ZEIT ONLINE 22.02.2010

Wie sexueller Missbrauch wirkt: Er lähmt nicht nur die Opfer, sondern auch die Politik. Plädoyer für eine Verlängerung der Verjährungsfrist

Nicht nur Therapeuten, Staatsanwälte und kommende Woche die Deutsche Bischofskonferenz befassen sich damit, auch Sprachkritiker haben sich der »Kinderschänder« angenommen. Sie verwarfen den Begriff in guter Absicht: Nicht das Kind werde ja in Schande gebracht, sondern der Täter. Wenn es nur so einfach wäre! Zu den härtesten Folgen von Missbrauch an Kindern gehört, dass die Scham beim Opfer oft größer ist als beim Täter. Diese Verkehrung der Gefühle ist eine Wirkung der Perversion solcher Taten. Das Opfer wird durch die verkehrte Scham versiegelt in einem Schweigen, das oft krank macht, weil es die Wunde, die der Täter zugefügt hat, noch weit über die Tat hinaus vertieft. Die Verdrehung der Gefühle des Opfers durch den Täter erklärt auch, warum viele der »Geschändeten« Jahrzehnte brauchen, bis sie ihr Empfinden von Recht und Unrecht, vom Urheber und vom Leidtragenden ihrer Verletzung so weit geradegerückt haben, dass sie sich als Opfer zu erkennen zu geben wagen – und Anzeige erstatten.

Die derzeitige Rechtslage verhindert dabei oft die Aufklärung der Taten auf strafrechtlichem Wege, weil die Anzeigen der Opfer keine Chance haben – sie kommen in vielen Fällen zu spät. Zehn Jahre nach Volljährigkeit des Opfers, also im Alter von 28 Jahren, erlischt sein Anspruch auf Strafverfolgung, weil das Verbrechen als verjährt gilt. Die derzeitig Verjährungsfrist bei Kindesmissbrauch ignoriert jedoch den wissenschaftlichen Erkenntnisstand über die langfristige Nachwirkung von sexuellen Traumata. Wiederholt ist die Gelegenheit versäumt worden, sie zu verlängern. Jetzt ist es an der Zeit.

Wozu an die Öffentlichkeit gehen, wenn die Taten nicht mehr verfolgt werden?
Ein Grundübel, das die Aufdeckung sexueller Vergehen durch Geistliche jahrelang behinderte, war die einst von Rom vorgegebene Linie, Verdachtsfälle unter striktem Ausschluss der Öffentlichkeit zu prüfen und zu ahnden. Inzwischen bemüht sich zumindest der Jesuitenorden in Deutschland, dem Verdacht entgegenzuwirken, er setze eine unselige Tradition der Vertuschung fort. Nicht eine widerstrebende katholische Kirchenhierarchie allein behindert also derzeit eine entschiedene Aufklärung, sondern der Gesetzgeber selbst betätigt sich unbeabsichtigt als Bremser: Weil viele der mutmaßlich mehreren Hundert Fälle von Missbrauch durch Priester seit den siebziger Jahren schon länger zurückliegen, erklärt sich der Rechtsstaat bisher für unzuständig. Die Erfahrungen am Canisius-Kolleg der Jesuiten in Berlin, wo die Zahl der Opfermeldungen nach jüngsten Informationen auf mehr als hundert gestiegen ist, sind dafür bezeichnend: Die Staatsanwaltschaft hatte zwar Vorermittlungen in mehreren Fälle aufgenommen, hat diese aber aufgrund der eingetretenen Verjährung inzwischen bereits wieder einstellen müssen.

Ausgerechnet die Zauderer der Aufklärung in der Kirche können sich damit hinter der gesetzlich erzwungenen Untätigkeit der Staatsanwälte verstecken: Wozu an die Öffentlichkeit gehen, wenn offenbar kein öffentliches Strafverfolgungsinteresse besteht? Die kurz gehaltene Verjährungsfrist begünstigt damit das System einer rein innerkirchlichen Beilegung von Vergehen, statt dazu beizutragen, es zu überwinden.

Die Trägheit der Politik, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, offenbart aber auch, wie wenig in diesen Fällen die Perspektive der Opfer berücksichtigt wird. Gerade bei sexuellem Missbrauch gestehen sich die Opfer ihre Erfahrungen erst nach langwierigen persönlichen Klärungsprozessen ein, oft mit therapeutischer Hilfe und infolge wiederholter Versuche einer dauerhafter Partnerschaft oder einer Familiengründung. In der heutigen Zeit erstreckt sich diese biografische Phase leicht bis Mitte oder Ende dreißig, also weit jenseits der Verjährungsgrenze von 28 Jahren.

Dem Gesetzgeber allein die Schuld am Status quo zu geben verkennt allerdings ein gesellschaftliches Empathieproblem, das den Kampf gegen Missbrauch erschwert. Es fängt bereits beim Zeitunglesen an: Wer möchte die Widerlichkeiten der Täter auf seinem Frühstückstisch ausgebreitet finden? Von Kerzen lesen, die Schüler im Auftrag des Religionslehrers beim Onanieren entzünden mussten, um sie anschließend zum Beichtgespräch mitzubringen, wo sich dann der Lehrer daran erregt? Missbrauch wirkt nicht nur auf die Opfer beschämend, er vergiftet nicht bloß die Kirche, er treibt auch die Öffentlichkeit in eine bipolare Störung zwischen Enthüllungsgeilheit und Ekelkeuschheit.

Anders als in den USA fehlt ein Klima der rückhaltlosen Aufklärung

Natürlich gibt es einen Alltagsvoyeurismus der Medienkonsumenten wie der Medienmacher. Und kaum eine Kombination bedient dieses Konsummuster verlässlicher als Kirche und Sex. Gleichzeitig erliegen viele Leser und Zuschauer ähnlichen Ausblendungsmechanismen, wie sie sie bei der Kirche zu Recht beklagen. Das ungute Wechselspiel aus Voyeurismus und Verdrängung schädigt am Ende die Opfer: Ihre Interessen geraten dabei unters Rad.

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Quelle:

http://www.zeit.de/2010/08/Missbrauch-Entwurf?page=1