stern.de 2.03.2010
Bei der Diskussion über Kindesmissbrauch – wie den jetzt bekannt gewordenen Fällen in der katholischen Kirche – entsteht manchmal der Eindruck, die Folgen der Gewalt könnten über die Jahre völlig verschwinden. Doch dem widersprechen nicht nur Psychiater, sondern auch neue medizinische Befunde.
Von Frank Ochmann
Gewalt an Kindern hinterlässt nicht nur seelische, sondern auch körperliche Schäden, die bleiben© Colourbox
Es ist noch nicht lange her, da war Kindesmissbrauch für die meisten in unserem Kulturkreis keine große Sache. So gingen die Autoren der millionenfach gelesenen „Kinsey-Reports“ von 1948 und 1953 davon aus, merklicher Schaden für das Kind durch sexuellen Verkehr mit Erwachsenen sei allenfalls zu befürchten, falls dessen Eltern sich anschließend irritiert zeigten. Nur kurzfristig seien bei einem Kind Symptome von Angst und Schrecken möglich, hieß es auch in anderen Studien. Davor vermuteten Wissenschaftler sogar, oft wären es die Kleinen selbst, die Erwachsene zum Sex verführten, nicht umgekehrt. Das Kind folge „unbewusstem Begehren“ und werde zum „mehr oder weniger willigen Partner“, hieß es zum Beispiel. Erst parallel zur Emanzipationsbewegung der Frauen und sexueller Minderheiten in der westlichen Welt wurde das Kind überhaupt als Opfer sexueller Gewalt entdeckt. Erst nach Pille, Mondlandung und Ostpolitik wuchs bei uns ganz allmählich das Bewusstsein für die hohe Zahl solcher Taten und ebenso für die traumatischen Folgen. Von „Seelenmord“ reden mit solchen Fällen vertraute Fachleute.
Und nein, Bischof Mixa, das bisher Gesagte stützt keineswegs Ihre an langen Haaren und Rastalocken herbeigezogenen Entschuldigungsversuche, mit denen Sie das Versagen der Hirten offenbar auf Ihnen sexuell zu freizügige „68er“ abwälzen möchten. Denn auch das sagen Experten: Nicht der Sex ist das Element des Missbrauchs, das die Seelen mordet, sondern die Gewalt, die den Opfern angetan wird, der oft über Jahre in die Wege geleitete Bruch des Vertrauens und das brutale Ausnutzen eigener Macht. Explizit sexueller Charakter liegt geschätzt nur in etwa einem von zehn Missbrauchsfällen vor. Doch immer ist die Misshandlung eine Vergewaltigung. Und die lässt sich nicht mit dem öffentlichen Zurschaustellen von ein paar nackten Brüsten oder Schenkeln mehr oder weniger erklären, wie es jetzt versucht wird. Missbrauch jeglicher Art gab es in kirchlichen Einrichtungen – richtig, nicht nur da! – auch schon zu Zeiten, als Oswald Kolle noch ein Kind war. Das zeigen zum Beispiel die Protokolle der irischen Fälle, die bis in die 1930er Jahre zurückreichen.
Auch die Gene tragen Schäden davon
Das Erlebnis der eigenen Ohnmacht und der übermächtigen Gewalt, die über die Opfer kommt, verletzt nicht nur deren Seele tief und bleibend. Bereits vor etwa einem Jahr veröffentlichten kanadische Wissenschaftler eine Untersuchung, bei der die Spuren der Gewalt bis in die Gene des Gehirns verfolgt werden konnten. Damals lag der Schluss nahe, dass der Missbrauch die Stressabwehr herabsetze und die Betroffenen so zum Beispiel für psychische Erkrankungen besonders anfällig mache. Bei dieser Studie waren bestimmte Gene von Suizidopfern mit und ohne Missbrauchsgeschichte verglichen worden.
Jetzt stützt eine weitere Arbeit die These, dass die Gewalt gegen Kinder bis ins Erbgut dringt. Forscher der amerikanischen Brown University in Providence, Rhode Island, nahmen sich so genannte Telomere vor. Dabei handelt es sich um biochemische Schutzkappen, die an den Enden der Chromosomen dafür sorgen, dass die DNA dieser Erbgutpakete in unseren Zellkernen nicht geschädigt wird. Dabei scheint die Länge dieser Endstücke etwas damit zu tun zu haben, wie wirkungsvoll sie sind. Jedenfalls schrumpfen Telomere im Laufe des Lebens mit jeder Zellteilung. Der genaue Zusammenhang zwischen Länge und Schutzwirkung ist noch nicht ganz klar. Trotzdem gibt es eine klare Verbindung, die von einer Schädigung der Telomerfunktion zu einer Schädigung der Zelle und schließlich des ganzen Organismus führt.
Die Lebenserwartung verkürzt sich
Nicht nur das Alter macht Telomeren zu schaffen, sondern auch Stress. In der Kindheit erfahrene Gewalt zum Beispiel, wie die jetzt publizierte Studie mit ersten Resultaten nahelegt. Weder konnten Alter oder demografische Faktoren das Resultat erklären noch Gewichtsunterschiede oder etwa Rauchen. Allein als Kind schlecht behandelt worden, vernachlässigt oder missbraucht worden zu sein, erklärte die durchschnittlich kürzeren Schutzenden des Erbguts. Natürlich bedeutet das nicht, alle Opfer werden gleich schwer getroffen und können sich nie wieder erholen. Große Unterschiede, zum Beispiel bei der inneren Widerstandskraft, gibt es zwischen ihnen ebenso wie bei allen anderen Menschen. Doch betrachtet man die Messergebnisse als Block, zeichnet sich eine klare Richtung ab: Kinder leiden nicht nur, während sie misshandelt und missbraucht werden und vielleicht noch eine gewisse Zeit danach. Schlimmstenfalls kostet sie die Gewalt, die ihnen angetan wird, auch physisch ihre Gesundheit und am Ende Jahre ihres Lebens. Auch das sollte berücksichtigt werden, wenn es um eine mögliche strafgesetzliche Neuregelung geht, wie sie jetzt von Politikern in Aussicht gestellt wurde: Aus der Perspektive der Opfer kann Missbrauch nicht verjähren.
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Quelle:
http://www.stern.de/wissen/mensch/kopfwelten-missbrauch-ist-nie-ausgestanden-1547637.html
Ja, diesen Artikel kann ich nur voll mit meinen eigenen schmerzvollen Kindheitserinnerungen bestätigen. Ich wurde ab dem Alter von 6 Jahren von einem Angestellten meines Vaters missbraucht und heute weiß ich, dass es Mitwisser und -dulder gab, die mir aber nie Hilfestellung gaben. Fazit meines vergeudeten Lebens: Ich hatte mein Leben lang Alpträume, fürchtete mich vor dem Finsterwerden, denn da kam er … Und durch ein schreckliches Ereignis holte mich meine Kindheit ein, ich erlebte alles noch einmal im Zeitraffer und versuchte letztes Jahr, mir – ohne ersichtlichen Anlass, alle Pulsadern aufzuschneiden, wurde aber in buchstäblich letzter Sekunde gerettet. Ich glaube, es mit unzähligen und aufwändigen Gesprächstherapien, die mich ein Drittel meines Einkommens kosteten, geschafft zu haben, nehme aber nach wie vor Psychopharmaka. Für solche Triebtäter sollte es nie eine Verjährung und keine Gnade geben. Ein schutzbedürftiges Kind zu missbrauchen, ist SCHLIMMER ALS MORD
Auch ich wurde bereits vom Kleinkindalter an jahrelang missbraucht vom eigenen Vater und mit Drohungen zum Schweigen gebracht. Ich bin heute 53 Jahre alt und leide bis heute unter dem Missbrauch und Prügel aus der Kindheit. Vor 3 Jahren entwickelte sich bei mir ein PTBS und ich bin dadurch erwerbsunfähig geworden. Jahrzehntelang hatte ich immer gegrübelt, eine Antwort für das Warum gesucht, auf eine ehrliche Entschuldigung vom Täter gehofft und gemeint, vielleicht dann einmal zur Ruhe kommen zu können. Ja, ich hatte jahrelang sogar noch MItleid mit dem Täter, wegen seiner schlechten Kindheitsjahre. Dabei blieb das eigene Leid auf der Strecke. Um Andere kümmern ging gut(da erntete ich früh Lob und Anerkennung von außen), aber für mein Wohlergehen zu sorgen ist mir nie gezeigt worden und das fällt mir bis heute schwer. Ich überlebte, indem ich mich anpasste, d. h. nur existierte und mit einem Gefühl von Wertlosigkeit durch das Leben zog. Seit 2 Jahren arbeite ich durch Therapien meine Vergangenheit auf und beginne mein Leben zu erlernen. Das fällt verdammt schwer, zumal bei jeder Kleinigkeit von Außen urplötzlich unerwartete und nicht zu deutende Anspannungen mit Stress entstehen, als würde jemand mit mir „Russisch Roulette“ spielen.
Kein Wunder, dass die Täter ihre Taten herunterspielen, schließlich gehen die meisten von ihnen ja straffrei aus, weil die Opfer erst jahrzehnte später in der Lage sind, sich zu offenbaren.
Also von einer Wiedergutmachung kann garkeine Rede sein, weil das garnicht wiedergutzumachen ist.
Zumindest aber sollte eine annähernde, Ausgleichentschädigung den Betroffenen geben werden.
Und das weitab von dem, was ein OEG (Opferentschädigungsgesetz) dafür minimalistisch vorsieht.
Man stelle sich vor:
„Die Lebenserwartung verkürzt sich“
„Gene tragen Schäden davon“ durch Missbrauch.
Das alles ist doch irreparabel!
Es ist unfassbar, wie einige da noch diese Schädigungen bagatelleisieren, indem sie die Auffassung vertreten,
„es ist heute gut therapiebar“.
Man bedenke, daß eine Therapie in diesem Bereich immer nur ein Versuch darstellt!
Ein Versuch, der nicht selten auch zum Experiment und somit sogar noch zu einer Zusatzbelastung für Betroffene werden kann, und das gerade in diesem sensiblen Bereich.
Allein schon die Suche nach einer geeigneten Therapiestelle zieht sich nicht selten über Jahre hin.
Geeignete Einrichtungen, welche auch bereichs-
übergreifend die Angelegenheiten anzugehen in der Lage sind, gibt es noch viel zu wenig. Und wenn, dann nur mit extrem langen Wartezeiten.
Eine „Wald-und Wiesen“ – Therapiestelle ist hierbei oft mehr schädigend, als daß sie nützt.
Das muss endlich besser unterstützt werden!
1979, als ich 18 Jahre war, habe ich den Täter angezeigt – nach 6 Jahren Angst. Doch es war keine Erlösung, es war fortgesetzte Demütigung:
Der Polizist, der vor Gericht aussagt, er hätte mir „die Würmer aus der Nase ziehen müssen“, sprich: ich hätte nichts „freiwillig“ erzählt. Ha! Wir Betroffene wissen, was da im Inneren abspielt.
Der Richter, total unerfahren, der mich vor Publikum (damals waren diese Verhandlungen öffentlich!!) bloßstellt.
Meine Eltern, die mich keines Blickes gewürdigt haben: Diese Schande!
Die Mutter des Täters, die mich im Gerichtssaal Hure schimpft. Es gab keinen Opferschutz, und das hat mich immer tiefer in die Depression getrieben.
Nach 30 Jahren endlich die Aufarbeitung – Psychoanalyse. Eine Therapeutin die nach Erzählungen von mir sagt: „Wenn ich das alles so glauben kann.“ Mir bleibt jedes weitere Wort im Halse stecken.
@Barbara
ja, ich glaub dir das alles auf Wort.
Das einzige, was Betroffenen am Ende wohl bleibt, ist die Tatsache,
daß sie prächtige Arbeitgeber für viele Personen sind, welche sich professionell mit dem Thema beschäftigen.
Ärzte, Therapeuten, Rechtsanwälte, Richter, Forscher, Schriftsteller, Verleger, … usw. verdienen ordentlich Geld mit den Geschichten der Betroffenen. Nur leider ist es so, daß die Betroffenen meist dabei lehr ausgehen. Gerade die, welche es am ehesten nötig häten.
Irgendwas stimmt doch da in unserem Staatssystem nicht.
Der so gern hochgehaltene Opferschutz oder OEG-Einrichtungen seitens des Staates funktionieren zumindest bisher nicht so, wie es eigentlich sein sollte.
Nicht selten kommt es vor, daß Antragsteller bei der stark belastenden Überprüfungsprozedur freiwillig ihr Leben beenden, weil sie das alles nicht mehr ertragen können. Oder wartet man etwa nur darauf?
Ich meine, der Spareffekt wäre zweifelsohne enorm hoch.
Hier fehlt geschultes Fachpersonal, welches in der Lage ist, zu erkennen,
ob jemand betroffen ist oder nicht. Und zwar ohne ein Opfer unnötig zusätzlich dabei zu belasten.
Ein Wald- und Wiesen-Richter ist dazu z.B. völlig ungeeignet.
Und vor allem Feinfühligkeit ist gefragt und nicht nur stumpfes Paragraphendenken.