Der Autor dieses Buches „Ich wurde sexuell missbraucht“ wurde im Alter von 10 bis 18 Jahren in den Jahren 1958 – 1964 von einem katholischen Pfarrer und danach bis 1967 von einem Kirchenangestellten regelmäßig missbraucht. Schwer traumatisiert schaffte er es erst 35 Jahre später, erstmals darüber zu sprechen. Heute betreibt er Öffentlichkeitsarbeit und gründet ein Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt: http://netzwerkb.org

Wie konnte es zu diesem Missbrauch kommen?

1.    Der erste Täter, Pfarrer Kamphusmann, war zum damaligen Zeitpunkt in Kirchenkreisen bereits wegen sexueller Delikte mit Kindern bekannt. Statt ihn vom Dienst zu suspendieren, hat man ihn aber immer wieder an andere Orte versetzt: von Halle nach Droyßig, Delitzsch, Nordhausen, Langenweddingen, Hecklingen, Wittenberg Peisteritz und Niedertiefenbach. Dies war und ist gängige Praxis innerhalb der Kirchen, sich eines Problems zu entledigen. Es kommt für die Kirchen nicht darauf an, ob jemand eine Straftat oder auch eine von den Kirchen verbotene Tat begangen hat, es kommt darauf an, ob diese Tat auch öffentlich bekannt wurde. Erst dann wird der Täter sein Amt verlieren. So lange seine Tat nur im engen Kirchenkreis bekannt bleibt, wird – außer Versetzungen – nichts unternommen. Dazu passt auch die ablehnende Aussage eines Pfarrers aus Delitzsch, den Herr Denef um Hilfe bat. Dieser Pfarrer antwortete ihm, er sei verpflichtet, Schaden von seiner Gemeinde fernzuhalten. „Ich will und kann Sie dabei nicht unterstützen.“

2.    Die Täter haben, bis auf eine Versetzung, kaum etwas zu befürchten. Die Straftat wird aufgrund des Kirchenrechtes nicht beim Staat angezeigt. Somit können die Täter unbekümmert an einem anderen Ort weitere Kinder missbrauchen. Die Opfer trauen sich nicht, darüber zu reden und eine Anzeige ist kaum zu befürchten.

3.    Die Kirchen setzen alles daran, diese Taten nach außen zu vertuschen. Ein idealer Nährboden für Straftaten! In dem vorliegenden Fall versuchte das Bistum Magdeburg, das Opfer mit einem Betrag von 25.000 € zum Schweigen zu bringen. Der Betrag sollte zurück gezahlt werden müssen, falls das Opfer die Schweigeklausel bricht.

4.    Kirchenhörige in der Gemeinde, die auf einen Missbrauchsfall aufmerksam werden, geben dem Opfer keine Unterstützung, da sie der Meinung sind, das würde ihrer Gemeinde schaden. Selbst Familienangehörige sind dann, wenn ihnen die kirchlichen Dogmen erfolgreich verinnerlicht wurden, nicht unbedingt bereit, zu helfen. So musste Norbert Denef die Erfahrung machen, dass sich seine Familie nach seinem Outing von ihm abwendete. Er musste sich anhören: „Du hast nun so lange geschwiegen, da hättest du für den Rest deines Lebens auch noch dein Maul halten können.“

5.    Insbesondere Kinder aus nicht so behüteten Elternhäusern scheinen ein leichtes Opfer für kirchliche Vertrauenspersonen zu sein. Zuneigung, die sie zu Hause nicht bekommen, erhalten sie von Personen in ihrer Kirchengemeinde. Insbesondere Priester / Pfarrer wissen schon durch die Beichte viel über die Lebensumstände dieser Kinder, über ihre Sehnsüchte und Wünsche, über die sie sich dann Zugang zu ihnen verschaffen. So schreibt auch der Autor des vorliegenden Buches: „Ich war 10 Jahre alt und stolz darauf, nun endlich Messdiener zu sein, … Am Morgen eines sonnigen Wochentages zelebrierte Pfarrer K. die heilige Messe. Nach dem Gottesdienst nahm er mich mit in seine Wohnung. …“ – Zum Kirchenangestellten: „Als begeisterter Chorsänger wurde ich freundschaftlich in den Kreis der Jugendlichen aufgenommen, die immer beim Kirchenangestellten ein- und ausgingen. Ich fühlte mich sehr wohl und glaubte ihm, zum ersten Mal in meinem Leben, in ihm einen richtigen Freund gefunden zu haben. Da er dafür gesorgt hatte, dass Pfarrer K. versetzt wurde, hatte ich volles Vertrauen zu ihm. …“

6.    Staatliches und öffentliches Desinteresse, Verjährungsfrist: Ein Kriminalbeamter, mit dem der Geschädigte nach der Verjährungsfrist über die sexuellen Übergriffe sprach, antwortete, der könne die Täter zwar anzeigen, aber viel Zweck würde das nicht haben. Norbert Denef wollte, nachdem er den sexuellen Missbrauch in seiner Familie bekannt gegeben hatte, auch öffentlich darüber sprechen können. Resigniert musste er aber feststellen: „Niemand hatte ein Interesse daran, dass ich mein Schweigen brach.“

7.    Trotz der traumatisierenden Erfahrungen können die Opfer auch langfristig von ihren Peiniger psychisch abhängig bleiben. Menschen neigen dazu, „in Zwangs- oder Abhängigkeitssituationen  ethisch bedenkliche Handlungsweisen von Autoritäten zu relativieren und eine Schutzhaltung für sich zu entwickeln. Dies gilt insbesondere für Familien“ – oder eben auch Kirchenkreise – „… in denen auch gewalttätiges Verhalten von den eigenen Angehörigen oft toleriert oder im Nachhinein abgestritten wird, um sich selbst nicht weiter in Gefahr zu bringen oder den eigenen Selbstwert nicht zu verlieren. … Die emotionale Nähe zum jeweils emotional stärksten Mitglied einer sozialen Gemeinschaft hängt eng mit dem Überlebenstrieb des Menschen zusammen und wird häufig auch nach dem  Ende einer solchen Beziehung unbewusst verdrängt.“ http://de.wikipedia.org/wiki/Stockholm-Syndrom  So ist es zu erklären, dass sich Herr Denef noch Jahre später von seinem Peiniger hat trauen lassen.

Das Buch „Ich wurde sexuell missbraucht“ hat jetzt in einer Zeit, in der noch viele andere Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen bekannt geworden sind, eine besondere Bedeutung bekommen. Nach jahrzehntelanger Maulkorbpolitik sind nun auch mal die Medien bereit, über diese Problematik zu berichten und damit das Schein-Image der Kirchen als Moralapostel Nr. 1 in diesem Land bröckeln zu lassen.

Wie können die Kirchen heute noch so viel Gewalt ausüben, in der Zeit des Internets, wo wir alle doch so viele Informationen bekommen und hinreichend aufgeklärt sein sollten?

1.     Deshalb, weil sie einfach noch zu viel Unterstützung bekommen. Auch viele Geschädigte unterstützen die Kirchen noch mit ihren Steuern und mit ihrer Mitgliedschaft, die für unsere Politik ein Gradmesser dafür ist, dass es noch genug Menschen gibt, die wohl den Willen der Kirchen teilen und bei den nächsten Wahlen für die Partei stimmen, die am meisten Hand in Hand mit den Kirchen geht.

2.     Nach wie vor darf offenbar nicht über Sachverhalte gesprochen werden, die die Kirche in irgendeiner Weise in Frage stellen. Die drei großen „V“ – Verschweigen – Verleugnen – Vertuschen spielen dabei eine große Rolle.

Das ist das Einzige, wovor sich die Täter fürchten: Dass darüber gesprochen wird.

Alle Betroffenengruppen von kirchlicher Gewalt und Bevormundung sollten jetzt die Chance öffentlicher Aufmerksamkeit gemeinsam nutzen  – die Opfer von jahrelang vertuschter direkter Gewalt von Kirchenfunktionären innerhalb und außerhalb von Heimen, Priesterkindern und auch  andere Opfern der viel zu engen Staat-Kirche Politik, wie z.B. homosexuelle und transsexuelle Menschen, ungewollt kinderlose Paare, die sich wegen des so genannten deutschen Embryonenschutzgesetzes ihren Kinderwunsch im Ausland erfüllen müssen und auch Menschen, die in diesem Land trotz ihres starken Leidens keine Sterbehilfe bekommen.

Eine erste Gelegenheit zur Solidarität gibt es am 15. April 2010 in Berlin auf der Demonstration der Heimkinder aus kirchlichen Kinderheimen: „Jetzt reden wir“   http://jetzt-reden-wir.org/

Beate Turner