Hamburger Abendblatt 15.05.2010

Erhitzte Debatte auf dem Ökumenischen Kirchentag. „Nichts gesehen, nichts gehört, nichts gesagt“

Von Volker ter Haseborg

München. Der Mann schreit, er ist außer sich. „Lügentheater!“, brüllt er. „Wir werden zum Schweigen gebracht!“ Und: „Wir wollen uns selbst vertreten!“ Norbert Denef steht vor der Bühne, auf der eine Diskussion stattfinden soll. Der Titel: „Nichts gesehen, nichts gehört, nichts gesagt – Missbrauch in der katholischen Kirche“.
Norbert Denef aus Scharbeutz ist ein Missbrauchsopfer in der katholischen Kirche. Er wurde in den 50er- und 60er-Jahren als Teenager im Bistum Magdeburg von einem Priester und einem Kirchenmitarbeiter sexuell missbraucht, jahrelang. Mittlerweile ist er Sprecher des „Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt“. Er will, dass die Diskussion abgebrochen wird, weil Opfer sexuellen Missbrauchs nicht mitdiskutieren dürfen. Eine halbe Stunde brüllt er gegen die laufende Veranstaltung an, Mitglieder seines Netzwerks legen Porträts von Missbrauchsopfern auf den Boden der Münchner Messehalle. Denef hält ein Schwarz-Weiß-Bild von sich hoch – ein Foto aus der Zeit, als er Ministrant war und missbraucht wurde. Pfadfinder sammeln die Zettel schnell wieder ein, Denef beendet seine Aktion schließlich. Freiwillig.
Es war klar, dass die Missbrauchsdebatte am Freitag der emotionale Höhepunkt des Ökumenischen Kirchentags in München werden würde. Durch den Eklat wird die Stimmung zusätzlich angeheizt. Nachträglich hatten die Organisatoren die Diskussion über Missbrauch ins Programm genommen, zu groß war der Druck der Basis. Die größte Halle der Münchner Messe ist voll, 6000 Menschen sind gekommen. Auf dem Podium steht Pater Klaus Mertes. Wenn es nach Margot Käßmann einen zweiten Star des Kirchentags gibt, dann ist es Mertes, der Rektor des Berliner Canisius-Kollegs. Er war es, der durch die Veröffentlichung der Missbrauchsfälle an seiner Schule zu Jahresbeginn die Debatte um Missbrauch auslöste.
Und wenn es einen Buhmann gibt an diesem Freitagmorgen, dann ist es der Trierer Bischof Stephan Ackermann, der von der Bischofskonferenz zum Beauftragten für die Aufklärung der Missbrauchsfälle bestimmt wurde. Es sitzen zwar noch andere Menschen oben auf dem Podium, aber im Prinzip kann man den Riss, der durch die katholische Kirche geht, mit den Positionen von Mertes und Ackermann erklären. Mertes will die Krise für eine Fundamentalreform der Kirche nutzen – so wie die aufgebrachte Menge im Saal. Ackermann darf sich von dieser Reformstimmung nicht anstecken lassen.
Was muss die katholische Kirche tun? Mertes fordert, die Frage nach den Machtstrukturen in der katholischen Kirche zu stellen: „Wir brauchen einen innerkirchlichen Diskurs, in der abweichende Meinungen nicht als unkatholische gelten und disziplinarische Konsequenzen haben“, sagt er. In der Halle bricht lauter Jubel aus. Mertes kritisiert, dass es eine sehr laut auftretende Minderheit gebe, „die das Katholische ganz für sich monopolisiert“. Er ruft unter dem Jubel der Zuhörer: „Wir haben in den vergangenen 20 Jahren einen Personenkult für Amtsträger in der katholischen Kirche entwickelt, den ich für missbrauchsfördernd halte.“
Angesteckt vom Mut des Jesuiten spricht sich auch Wunibald Müller auf dem Podium für Reformen aus. Müller leitet das Recollecitio-Haus in der Benediktinerabtei Münsterschwarzach, ein Therapiezentrum für Priester in Krisen. Müller fordert „eine Erweiterung der Priesterschaft durch Frauen“ und das Ende des Zwangszölibats. Die Besucher klatschen begeistert.
Es ist klar, dass Bischof Ackermann es schwer hat. Er ist ein Amtsträger, er muss seine Kirche verteidigen. „Ich bin erschrocken über den Verlauf der Veranstaltung, weniger über die Störung als über die Statements zum Thema“, empört er sich. „Laufen wir bitte nicht Gefahr, dass die Opfer aus dem Blick geraten über andere politische Themen.“ Das Publikum reagiert wütend, es wittert einen Ablenkungsversuch. „Buh!“, „Pfui!“ schallt es Ackermann entgegen, Pfiffe gellen durch die Halle.
Erst in den 90er-Jahren offenbarte sich Norbert Denef seiner Familie, zeigte seine Peiniger an. „Wir Opfer wollen auf Augenhöhe verhandeln“, sagt er dem Abendblatt. Das habe er mit seiner lauten Protestaktion bezwecken wollen. Bischof Ackermann habe er kurz nach der Diskussion abgepasst und ihn an ein Versprechen erinnert: „Er hat mir versprochen, dass die Opfer einen Platz am runden Tisch zum Missbrauch bekommen“, sagt Denef. An dem Tisch saßen Regierungsvertreter, Kirchenleute und Verbandsvertreter – aber keine Opfer.

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