sueddeutsche.de 14.05.2010

Von Sarina Pfauth

Dürfen Missbrauchsopfer stören? Beim Kirchentagsforum zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche wird das Schweigen gegeißelt – und es kommt zum Eklat.

„Sie haben versagt, treten Sie ab!“: Opfervertreter Norbert Denef, im Hintergrund Pater Klaus Mertes, Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin, der Missbrauchsfälle an seiner Schule öffentlich gemacht hat.

Er wird warm empfangen, zunächst. Pater Klaus Mertes, Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, wird von der Moderatorin als jener Mann begrüßt, der das Schweigen um die Missbräuche in der katholischen Kirche gebrochen hat und an die Öffentlichkeit gegangen ist. Tausende Zuschauer, die in der Messehalle C1 auf Kirchentags-Papphockern sitzen, klatschen Beifall.

„Ich bin noch mitten im Sturm“, setzt er zu seinem Statement an. Wie richtig er mit dieser Annahme liegt, wird nur Sekunden später klar, als Norbert Denef, der Vorsitzende des „Netzwerks Betroffener von sexualisierter Gewalt“ nach vorne vor die Bühne stürmt. „Es ist ein Lügentheater!“ brüllt er. Nicht Mertes habe das Schweigen gebrochen, sondern die Opfer. Hier auf dem Kirchentag würden die Opfer wieder einmal zum Schweigen gezwungen. „Sie haben versagt, treten Sie ab!“, fordert der Opfervertreter.

An der Bühne beginnt ein wildes Durcheinander. Kameraleute stürzen nach vorn und bilden einen Pulk um den Mann mit Nickelbrille und Anzug. Die Moderatorin Johanna Holzhauer ist augenscheinlich verunsichert, die Sicherheitskräfte sind es ebenso. Was tun? Der Mann ist ein Störenfried, aber haben Opfer nicht vielleicht das Recht zu stören? Laut und ungemütlich zu werden, gar unverschämt?

Klaus Mertes entscheidet, sich zumindest kurz auf eine Diskussion mit dem Mann einzulassen. „Ich gebe Ihnen vollkommen Recht, nicht ich habe das Schweigen gebrochen, sondern die Opfer“, antwortet der Pater. „Das, was Sie sagen, muss ich jetzt aushalten“, fährt Mertes fort.

An Denef gewandt sagt der katholische Pater: „Aber auch als einer, der versagt hat, darf ich sprechen. Ich bin Ihnen schuldig, zu sprechen.“ Er stehe hier als Vertreter der Institution Kirche – und andere Opfer hätten den Wunsch und auch das Recht, mit Vertretern dieser Institution zu sprechen. Mertes ist ein ruhiger, väterlicher Typ; ein Mann, dem viele in der Halle seine demütige Haltung abnehmen.

Der Vorrang der Opferperspektive, sagt er weiter, sei vom Evangelium her ganz klar – aber diese Perspektive sei sehr schwer einzunehmen. Wenn Opfer anfangen würden zu sprechen, ende das meist in einem Konflikt. „Die Armen sind nicht die Netten! Aber in ihrer Stacheligkeit haben sie der Kirche etwas zu sagen. Die Opfer müssen nicht Recht haben, aber wenn die Kirche nur zuhört und versucht, von oben herab zu helfen – dann wird sie nicht hören, was der Geist ihr heute zu sagen hat.“

Die Frage nach den Opfern ist zentral, da sind sich alle Podiumsteilnehmer einig. So sagt Bischof Stephan Ackermann gleich in seinen ersten Worten: „Ich bin erschrocken über den Verlauf der Veranstaltung. Der Mann (Norbert Denef, Anm. d. Red.) hat doch Recht: Wir sprechen über Institution. Ich habe das Gefühl, dass die Opfer aus dem Blick geraten.“

Weiter lesen…