovernehmung möglichst vermieden werden. Dem gleichen Zweck dient eine Neufassung der Vorschriften, welche eine Anklage wegen Sexualdelikten unmittelbar zum Landgericht als dann einziger Tatsacheninstanz ermöglichen. Opfer von Sexualdelikten sollen zudem in weiterem Umfang als bisher eine/n OpferanwaltIn auf Staatskosten in Anspruch nehmen können. Eine strafbewehrte gesetzliche Anzeigenpflicht für Menschen, die Kenntnis von Fällen sexuellen Missbrauchs erlangen, lehnten die RechtsexpertInnen im Interesse der Opfer dagegen ab.
„Wir sind vielmehr zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Selbstverpflichtung der betroffenen Organisationen, im Verdachtsfall die Staatsanwaltschaft über einen Tatverdacht zu informieren, der bessere Weg ist“, so Leutheusser-Schnarrenberger. Deshalb arbeite die AG Justiz derzeit daran, Leitlinien zur Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu formulieren. Eigeninteressen der Organisationen dürften dabei keine Ausnahmen begründen. „So soll verhindert werden, dass Verdachtsfälle auf sexuellen Missbrauch – wie leider in der Vergangenheit allzu häufig geschehen – weiter unter der Decke gehalten werden.“ Darüber hinaus beabsichtigt das Bundesjustizministerium, einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem die zivilrechtliche Verjährungsfrist für alle Schadensersatzansprüche von Opfern sexueller Gewalt von derzeit drei auf 30 Jahre verlängert werde.
Familienministerin Schröder will ihren Angaben nach dafür sorgen, dass
- jede Einrichtung, die mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, bestimmte Standards zum Kinderschutz erfüllt,
- die Einhaltung dieser Standards mit staatlicher Förderung und Finanzierung verknüpft werden,
- die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses für alle hauptamtlichen MitarbeiterInnen durchgesetzt wird,
- die Selbstverpflichtungen der Institutionen festgelegt werden
- eine bundesweite Fortbildungsoffensive zum Thema sexualisierte Gewalt startet.
Annette Schavan gab bekannt, dass ihr Haus insgesamt 32 Millionen Euro für Forschungsprojekte zu Ausmaß, Ursachen und Folgen von Missbrauch und Gewalt im Kindes- und Jugendalter zur Verfügung stellt. In einem interdisziplinären Forschungsnetz „Missbrauch, Vernachlässigung und Gewalt“ werden WissenschaftlerInnen aus der medizinischen, psychologischen und der sozialwissenschaftlichen Forschung zusammenarbeiten. Ziel ist die Entwicklung von Maßnahmen für eine bessere Prävention von Gewalt an Kindern und für eine wirksame Therapie von Betroffenen. Das BMBF wird dieses Forschungsnetz mit rund 20 Millionen Euro ausstatten. Durch die Erweiterung der Wissensbasis soll die Aus-, Fort- und Weiterbildung zum Umgang mit Missbrauchsfällen auf- und ausgebaut werden. Um die Datengrundlage zu verbreitern, wird das BMBF des Weiteren eine Aktualisierung und Erweiterung der bisher einzigen deutschen Repräsentativbefragung aus dem Jahr 1992 zur Thematik des sexuellen Missbrauchs von Kindern fördern. Diese Untersuchung wird vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) durchgeführt werden. „Wir wollen früher auf Täter aufmerksam werden und dadurch Kindesmissbrauch wirkungsvoll verhindern. Dazu brauchen wir gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse“, so Schavan.
Christine Bergmann, Bundesministerin a.D., stellte dem Runden Tisch einen Zwischenbericht zu ihrer telefonischen Anlaufstelle sowie erste Reaktionen nach Start der Kampagne „Sprechen hilft“ vor. Demnach haben unabhängige Beauftragte bis zum Start der Kampagne 2500 Anrufe und Briefe erreicht, seit Start der Kampagne in der vergangenen Woche sind weitere 1.450 Anrufe und über 350 Briefe eingegangen. Bei über 80 Prozent der Betroffenen liegt der Missbrauch mindestens 20 Jahre zurück. Diejenigen, die sich bereits an jemanden gewendet hatten, berichten vielfach, dass ihnen nicht geglaubt wurde oder dass sie sogar dafür bestraft wurden. Fast alle bestätigen, wie wichtig es sei, dass das Thema in der Öffentlichkeit wahrgenommen und das ihnen widerfahrene Unrecht als solches anerkannt werde. Noch vor der Forderung nach Verjährung und Entschädigung stehe bei den Betroffenen die Forderung nach einem umfassenden Ausbau der Beratungs- und Therapieangebote. Es fehle vor allem an speziellen Angeboten für Jungen und Männer sowie an Angeboten in ländlichen Gebieten. Besonders angespannt erwartet wurde das von der Katholischen Kirche vorgelegte Modell zur finanziellen Entschädigung der Opfer von sexuellem Missbrauch. Vorgesehen ist ein Fonds für Präventionsprojekte, individuelle Zahlungen an Opfer als Anerkennung erlittenen Leids und die Übernahme von Therapiekosten. Obwohl der Vorschlag der Bischofskonferenz noch keine konkreten Zahlen enthält, nannte Familienministerin Schröder das Modell „einen wirklich wichtigen ersten Schritt“, „sehr durchdacht“ und „praktikabel“.
Am 10. November 2010 wird in Zusammenarbeit mit den Bundesministerinnen ein Gespräch mit Betroffenen und den Mitgliedern des Runden Tisches stattfinden. Die nächste Plenumssitzung des Runden Tisches findet voraussichtlich am 1. Dezember 2010 statt. Dann soll auch ein Zwischenbericht an die Bundesregierung beschlossen werden. Die Menschen von „NetzwerkB“ standen nach Beendigung der Pressekonferenz mit ihrem Transparent noch immer draußen auf der Straße. Sie sahen nicht aus, als würden sie bald gehen wollen.
Sehr guter Bericht! Vergessen wurde der tapfere Vertreter der Opfer ehemaliger Heimerziehung, der während der Sitzung draussen vor der Glasscheibe stand und wacker sein Plakat hochhielt. Auf dem Plakat stand: ´Ehemalige Heimkinder fordern 54.000 Euro!´ Da wäre ja dann die Zahl gewesen, die dem sehr durchdachten und praktikablem Plan der Kirchen noch fehlte,..