Norbert Denef erstritt von der katholischen Kirche 25 000 Euro als Entschädigung für sexuellen Missbrauch. Im Interview erklärt er, warum Opfer oft jahrzehntelang schweigen.

Von FOCUS-Online-Redakteurin Nina Baumann

FOCUS Online: Herr Denef, jeden Tag werden neue Fälle von Missbrauch in Einrichtungen der katholischen Kirche oder anderen Schulen bekannt. Als erstes Missbrauchsopfer in Deutschland erreichten Sie 2005, dass die katholische Kirche eine Entschädigung zahlte. Was war Ihnen zugestoßen?

Norbert Denef: Ich wuchs in einer katholischen Familie in Delitzsch bei Leipzig auf. Als ich 1959 mit zehn Jahren Messdiener wurde, freute ich mich: Der Vikar war sehr beliebt. Doch eines Tages nahm er mich nach dem Gottesdienst mit in seine Wohnung.
Er schloss von innen ab, zog mich auf seinen Schoß und knöpfte mir die Hose auf.

FOCUS Online: Was haben Sie getan?

Denef: Nichts. Ich habe nicht verstanden, was mit mir geschieht. Ich habe mich geschämt und gehofft, dass es vorbeigeht. Das eine Mal ging vorbei, doch es passierte immer wieder: sechs Jahre lang, mehrmals die Woche. Bis heute habe ich das Bild im Kopf, wie ich unter ihm liege und er mein Glied in seinem Mund hat.

FOCUS Online: Hat der Geistliche Sie bedroht, damit Sie schweigen?

Denef: Nein. Er hat nie ein einziges Wort gesagt. Er hat sich bedient, und ich habe geschwiegen. Viele wussten davon, aber niemand hat etwas gesagt. Der Mann ist 1998 gestorben, aber wenn man sich heute in Delitzsch nach ihm erkundigt, lieben ihn immer noch alle. Dabei gehe ich davon aus, dass er im Laufe seines Berufslebens an seinen verschiedenen Stationen insgesamt 100 bis 150 Kinder missbraucht hat.

FOCUS Online: Wie endete sein Missbrauch an Ihnen?

Denef: Als ich 16 war, kam ein Organist in unsere Gemeinde, der sorgte schließlich für die Versetzung …

FOCUS Online: … und beendete so Ihr Martyrium?

Denef: Für ein Vierteljahr. Plötzlich hatte ich gute Noten in der Schule, vorher war ich ein schlechter Schüler. Doch eines Abends wurde es spät, der Organist bot mir an, bei ihm zu übernachten – und kroch zu mir unter die Bettdecke. Der Missbrauch fing wieder an. Meine Schulnoten wurden wieder schlecht.

FOCUS Online: Sie waren mittlerweile fast 18. Konnten Sie bei diesem zweiten Fall mit jemandem reden?

Denef: Nein. Das glaubt Ihnen niemand. Ich habe 35 Jahre gebraucht, um das Schweigen zu brechen.

„Wer sich outet, wird in die Ecke gestellt“

FOCUS Online: Wie haben Sie es überhaupt geschafft?

Denef: Bis ich 40 war, habe ich ein Vorzeigeleben geführt: Ich habe geheiratet, zwei Kinder kamen, und ich habe gearbeitet.
Doch ich hatte immer wieder Phasen, in denen ich meine Familie tagelang angeschwiegen habe oder Wut und Hass auf sie empfunden habe. Einmal bin ich wie ein Irrer mit 240 Stundenkilometern aus dem Spanienurlaub nach Hause gefahren. Irgendwann war ich mit den Kräften am Ende und meine Frau zwang mich, etwas zu unternehmen. Da fing ich an, psychologische Bücher zu lesen und stellte fest: Es geht vielen so. Viele haben ein Problem damit, Kontakt und Nähe zuzulassen. Dass es um den Missbrauch ging, habe ich aber immer noch von mir weggeschoben.

FOCUS Online: Aber schließlich haben Sie auch das ausgesprochen.

Denef: Die Erkenntnis kam eines Nachts: „Das muss raus.“ Sofort habe ich den Gedanken verbannt. „Das geht nicht“, habe ich mir gleich wieder gesagt. Dann habe ich ein Jahr vor dem Spiegel geübt: „Ich wurde sexuell missbraucht.“ Ich konnte es zuerst nicht aussprechen. Irgendwann ging es. Es war der wichtigste Satz meines Lebens.

FOCUS Online: Wann haben Sie ihn zum ersten Mal vor anderen Leuten gesagt?

Denef: Das war 1993 bei einem Familienfest, zu dem ich auch die beiden Täter eingeladen hatte. Die Folge war: Die Täter werden weiterhin eingeladen, meine Frau, ich und die Kinder nicht mehr.

FOCUS Online: Haben Sie die Täter auch bei der Kirche angezeigt?

Denef: Das war ein langer Kampf. Die Kirche bot mir 2003 schließlich 25 000 Euro Entschädigung an – mit einer Klausel, die mich zum Schweigen verpflichtete. Ich werde aber nie wieder schweigen. Zwei Jahre kämpfte ich noch gegen die Schweigeklausel, dann erhielt ich die 25 000 Euro.

FOCUS Online: Zwölf Jahre, nachdem Sie den Missbrauch erstmals bei der Kirche bekannt gemacht hatten.

Denef: Mein Fall ist beispielhaft für viele. Wer sich outet, wird in die Ecke gestellt. Ich hatte noch Glück, weil ich gute Beweise hatte. Aber der Missbrauch ist ein Seelenmord; ich befinde mich immer noch in einem ständigen Überlebenskampf. Meine Geschichte zeigt, wie lange man braucht, bis man über Missbrauch reden kann. Deswegen muss die zivilrechtliche Verjährungsfrist für Missbrauch aufgehoben werden.

Quelle:

http://www.focus.de