Frankfurter Allgemeine Faz.Net 14. März 2010
Ich bin unehelich geboren und habe meine gesamte Kindheit in Heimen verbracht. Zuerst war ich in einem katholischen Heim, da gab es eine Nonne, die mich wie eine Mutter geliebt hat. Sie hat immer gesagt: „Wenn ihr mir meinen Uwe nehmt, geh‘ ich weg von hier.“ Man wollte mich damals in ein evangelisches Heim verlegen, weil man dachte, ich sei evangelisch. Dabei war ich gar nicht getauft, wie sich später herausstellen sollte.
In diesem ersten Heim war längst nicht alles gut, ich bin dort geprügelt und mit harter Hand geführt worden. Aber es gab auch Belohnung für gutes Verhalten, und diese Nonne, das weiß ich heute, hat mir das Leben gerettet. Sie ist erst vor vier Jahren gestorben, ich hatte bis zuletzt Kontakt zu ihr. Wenn ich ihre Liebe und meinen durch sie angelegten Glauben an Gott nicht gehabt hätte, hätte ich mich schon lange umgebracht.
Denn als ich dreizehn war, begannen die schlimmsten Jahre meines Lebens. Ich wurde tatsächlich in ein anderes Heim verlegt, nämlich in das evangelische Knabenheim Westuffeln im westfälischen Werl. Heute heißt die Einrichtung „Von Mellin’sche Stiftung Kinder- und Jugendhilfe Westuffeln“, und es gibt inzwischen eine Liste mit den Namen von mehreren Mitschülern, die sich dort gemeldet haben und die das Gleiche mitgemacht haben wie ich. Am Mittwoch hat die Bischöfliche Kommission zur Prüfung von Fällen sexuellen Missbrauchs im Bistum Aachen getagt und unter anderem auch über meinen Fall gesprochen.
Jede Nacht musste ein anderer Junge ins Zimmer des Erziehers
Ich selbst war im vergangenen Jahr in Werl und bin mit dem jetzigen Heimleiter durch das Haus gegangen, an die Stätten meiner Kindheit. Im Erdgeschoss waren damals die Aufenthaltsräume und darüber die Schlafsäle. In einem grauen Nebengebäude war eine Heimschule untergebracht. Es gab zwei Gruppen, eine für die größeren Jungen wie mich und eine für die kleineren Kinder, unter denen sich auch einige Mädchen befanden. In unserer Gruppe waren wir ungefähr dreißig Jungen im Alter zwischen elf und vierzehn Jahren, wir schliefen in einem großen Schlafsaal mit Doppelstockbetten. Alles darin war dunkelbraun und schummrig. Das Zimmer unseres Erziehers lag direkt daneben und war durch eine Durchreiche mit unserem Raum verbunden.
Das heißt, der Mann konnte uns ständig beobachten. Er war ein Brocken von einem Kerl, etwa 35 bis 40 Jahre alt, mit Händen wie Tatzen und einer Nase in Erdbeerform. Er war Diakon, also ein Mitarbeiter der evangelischen Kirche mit theologischer Qualifikation, und von den Von-Bodelschwinghschen Anstalten Bethel ähnlich einem Leiharbeiter zum Dienst nach Werl entsendet worden – ein damals üblicher Vorgang. Auch der Heimleiter stammte ursprünglich aus Bethel.
In den ersten Wochen meines Aufenthaltes in dem Heim beobachtete ich, wie jede Nacht ein anderer Junge in das Zimmer des Erziehers gerufen wurde. Sie blieben etwa eine halbe Stunde drinnen, und viele weinten, wenn sie herauskamen. Unser Jüngster, Wolfgang, war erst elf, er kam eines Nachts vor Schmerzen schreiend und mit blutendem Penis heraus. Wir alle eilten an sein Bett, um ihn zu trösten. Ich hatte keine Ahnung, was mit ihm passiert sein könnte, aber ich spürte eine große Angst in mir. Wolfgang ist später Polizist geworden, und als ich letztes Jahr zu Besuch in dem Heim war, hat mir der neue Heimleiter erzählt, dass er sich umgebracht hat. Mehrere meiner Mitschüler haben Selbstmord begangen. Ich glaube, dass es wegen des Missbrauchs war.
Lieber Uwe,
Am Ende des Artikels sagen Sie, daß Sie finden, daß Ihre Seele schon in Ihrer Kindheit zerstört wurde.
So, wie Sie sich in Ihrem Bericht beschreiben, stelle ich mir einen warmherzigen, an sich kontaktfreudigen Menschen mit einer guten Seele vor, bei dem viele Perspektiven und Chancen für seinen Lebensweg zerstört wurden.
Ihre Schilderung, daß Sie die Nähe von anderen Menschen nicht ertragen, kann ich aus eigener Erfahrung gut nachvollziehen. Mir geht es ähnlich. An sich bin ich ein aufgeschlossener Mensch, aber ich halte wegen schlechter Erfahrungen andere Menschen lieber auf Distanz.
Das Schlimme daran ist, finde ich, daß diese Eigenschaft aus einer Reaktion auf Etwas entsprungen ist, wofür man nichts kann und worauf man als Kind auch keinen Einfluß hatte. Es ist einzig und allein die Folge der sexuellen Misshandlung und hat mit den eigenen Bedürfnissen und dem eigentlichen Charakter nichts zu tun.
Trotzdem haftet man lebenslänglich für die Folgen.
Während die Verantwortlichen ungeschoren davon kommen.
Ich finde, daß Sie stolz auf sich sein können, weil Sie im Gegensatz zu den Menschen, die Sie gequält haben, den Willen und die Überzeugung hatten und haben, trotz aller Beschädigungen und des erlittenen Unrechts das Negative nicht an andere Menschen weiterzugeben.
Nicht wenige sexuell Misshandelte können und wollen das nicht, sondern werden selbst zu Tätern.
Die „zerstörten Seelen“ hatten auf jeden Fall die Menschen, die Sie misshandelt und gedemütigt haben.
Der Pfleger mit der „Erdbeernase“ war vermutlich schwer alkoholkrank, so wie Sie ihn beschreiben. Ich glaube nicht, daß die Verantwortlichen der Organisation „Bethel“ zu naiv waren, um zu erkennen, daß dieser Mann für seine Arbeit vollkommen ungeeignet war. Sie waren einfach feige und verantwortungslos.
Die wesentlichsten christlichen Tugenden hatten diese Verantwortlichen offenbar nicht – aber die am meisten verbreitete Eigenschaft bei dem „typischen“ christlichen Würdenträger der damaligen Zeit- Ignoranz und Bigotterie.
Entsetzlich, daß man Sie damals so im Stich gelassen hat.
Ich wünsche Ihnen, daß Sie Anschluß an andere Menschen finden, die zu Ihnen passen und die Ihnen bekommen.
Auf jeden Fall werden sich bestimmt nach diesem Artikel einige ehemalige „Kinderknastkameraden“ bei Ihnen melden.
Vielleicht wird es ja durch die Veröffentlichung für Sie auch leichter, die Finanzierung einer Traumatherapie durchzusetzen.
Ich wünsche Ihnen alles Gute,
Angelika Oetken, Berlin
Liebe Angelika,
vielen dank für deinen kommentar, er hat mir sehr gut getan. Einfach, DANKE!!! Gruss Uwe
Lieber Uwe,
während des Lesens deines Berichtes habe ich sehr weinen müssen. Aus deiner Schilderung der Ereignisse von damals spricht so viel Verzweiflung, Leid und Hilflosigkeit. Es ist, als würde mein Lebensgefährte neben mir sitzen und wieder einmal versuchen, mir von seinen Erlebnissen zu berichten. Er hat, bis auf ganz wenige Momente, nie einen Ton herausbekommen. Auch er hat so viele Male gesagt: „Ich bin tot; ich bin vor über dreißig Jahren schon gestorben. Da haben sie meine Seele getötet.
Ich wünsche dir alle Kraft der Welt und sei herzlich gegrüßt
Gaby Pypker
Lieber Uwe,
Habe die erschütternden Kindheitserlebnisse mit grosser Traurigkeit gelesen.
Besonders nachempfunden habe ich diese Sätze:
„Mir wurde die Chance genommen, eine Familie zu gründen. Zwei Jahre waren die längste Zeit, die ich je mit einem Menschen zusammen war. Ich kann mich nicht binden, weil ich die Nähe zu anderen Menschen nicht ertrage. Nun bin ich vollkommen einsam und lebe von Arbeitslosengeld. Ich weiß genau: An meinem Grab wird niemand stehen – weil es solche perversen Gottesdiener geschafft haben, meine Seele schon in meiner Kindheit zu zerstören.“
Auch dieser Satz von Gaby, könnte auch von mir stammen: “Ich bin tot; ich bin vor über dreißig Jahren schon gestorben. Da haben sie meine Seele getötet.“
Viele Paralellen aus meiner Kindheit wurden wieder wach. Es war die Zeit in den 50er bis Anfang 60er Jahre. Da war ich zwischen 9 und 13.
Während 4 Jahren wurde ich von meiner Mutter in einer sogenannten Waldschule untergebracht. Unser Schläger, sprich Heimleiter war gleichzeitig unser Schullehrer. Bei jeder Kleinigkeit sah er sich bemüssigt uns eine runterzuhauen.
Mal abgesehen vom Heimleiter muss ich sagen, dass diese Waldschulzeiten, die schönsten Jahre meines Lebens waren. Die anderen Pädagogen dieser Institution haben sich Gottseidank korrekt benommen. Streng, gerecht und liebevolle Erziehung kamen uns zu Gute.
Jetzt fragt natürlich jeder: Wo sind die Paralellen zu Uwe?
Die Wochenenden und Schulferien durften wir zu Hause verbringen: Das war für mich die reinste Hölle! Meine geschiedene Mutter beherbergte verschiedene zwielichtige Freunde. Die hatten ihren perversen Spass, mich regelmässig zu sexuellen Handlungen zu zwingen. Das allerschlimmste: Meine Mutter wusste davon, sah sich aber ausserstande mich vor den Übergriffen zu schützen. Freunde durfte ich keine mit in unser Zuhause nehmen. Denn die Männer waren polizeilich gesucht, und das durfte niemand erfahren. Einmal nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, und drohte aufs Polizeirevier zu gehen. Das hatte zur Folge, dass sie mir die Konsequenzen vor Augen führten, die da hiessen: Wenn du uns verrätst, kommst du für den Rest deiner Kindheit in ein Heim, und wir ins Gefängnis. Das hat mich so eingeschüchtert, dass ich nie mehr wagte ein Widerwort auszusprechen. Dachte damals, es könnten im Heim noch schrecklichere Verhältnisse herrschen, als diese zu Hause schon sind.
Folge davon: Bindungsunfähig. Nähe zu anderen Menschen nicht ertragend. Nie geheiratet. Lebe alleine und zurückgezogen.
Auch ich wünsche dir alles erdenkliche Glück und dass du nicht komplett an deinen unglücklichen Erlebnissen zerbrichst.
Herzliche Grüsse Peter