Es ist an der Zeit…

Ich wurde als Kind sexuell missbraucht, auch in einem Kurheim in dem ich für einige Wochen unsäglicher Gewalt ausgeliefert war.

Ich war Opfer als Kind, bin Betroffene ein Leben lang und habe hart daran gearbeitet ‚survivor’ (Überlebende) zu sein.

Ich hatte alles verdrängt, Erinnerungen kamen erst im Alter von 27 zur Oberfläche – davor hatte ich mich immer nur ‚anders’ gefühlt. Hatte versucht über Leistung in Schule und Studium die innere Besorgnis, dass mit mir etwas nicht stimmte abzudecken. An ein eigenes Lebensglück habe ich damals nicht geglaubt, habe dann eben versucht durch soziales/politisches Engagement etwas wertvolles aus meinem Leben zu machen.

Als die Erinnerungen sich hocharbeiteten, war ich im Ausland und lebte in einer Community, die vor dem Thema ‚sexualisierte Gewalt’ keine Angst hatte, und in der Strukturen und Verständnis und Empathie schon vorhanden waren. So hatte ich ein Umfeld, in dem ich mich doch – so weit dies überhaupt möglich ist für Opfer von Gewalt –  aufgefangen fühlen konnte. Später habe ich mich dann selbst auch wieder als Helfer und Aktivist eingebracht.

Dann kam meine Rückkehr nach Deutschland und die für mich schwierige Aufgabe in dieser Gesellschaft wieder anzukommen.

Und hier ist dieses Schweigen…..
dieses „Altes muss man ruhen lassen“,
dieses „ du bist da einfach zu empfindlich“, wenn man nicht über Vergewaltigungswitze (!) lacht,
dieses „man muss nur vorwärts schauen“,
dieses „ach, ich möchte über so etwas nicht nachdenken“,
dieses „wer in der Scheiße rührt, stinkt“.

Dieses Schweigen nagt an der Seele.

Und deswegen ist es an der Zeit:

Es ist das Schweigen, das Schande und Scham auf die Opfer ausgießt. Es ist das Schweigen welches die Gewalt duldet und dadurch weiterhin ermöglicht.
Das Schweigen macht den Schweiger zum Komplizen der Täter. Wer wegsieht,  hat Teil an der Gewalt…

Und deswegen ist es gut, dass wir sprechen. Jeder einzeln und alle zusammen. Wir sind nicht allein, es gibt viele von uns.

Ein ganzer Chorus….

Wir können vielleicht nicht Weltfrieden schaffen, aber wir können gegen diese Gewalt in unserer Gesellschaft antreten. Wir können ein gesellschaftliches Bewusstsein schaffen, welches Wegsehen und Schweigen unakzeptabel macht, welches Gewalt nicht mehr duldet und der Gewalt keinen Platz mehr bei uns einräumt.

Wir können an einer Gesellschaft arbeiten, in der sich Betroffene aufgefangen fühlen, so dass sie zu sich selbst finden und ihr Anteilhaben an der Menschheit wieder für sich vereinnahmen können.

Und vielleicht, nur vielleicht, gelingt es uns, den Tätern so viel Boden in unseren Familien, Gemeinden und unserer Gesellschaft allgemein zu entziehen, dass es für sie nicht mehr ein Leichtes ist unerkannt und verantwortungslos ihr Tun weiterzuführen.

15. Mai 2010

Dr. Marcella Maria Becker