DER TAGESSPIEGEL 15.03.2010

Die Reformpädagogik hat keine Doppelmoral zu rechtfertigen – ganz anders als der Klerus. Der Schriftsteller Adolf Muschg über den Leiter der Odenwaldschule und die Missbrauchsdebatte in Deutschland.

Angesichts der Kampagne gegen Gerold Becker, den Leiter der Odenwaldschule von 1971 bis 1995, kommt mir die Bemerkung eines chinesischen Freundes in den Sinn: er begreife nicht mehr, wie die Kulturrevolution – an der er mitgewirkt hatte – menschenmöglich war. In den 60er Jahren gab es in Deutschland viele, welche diese Frage in Bezug auf das Dritte Reich stellten, und eine Pädagogik, die sie nicht nur mit moralischer Selbstzensur, sondern mit einer freien Praxis der Erziehung zu beantworten suchten. Auch die Odenwaldschule, damals schon 50 Jahre alt, wurde unter der Leitung Gerold Beckers Teil dieser praktischen Reform. Damals brauchte er seine Neigungen, die jetzt am Pranger stehen, nicht zu verleugnen. Die Grundlegung des „pädagogischen Eros“ findet sich in den Schriften Platons, die vom Körperlichen der Lehrer-Schüler-Beziehung durchaus nicht absehen.

War Sokrates ein Päderast? Eine solche Frage ist wie ein roher Griff, der jeden delikaten Stoff unkenntlich macht. Jedenfalls war Sokrates’ Eros der „Missbrauch“ nicht, für den er den Schierlingsbecher trinken musste. In den Augen der Politik verführte er junge Menschen zu gottlosen Fragen – und eröffnete damit einen zweitausendjährigen Diskurs der Aufklärung, der mit allem, was am Eros peinlicher Erdenrest bleibt, nicht aufgeräumt hat, und es, wenn er klug war, auch gar nicht versuchte. Das hat seine Gründe, die nicht im Missbrauch eines Einzelnen liegen, sondern im zwangsläufig Normwidrigen, das mit Sexualität verbunden ist. Erotik ist immer Grenzüberschreitung – es ist nur die Frage, ob sie uns willkommen ist oder nicht.

Dass die Reformpädagogik sie nicht tabuisierte, hat man ihr lange als Leistung gutgeschrieben. Sie hat versucht – ganz anders als die klerikalen Fälle von Missbrauch – keine doppelte Moral zu rechtfertigen, weil sie diese als Hindernis zu einer offenen Gesellschaft betrachtet, die mit ungelösten Fragen umgehen kann. Der Eros ist eine, die Menschen nicht theoretisch, sondern immer leibhaft begegnet, und restlos lässt er sich nicht zum „pädagogischen Eros“ sublimieren. Das gilt wahrlich nicht nur für Beckers Odenwaldschule, aber da er zu den Pädagogen gehört, die das Thema nicht verleugnet haben, ist er zum Boten geworden, den man heute für seine Botschaft hinrichtet, nachdem sie jahrzehntelang als befreiend gefeiert wurde. Das ist, angesichts der Realitäten, eine monumentale Heuchelei. Jugendschutz ist so etwas wie das Kerngeschäft der Korrektheit geworden in einer Gesellschaft, die darüber erschrocken ist, dass sie Sex ohne Grenzen zur Vermarktung freigegeben hat. Inzwischen werden überall wieder moralische Barrikaden aufgerichtet, auf die sich in sittenrichterlicher Heiligkeit steigen lässt. Leider haben sie mit der Sache, um die es geht, etwa so viel zu tun, wie die kolonialen Grenzen mit denjenigen indigener Kulturen oder mit dem Verlauf realer Topografie.

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