von Eva Male (Die Presse)
Das Schweigen zu brechen sei unvorstellbar schwer, sagt Norbert Denef. Er „outete“ sich schon Anfang der 90er und wurde als erstes Opfer in Deutschland entschädigt.
Ich wurde sexuell missbraucht.“ Jahrelang musste Norbert Denef vor dem Spiegel üben, bis er diesen Satz über die Lippen brachte. Vorangegangen waren 35Jahre Schweigen: „Ich fühlte mich wie in Einzelhaft, glaubte, der Einzige auf der Welt zu sein, dem es so geht. Was man da durchmacht, ist eine innere Folter.“ Es liege an der „Genialität dieses Verbrechens“, dass man so unendlich schwer darüber sprechen könne. Da sind Scham, Schuldgefühle, die Angst vor den Konsequenzen und der Ausgrenzung, die Denef bis heute erlebt, im Beruf, in der Nachbarschaft.
Seit Kurzem lebt der nunmehr 61-Jährige mit seiner Frau in einem kleinen Ort nahe Lübeck. Im Moment ist Denef – wie schon so oft – aus psychischen Gründen krankgeschrieben. Immer noch begleitet ihn der Missbrauch – trotz „meiner geliebten Ostsee“, trotz der aufgeräumten Atmosphäre in dem Reihenhaus, das mit hellen Holzmöbeln und farbenfrohen Bildern eingerichtet ist. „Oft genügt ein bestimmter Geruch, ein Geräusch oder eine Person, und die Erinnerung an den sexuellen Missbrauch ist da, Tag für Tag und Nacht für Nacht.“
25.000Euro Entschädigung.Denef ist das wohl bekannteste Missbrauchsopfer Deutschlands: Er hat sein Schweigen schon relativ früh gebrochen, bereits 1993. Und er war der erste, der von der katholischen Kirche– trotz Verjährung – eine Entschädigungszahlung erhielt. Allerdings mit der Auflage, nicht darüber zu sprechen. Erst nach langem juristischen Kampf erreichte er die Aufhebung dieser „Schweigeklausel“. Über den erlittenen „Seelenmord“ zu reden ist für ihn zu einer Lebensaufgabe, zu einer Mission, geworden.
Von seinem zehnten bis zum 16.Lebensjahr wurde der Messdiener in der ostdeutschen Gemeinde Delitzsch vom Vikar sexuell missbraucht, nach dessen Versetzung zwei weitere Jahre von einem Kirchenangestellten, dem Organisten. Beide waren Freunde der Familie. Mit 40, als Denef in einer schweren Krise war, geplagt von Depressionen, Schlafstörungen, Schwindel, Herzklopfen, Aggressivität und Schwitzen, entschloss er sich zum Outing in der eigenen Familie. Inzwischen war er verheiratet, hatte zwei Kinder. Er, der damals schon jahrelang als Techniker am Theater arbeitete, „inszenierte das wie ein Stück. Ich musste die Rolle einstudieren, die geeignete Bühne wählen“. Zum alljährlichen Treffen mit den vier Geschwistern und deren Partnern am Todestag der Mutter lud er auch die beiden Täter. Er habe etwas Wichtiges zu sagen, kündigte er an. „Die dachten wohl, dass ich Krebs habe.“
Outing am Kaffeetisch. Was dann passiert, erinnert an den dänischen Film „Das Fest“ – „nur ist meine Geschichte noch besser“: Als Denef am Kaffeetisch den Missbrauch offen ausspricht, ist die Hölle los. „Wenn du so lange geschwiegen hast, hättest du den Rest deines Lebens auch noch dein Maul halten können“, wirft ihm die Schwägerin an den Kopf. Der Vikar schweigt, und der Organist wirft ein, es sei immer noch die Frage, „wer angefangen hat“. Bald wird Denef mit Frau und Kindern aus der Wohnung gedrängt – sie werden ihm in den kommenden Jahren eine wichtige Stütze sein. Von seiner Herkunftsfamilie jedoch wird Denef seither ausgegrenzt – „lebendig begraben, bis heute“.
Es dauerte lange, bis Denef seine „Sexualität und die damit verbundenen Gefühle zu ordnen“ begann. Im frühen Erwachsenenleben war da zunächst nur zwanghafter Sex, wie eine Sucht, deren Befriedigung erst recht Leere hinterlässt. Der Missbrauch hatte die Gefühle abgetötet: „Man kann das als Kind nicht verstehen und benennen. Es wird etwas zerstört, was noch gar nicht da ist.“ Zugleich erfolgt eine Abspaltung des Geschehenen, ähnlich wie beim Täter: „Ich zog mich danach wieder an, ging ministrieren und zu derselben Person beichten.“ Selbst trauen hat sich Denef später vom Vikar lassen. Trotz des Missbrauchs idealisierte er die Täter auf paradoxe Art noch eine lange Zeit, fühlte sich ihnen in besonderer Weise verbunden.
„Wir müssen lernen, uns mit den Opfern zu befassen“, sagt Denef heute. Debatten über den Zölibat („Der gehört sowieso weg“), mögliche Ursachen der Pädophilie, die Denef „Pädokriminalität“ nennt („Das hat mit Liebe nichts zu tun, ist auch keine Krankheit, sondern ein Verbrechen“), besseren Schutz der Kinder, strengere Eignungstests für Erzieher – all das seien nur Nebenschauplätze. Vielmehr pocht er auf die Beteiligung von Opfern an den runden Tischen, die Abschaffung der Verjährungsfrist, Änderungen im Strafrecht und neue Wege im Umgang mit Opfern, die keine Beweise haben. Finanzielle Kompensationen dürften keine Almosen sein: „Wenn Sie mir ein Bein abfahren, müssen Sie auch zahlen.“
„Jetzt eitert alles heraus.“ Im derzeitigen „Tsunami“ sieht Denef eine Riesenchance, immer mehr Opfer fühlten sich ermutigt, Missbrauch zu melden: „Der Druck wird so groß, dass die Gesellschaft nicht mehr wegschauen kann. Es ist bloß eine Frage der Zeit, bis alles herauseitert.“ Was derzeit ans Licht komme, ist laut Denef aber nur die Minispitze des Eisbergs. „Der geringste Teil findet in der Kirche, in diversen Gruppen, Sportvereinen etc. statt. Rund 90Prozent der Fälle passieren in der Familie.“ Auch heute noch müsse ein Kind, statistisch gesehen, zu acht Personen gehen, bis ihm jemand den Missbrauch glaubt.
(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 21.03.2010)
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