Vor 41 Jahren, fast 42, hat mein Leben schon ziemlich chaotisch begonnen; meine leibliche Mutter hatte schon 2 Söhne aus erster Ehe bevor dann mein Zwillingsbruder und ich geboren wurden. Die beiden Älteren waren bei ihrer Mutter (also bei der Großmutter) und unsere Mutter lebte irgendwie mit unserem Vater, sie verschwand aus unseren Leben da waren wir etwa 1/2 Jahr alt. Unser Vater nahm die 2 Jungs zu sich und war dann mit uns 4 Kindern unterwegs von Nord-nach Süddeutschland, ohne festen Wohnsitz und auf „strafbaren Wegen“.
Das ging ca.1,5 Jahre so, dann wurde er mit uns von der Polizei aufgegriffen, er wurde der Haftanstalt zugeführt, die beiden Älteren kamen wieder zur Oma und mein Zwilling und ich kamen als 2-jährige ins Kinderheim. Dort verbrachten wir ca. 2 Jahre.
Hier ist zu erwähnen, dass damals die Kinderheime nicht darauf aus waren, Kinder zu vermitteln, denn je besser das Heim belegt war, desto mehr Zuschüsse gab es vom Staat.
Meine Meinung dazu ist, dass so etwas wirklich schlimm ist, wenn das Geld vor den Kindern steht. Als wenn diese nicht schon genug in ihrem jungen Leben erlebt hatten. Doch anstatt dass das Wohl des Kindes an erster Stelle steht, ist erst einmal das Geld wichtiger.
Am Ort aber gab es eine Familie, die versuchte für viele Kinder neue Familien zu finden, wie es ihnen möglich war. Sie luden Kinder über das Wochenende ein, oder in den Ferien, und versuchten dann diese an Familien zu vermitteln. Selbst haben sie auch ein Kind angenommen.
Mein Zwilling und ich kamen auch zu dieser Familie und wurden durch diese vermittelt. Okay, die Methode finde ich heute irgendwie nicht so toll und löst auch unschöne Gefühle und Gedanken in mir aus, denn laut meinen Informationen wurden wir über die Zeitung vermittelt.
In der Anzeige lautete der Text wie folgt:
“Niedliches Zwillingspärchen in gute Hände abzugeben!“
Ähnliche Anzeigentexte kenne ich von dem Tiermarkt, wie z.B. bei einem Wurf Welpen…
Wenn ich heute daran denke, dann finde ich das einfach nur entwürdigend….
Wir kamen wir gemeinsam in eine Pflegefamilie. Was für ein Glück…
Heute frage ich mich allerdings ob das wirklich Glück für mich war, denn hier geschah dann der Missbrauch an mir durch den Pflegevater, dessen Vater und durch einen Bruder der Pflegemutter. Erinnerungen durch den Missbrauch vom „Großvater“ und „Onkel“, sind vorhanden. Von dem Missbrauch durch den Pflegevater weiß ich durch die Aussage der Pflegemutter. Sie sagte mir, ich hätte es ihr damals einmal erzählt und darauf hin hätte sie ihm die „Hölle“ heiß gemacht. Nur schade, dass dies wohl nicht besonders wirksam war, und auch ich nichts davon mitbekommen habe.
Ich muss so sieben oder acht Jahre gewesen sein, da fuhr die Pflegemutter auf Übernachtungsbesuch zu Verwandten ins Rheinland und nahm unsere jüngeren Brüder mit. Am Abend vor dem Fernseher bekam ich vom Pflegevater Fanta mit Wodka gemischt und ich durfte auch bei ihm schlafen. Am nächsten Tag beschwerte mein Zwilling sich bei der Pflegemutter, das nur ich beim „Papa“ hätte schlafen dürfen. Er war immer der jenige von uns Beiden, der immer wieder die körperliche Nähe suchte. Er benötigte viel mehr Aufmerksamkeit, während ich lieber unscheinbar blieb.
Das fand er einfach ungerecht, da er nicht allein hatte schlafen wollte.
Aber auch hier wurde die Pflegemutter nicht hellhörig, oder aber sie wollte es nicht. Ich weiß es nicht.
Doch meines Erachtens hätte sie schon lange viel achtsamer sein müssen. Wäre sie aufmerksamer gewesen, dann hätte sie bemerkt was da vor ihren Augen geschieht und sie hätte mich beschützen können vor den Männern ihrer Familie.
Da aber nichts geschah, so konnte ich mir auch selbst nicht mehr helfen und so nahm alles seinen Lauf.
Missbrauch durch den Pflegevater und dessen Vater (ca. vom 4.-14. Lebensjahr).
Irgendwann kam die Scheidung der Pflegeeltern, da haben wir dann erfahren, dass wir aus dem Heim sind. Das war sehr heftig. Es gab sehr viele Intrigen, Drohungen und Erpressungen von Seiten des Pflegevaters, und irgendwie spielten wir da eine wesentliche Rolle.
Ich habe die Jahre des Missbrauchs sehr gut verdrängt, bis nun vor 5 Jahren alles hoch kam, Albträume, Flashbacks, daraus eine Essstörung (Anorex.), Schlafstörungen, Ängste.
Es begann, als meine Beziehung in die Brüche ging, für mich aus heiteren Himmel; ja die Trennung war der Auslöser für all den Dreck, aber ich denke es wäre irgendwann eh auf mich zugekommen.
Mittlerweile sind sehr viele Erinnerungen da, und es kommen immer wieder welche. Es ist zum verrückt werden.
Seit nun 2005 bin ich einer ambulanten Traumagruppe angeschlossen. In dieser Gruppe und mit Hilfe meiner Therapeutin, bin ich heute soweit, dass ich über den Missbrauch reden und auch schreiben kann.
Aufgrund der Folgen bin ich seit 3 Jahren berentet und kann meinem Beruf nicht mehr nachgehen.
Zwei Jahre war ich auf Zeit berentet und seit 11.2009 bin ich unbefristet berentet.
Das bedeutet für mich, dass ich finanziell nicht mehr so abgesichert bin wie ich es einmal war… Ein weiteres schweres Problem was auf die Betroffenen zukommt und das Leben schwer macht.
Die Betroffenen haben lebenslänglich!
Zur Zeit schreibe ich an einem Buch über mein Leben mit und nach dem Missbrauch.
Für mich ist die Zeit gekommen, das Schweigen zu brechen…
Ich will an die Öffentlichkeit gehen und die Verjährungsfrist angehen, denn sie ist eine große Ungerechtigkeit.
Sie schützt die Täter, aber nicht die Betroffenen.
Von daher plane ich eine Demo mit Betroffenen und Angehörigen vor dem BGH!
Dagmar Hallerbach
Hallo Frau Hallerbach,
heute habe ich mit einer Kollegin über die Situation von Pflegeeltern und Pflegekindern gesprochen und da fiel mir auf, daß ich Ihren Beitrag kommentieren wollte.
Was Sie aus Ihrem Leben schildern ist gleichzeitig furchtbar und typisch. Gerade die Kinder aus „dysfunktionalen“ Familien bräuchten besonders integere „Ersatzeltern“ und finden nicht selten das Gegenteil. Und Leute, die sich entschließen, Pflegekinder aufzunehmen, werden immer noch zu wenig begleitet und überprüft. Damals wie heute.
Auch Ihre Beschreibung Ihrer weiteren Bearbeitung, die lange Zeit des Verdrängens und darauf folgende massive gesundheitliche Probleme ist absolut typisch.
Ich habe lange überlegt, ob ich Menschen kenne, die sexuell misshandelt wurden und das im landläufigen Sinne „gesund“ überstanden haben und muß sagen „nein“. Dabei ist Übergriffigkeit ja weit verbreitet.
Ich kenne aber recht viele betroffene Menschen, die einen Zusammenhang von Übergriffen und eigener Erkrankung leugnen.
Und solche, die selbst zu Tätern geworden sind. Ich kann sie nicht immer als „krank“ bezeichnen, aber sie sind in die Rolle des „Krankheitsauslösers“ geschlüpft und ich sehe sie als sozial auffällig an.
An die Öffentlichkeit, so wie Sie, geht nur ein Bruchteil der Betroffenen und das vermehrt erst in der jüngsten Vergangenheit. Die meisten ziehen es vor, sich bedeckt zu halten.
Es entsteht so mancherorts der Eindruck, es sei „Mode“ sich als Betroffener zu outen.
Das ist eine absolute Fehlannahme.
Ich schätze, daß der Anteil der sexuell misshandelten Pflegekinder ähnlich hoch ist, wie der Anteil der sexuell misshandelten weiblichen behinderten Menschen – er dürfte bei 50 Prozent liegen.
Ob es darüber Studien gibt, weiß ich nicht, bin aber für Hinweise dazu dankbar.
Ich hoffe, daß Ihr Buch bald erscheinen kann und das es Ihnen gelingt die Demonstration zu organisieren.
Mit freundlichen Grüßen,
Angelika Oetken, Berlin