Publik-Forum, 17/2010, erschienen am 10.9.2010

Was nützen Papiere, wenn Opfern sexueller Gewalt in 
der Kirche nicht schnell geholfen wird? Große Worte und kleine Fortschritte in den neuen Leitlinien der katholischen Bischöfe
Von Britta Baas

Natürlich war die ganze Schufterei nicht umsonst. Die Bischöfe der römisch-katholischen Kirche in Deutschland haben schon etwas Neues geschrieben in ihren revidierten Leitlinien zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch hinter Kirchenmauern. Sie haben zum Beispiel festgelegt, dass jeder Bischof jetzt definitiv einen »ständigen Beraterstab« haben muss, um im Falle des Falles richtig zu entscheiden – früher konnte sich ein Bischof notfalls auch ohne ihn durchwursteln. Und sie haben entschieden, dass sämtliche Verdachtsfälle im Prinzip an die Staatsanwaltschaft weitergemeldet werden müssen. Das klingt ziemlich gut. Man darf nur nicht weiterlesen beim entscheidenden Punkt 26 in den revidierten Leitlinien. Auf Punkt 26 nämlich folgt unweigerlich Punkt 27. Und in dem ist von den Ausnahmefällen die Rede.

Drei Durchgänge brauchte es, bis die Neufassung der Leitlinien stand. Und Bischof Stephan Ackermann (Foto) gibt sich am Nachmittag des 31. August alle Mühe, das interne Verhandlungsergebnis der Bischöfe positiv zu verkaufen. Bei der Pressekonferenz in Trier spricht er ruhig und entgegenkommend, geht auf jede Frage diplomatisch ein. Der Mann beherrscht sein Handwerk als Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz im Umgang mit dem heiklen Thema. Nur einmal wird er emotional. Auf die Frage, ob sich denn alle Bischöfe an die neuen Leitlinien halten würden, kommt ein emphatischer Ruf: »Selbstverständlich!« Und unter kühner Uminterpretation der deutschen Grammatik setzt der Bischof nach: »Das ist ein Indikativ!«

Was Ackermann damit klarstellt, sagt mehr als tausend Worte: Dieser Mann wünscht sich sehnlichst, dass alle Bischöfe an einem Strang ziehen. Und weil sie das nicht tun, liest sich Ackermanns Ausruf als Appell nach innen: Reißt euch zusammen, damit wir vorwärtskommen!

Doch so selbstverständlich ist das Vorwärtskommen nicht. Denn die Bischöfe haben Spielraum genug, mit den neuen Leitlinien im Detail recht unterschiedlich zu verfahren. Der Hebel dazu ist das geltende Kirchenrecht. Ein unscheinbarer Teilsatz Ackermanns während der Pressekonferenz macht das klar. Laut beginnt er: »Die Leitlinien sind verbindlich …« und setzt dann leiser hinzu: »… im Rahmen des Rechts der Kirche.« Fast schon ist die Pressekonferenz zu Ende, fast schon scheint alles nur Mögliche gefragt worden zu sein. Aber was heißen diese Worte?

Das Recht der Kirche besagt, dass jeder Diözesanbischof in seinem kirchlichen Zuständigkeitsgebiet zwar dem Jurisdiktionsprimat des Papstes unterworfen ist, ansonsten aber fast unbeschränkte Lehr- und Leitungsvollmacht hat. Welche Handlungen für ihn aus den neuen Leitlinien folgen, darüber kann und muss er selbst entscheiden. Und wie, um das noch einmal sicherzustellen, wird in vielen Punkten der neuen Leitlinien auf die Machtfülle des Bischofs verwiesen. Er ist es, der den Beraterstab zum Vorgehen gegen sexuellen Missbrauch zusammenstellt. Er ist es, der über konkrete Hilfen für die Opfer entscheidet. Er ist es, der letztlich klärt, ob ein Fall an die Staatsanwaltschaft weitergegeben wird oder ob »ausnahmsweise« – wie Punkt 27 sagt – auf Wunsch des Opfers oder dessen Eltern darauf zu verzichten ist. Und er ist es auch, der auf der Basis forensisch-psychiatrischer Einschätzungen über die kirchliche Zukunft eines Täters urteilt.

Haben die Bischöfe darüber gestritten, was wirklich zu tun ist? Haben sie sich wechselseitig Kritik an den Kopf geworfen? »Du bist viel zu lasch!« – »Und du ziehst die Kirche in den Schmutz!« – Was auf dem Weg zum 31. August geschah, bleibt im Letzten ein Geheimnis der Bischöfe: Wer sich mit wem zerstritt, wer wen stützte, wer schlecht schlief und wer gut. Die Antworten auf diese Fragen sind zweitrangig. Erstrangig ist die Frage: Helfen die neuen Leitlinien den Opfern?

Vielleicht. Vor Gericht könnten sie nützlich sein. Auch als Vorbereitung eines Gesprächs mit Kirchenmännern geben sie wichtige Anhaltspunkte. Ansonsten aber gilt: Papier ist geduldig. Am Ende zählt, was die Kirche wirklich für die Betroffenen tut.

Jedes Bistum in Deutschland hat eine telefonische Anlaufstelle für Opfer sexueller Gewalt. »Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Beauftragten in manchen Bistümern unter der angegebenen Telefonnummer häufig nur schwer oder gar nicht erreichbar sind. In Passau ging einmal der Küster ans Telefon. Inzwischen wurde dort die Nummer geändert«, berichtet Annegret Laakmann von der Kirchenvolksbewegung Wir sind Kirche. Der Praxistest der kritischen Kirchenbasis ist manchen Bischöfen möglicherweise peinlich. Manch andere aber lässt er kalt. Vor allem solche, die offen zugeben, dass sie selbst es bislang vermieden haben, mit Opfern zu reden. Der Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller etwa hält wenig von solchen Begegnungen. Ihm wird Punkt 15 der neuen Leitlinien zupass kommen, in dem es heißt: »Der Diözesanbischof bestimmt, wer seitens der Diözese an diesem Gespräch« – gemeint ist das mit dem mutmaßlichen Opfer – »teilnimmt.« Der Bischof selbst muss es jedenfalls nicht. Er wird – so bestimmt es Punkt 19 – »über das Ergebnis des Gesprächs informiert«.

Stephan Ackermann muss am Nachmittag des 31. August einen Offenbarungseid leisten: Er kann nicht sagen, ob seine Kollegen im Bischofsamt künftig »einheitlich« vorgehen, wie es die alten Leitlinien von 2002 formulierten. Er kann nur erklären, dass es künftig »eine abgestimmte Vorgehensweise« geben werde. Sich abzustimmen heißt nicht zwingend, dasselbe zu tun.

Am schmerzlichsten aber an den neuen Leitlinien ist, dass die deutschen Bischöfe sich nicht dazu durchringen konnten, über finanzielle Entschädigungen auch nur ein konkretes Wort zu verlieren. Ackermann verweist auf den Runden Tisch in Berlin: Dort werde man mit anderen betroffenen Institutionen nach einer einvernehmlichen Lösung suchen – »nicht vor 2011«. Anders ist es in Österreich gelaufen: Dort haben die Bischöfe einen Opfer-Fonds eingerichtet. Im Alleingang.

Entschlossen diplomatisch: Pater Hans Langendörfer (links), Bischof Stephan Ackermann und Pressesprecher Matthias Kopp vor Journalisten