ZEIT ONLINE 21.06.2010

Hilft gegen Wut

Nichts verschweigen, alles in Frage stellen!

Was heißt eigentlich heilig? Im Internet steht, dass das Wort etwas Besonderes bezeichnet und dass sich darin das »Heile«, Ganze, Intakte wiederfindet. Und jetzt fragen Sie ausgerechnet mich, der als Messdiener von einem Priester und danach als Jugendlicher von einem Kirchenmusiker missbraucht wurde, nach so etwas wie Unversehrtheit. Heilig, heilig, heilig: Wie oft habe ich das als Kind und Jugendlicher gesungen! Diese Kirchenmusik macht einem ja Gänsehaut, die vernebelt einem die Sinne und bringt einen in Ekstase. Bei mir mischte sich das Schöne mit dem Schlimmen zu einem Chaos. Irgendwann blieb nur noch der Rückzug ins Schweigen.

Um da wieder rauszukommen, muss man den Mut haben, Fragen zu stellen. Als ich zu fragen anfing, wurde ich allerdings fast wahnsinnig. Warum musste mir das passieren? Warum mit zehn Jahren? Warum mit 16 aufs Neue? Worte zu finden über die eigene Wut hinaus und bei allem nach dem Warum zu forschen – das ist mir im Leben das Wichtigste, wenn Sie so wollen etwas Heiliges. Shakespeare hat in Macbeth gesagt: »Was, Mann! Zieh nicht den Hut so in die Stirn: / Gib Leiden Worte; Schmerz, der nicht frei spricht, / flüstert im Herzen, bis es birst und bricht.« Das habe ich am eigenen Leib erfahren, dass stummer Schmerz und Wut und Ärger unfrei machen.

Mit der pompösen Entschuldigungsrede des Papstes letzten Freitag spielen die Kirchenoberen uns eine Komödie vor. Denn wer sich entschuldigt, fordert Vergebung, und wenn das Opfer nicht vergibt, dann betet der Papst für dessen Seelenheil, dass es wieder vergeben kann. Was für eine Farce! 10000 Priester ziehen sich in Rom Kostüme an, und einer behauptet, er spreche im Namen Gottes, und die anderen küssen seinen Ring. Dieses Entschuldigungsgerede dient doch bloß der Verdrängung. Wem verziehen wird, der muss sich nicht ändern. Der Papst sollte lieber die geheimen Akten öffnen und die Betroffenen angemessen entschädigen.

Ich bin sehr fürs Rationale, denn ich habe lernen müssen, dass der Glaube an die heilige christliche Kirche so ist, als würde man immer tiefer in einen dunklen Tunnel rennen. Ans Licht kommt man durch hartnäckiges Fragen. Dadurch gelangt man ins Freie.

Norbert Denef , geboren 1949 in Delitzsch bei Leipzig, ist Sprecher des Netzwerks Betroffener von sexualisierter Gewalt (www.netzwerkb.org). Er selbst wurde zwischen dem 10. und 18. Lebensjahr von einem Priester und einem Organisten missbraucht. Im Jahr 2003 bot ihm das Bistum Magdeburg eine Entschädigung an, unter der Bedingung, dass er sich verpflichtet, weiter zu schweigen. Denef kämpft derzeit beim Europäischen Gerichtshof für eine Aufhebung der Verjährungsfristen für sexuelle Gewalt im Zivilrecht. Sein Buch »Ich wurde sexuell missbraucht« kann man für 10 Euro beim Autor beziehen (norbert@denef.com)

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