rhein:raum – Bonner Magazin 19.02,2010

Sexueller Missbrauch am Aloisiuskolleg

von Petra Forberger

Anlässlich der aktuellen öffentlichen Diskussion um Vorwürfe sexuellen Missbrauchs am Aloisiuskolleg in Bonn wendeten sich mehr als 500 ehemalige Schüler und Schülereltern in einem offenen Brief an die Leitung, das Kollegium und die Schülerschaft des Aloisiuskollegs sowie an den Provinzial des Jesuitenordens.

Die Adressaten dieses Schreibens sind also die Leitung, das Kollegium und die Schülerschaft des Bonner Aloisiuskollegs sowie der Provinzial des Jesuitenordens. Nicht die ehemals von sexualisierten Übergriffen betroffenen Schüler.

Wie schön. Die „Anständigen“ bestätigen den „Anständigen“ „anständig“ zu sein.

Ich als Überlebende von sexualisierter Kindesmisshandlung möchte einmal erleben, dass sich 500 Leute hinter mich stellen und mir ihre Verbundenheit ausdrücken!

Dieser Brief ist ein offener Schlag ins Gesicht aller Opfer. 500 Menschen distanzieren sich von den Opfern, die teilweise schlimmstes Leid mit lebenslangen Folgen erfahren haben, und solidarisieren sich mit denjenigen, in deren Umfeld die Taten offensichtlich geschehen konnten. Und noch schlimmer: sie machen die Opfer zu „Tätern“, indem sie sie auf subtile aber dennoch eindeutige Weise als „Nestbeschmutzer“ brandmarken.

Sie tun das auf die gleiche versteckte und unterschwellige Art, die wir Betroffenen schon so viele Jahre kennen: Man blicke, so erfährt man von den Unterzeichnern, „auf eine unbeschwerte, prägende und motivierende Schulzeit zurück, für die sie dem Aloisiuskolleg, dem Jesuitenorden und den dort tätigen Lehrern und Erziehern besonders dankbar sind.“

Mit scheinbar schönen Worten wird hier eine unsichtbare Grenze gezogen zu denjenigen, deren Schulzeit am Aloisiuskolleg weniger „unbeschwert“ war und die daher keine „Dankbarkeit“ (sondern wohl eher Wut) empfinden können. Es schließen sich die „Dankbaren“ zusammen und grenzen die „Undankbaren“ aus.

Sie signalisieren den Opfern damit, nicht „richtig“ zu liegen, die Erlebnisse „falsch“ zu interpretieren – denn wie sonst könnten sie angesichts dieser „tollen“ Schule keine „Dankbarkeit“ empfinden und sich nicht an eine „unbeschwerte“ Schulzeit erinnern?! Ja, wird sich unterschwellig empört, wie können sie es überhaupt wagen, eine so „tolle“ Schule mit ihren Anschuldigungen so in den Dreck zu ziehen?

Und noch viel schlimmer: Mit ihrem Schreiben, gerichtet an Leitung, Kollegium und Schülerschaft des Bonner Aloisiuskollegs sowie den Provinzial des Jesuitenordens, signalisieren sie den Opfern, nicht wert zu sein, sich mit ihnen zu solidarisieren.

Sie signalisieren den Opfern, dass sie schuld seien, dass der „nachhaltig an das Gute glaubende“ „Jesuit, Seelsorger, Mentor und Erzieher Pater Theo Schneider SJ“ sein Amt niedergelegt hat.

Der Zweck dahinter ist klar: Bei den „Nestbeschmutzern“ sollen erneut Schamgefühle und negative Selbstbezichtigungen geschürt werden, die den Opfern schon so viele Jahre die Münder verschlossen haben. Nach Willen der „Anständigen“ sollen sie die auch weiterhin geschlossen halten.

Dieser Brief bezichtigt darüber hinaus (wenn auch versteckt) die Opfer der Lüge, bzw. stellt ihre Glaubwürdigkeit in Frage: schließlich hat am Aloisius-Kolleg, so erfährt man, „stets eine Atmosphäre der Offenheit“ geherrscht. Es kann also gar nicht sein, dass irgendetwas unbemerkt geblieben ist, genauso wenig wie es sein kann – bei so viel „Offenheit“ und hochgehaltenen „Werten“ -, dass irgendwelche Taten hätten vertuscht werden sollten.

Wie immer werden nicht diejenigen gebrandmarkt, die durch ihr schändliches Verhalten die (scheinbare) Ordnung unterlaufen und diskreditiert haben, sondern diejenigen, die diese Verletzungen der (scheinbaren) Ordnung öffentlich machen. So machen die Unterzeichner mit ihrem Schreiben auch klar, wen sie für die eigentlichen Schuldigen halten:

Am Aloisius-Kolleg, so erfährt man, wurde zu „selbstverantwortlichem und verantwortungsbewusstem Handeln“ angeleitet. Davon ausgehend, dass hier die Schüler gemeint sind (die Lehrer werden wohl keine „Anleitung“ erfahren haben), heißt das, dass die Unterzeichner des Schreibens ein Umfeld konstruieren, in dem die Schüler „selbstverantwortlich“ handeln konnten.

Von den mehr als 500 ehemaligen Schülern und Schülereltern wird also unterstellt, dass der Schüler, der in „sexuelle Handlungen“ (wie ja sexualisierte Gewalt von vielen gesehen wird) verstrickt war, in irgendeiner Weise auch damit einverstanden war. Schließlich konnte er ja „selbstverantwortlich“ zustimmen oder ablehnen.

Ähnliches geschieht durch die Behauptung, die Schüler seien zu „verantwortungsbewusstem Handeln“ angeleitet worden: Auch hier wird wieder eine Welt konstruiert, in der Schülern (Kindern) scheinbar dieselbe Verantwortung in einer Lehrer-Schüler-Beziehung zugeschrieben wird wie einem Lehrer (Erwachsenen). Damit wird der Erwachsene, der aufgrund der klaren Machtverhältnisse die alleinige Verantwortung für sein Handeln gegenüber einem Kind trägt, entlastet und dem Kind eine Mitverantwortung zugeschoben.

Das ist die in unserer Gesellschaft übliche Art, wie diejenigen, die – bewusst oder unbewusst – wegsehen, nichts wissen wollen oder wenn sie etwas wissen, nichts tun wollen, damit umgehen. Sie müssen die Wahrheit abwehren indem sie die Verhältnisse auf den Kopf stellen. Sie tun das, um SICH SELBST zu schützen, ihre eigene selbstgebastelte „Heile Welt“. Und das ist auch der Grund, warum sich so, so viele – trotz ihrer sicherlich empfundenen Abscheu gegenüber den Taten – lieber mit den Tätern solidarisieren, lieber die Taten verharmlosen und den Opfern Mitschuld und Mitverantwortung zuzuschreiben versuchen. Weil sie sich ihre eigene Vorstellung von der „Heilen Welt“ nicht kaputt machen lassen wollen.

Da werden die „hohen Werte“ an der Schule und die Person des Rektors im Besonderen über den Klee gelobt, um nur ja den schönen hellen Schein aufrecht zu erhalten. Doch besonders da, wo viel Licht ist, ist bekanntlich auch viel Schatten: Am Bonner Aloisiuskolleg hingen laut den Schilderungen eines Betroffenen „in den Gängen der Mensa und des Schlosses massenweise und jahrelang „künstlerische“ Schwarz-weiß-Fotos mit nackten Jünglingen im Sonnenuntergang, selbst fotografiert.“

Heute will keiner etwas bemerkt haben, und selbstverständlich hat das bei keinem etwas „mit weggucken oder bagatellisieren zu tun“. Nacktfotos von Jünglingen – ist doch völlig „normal“ an einer „offenen“, von katholischen Patres geleiteten Einrichtung.

Wie war das nochmal? Ah ja: „Werte und Erziehungsideale des Aloisiuskollegs als katholische Schule“. Welche „Werte“, welches „Erziehungsideal“ stand wohl hinter den „massenweise künstlerischen Schwarz-weiß-Fotos mit nackten Jünglingen“ in den Gängen der Mensa und des Schlosses?

Der Zeuge schildert auch Szenen, in denen Schüler des Öfteren nackt mit einem Wasserschlauch von einem bestimmten Pater „abgespritzt“ wurden, im Sommer auch nackt im Park hinter dem Schloss. Auch der jetzt zurückgetretene Rektor des Aloisiuskollegs, Pater Theo Schneider, sei dabei gewesen – „als junger Frater schon die rechte Hand von Pater S.“, so der Zeuge.

Ich will hier nichts unterstellen und nicht vorverurteilen: ich war nicht dabei. Aber ich habe selbst nicht nur einmal erlebt, wie Dinge, die mir als Kind als „komisch“ aufgefallen sind, von Erwachsenen als „normal“ und „offen“ (im Sinne von liberal) beschwichtigt wurden. Durch Aussagen, viel mehr aber noch durch ihr Verhalten (wie z.B. als Erwachsene UND als Patres Nacktfotos an den Wänden einer KATHOLISCHEN SCHULE als etwas nicht Bemerkenswertes zu übergehen).

Wieso ist es eigentlich für Außenstehende (und als das bezeichnen sich die Nichtbemerker ja schließlich) so schwierig, nachzuvollziehen, dass GERADE diese das Kind umgebende Widersprüchlichkeit der gepredigten Normen der Erwachsenen zu den tatsächlichen Handlungen der Erwachsenen (Beispiel: die Kirche predigt strenge sexuelle Normen und in den Gängen hängen Nacktfotos) die innere Welt des Kindes aufs Tiefste beschädigen und verwirren?

Wieso fällt auch heute den 500 Unterzeichnern nicht auf, welche Grundhaltung bei ALLEN Patres und Lehrern des Aloisiuskollegs geherrscht haben muss, um diese Nacktfotos an den Wänden und das Abspritzen nackter Schüler im Park „normal“ zu finden?? Allein diese beiden Beispiele zeigen doch, dass die Regeln und Normen am Aloisiuskolleg bereits weitab von dem waren, was sich Außenstehende unter einem katholischen Internatsbetrieb vorstellen.

Dass innerhalb eines so dysfunktionalen, entgleisten Systems keiner mehr bemerkt, wenn Menschenrechte verletzt, Grenzen massiv überschritten werden, kann doch niemanden wirklich wundern. Diesen BETEILIGTEN und MITKONSTRUKTEUREN dieses entgleisten Systems jetzt deshalb die Absolution zu erteilen, und stattdessen die Kinder in die Mitverantwortung zu zerren, ist einfach nur schäbig und menschlich niedrig.

Natürlich haben sie „nichts bemerkt“. Man kann nicht etwas bemerken, das innerhalb des eigenen Weltkonstrukts „normal“ und „in Ordnung“ ist!

Deshalb muss es auch niemanden verwundern, dass die Unterzeichner es am Ende des Schreibens nicht versäumen, „ausdrücklich“ (!) darauf hinzuweisen, dass sie „während und nach ihrer Zeit als Schüler weder sexuelle Gewalt noch Missbrauch am Aloisiuskolleg erlebt haben“. Zumal viele „sexuelle Gewalt“ und „Missbrauch“ einzig und allein mit ausgeführtem Geschlechtsverkehr assoziieren. Bilder von nackten Jünglingen an den Wänden als eine in einer Knabenschule von den Patres „abgesegnete“ Handlung werden als „normal“ abgespeichert. Dass es die Botschaft eines dysfunktionalen, gestörten Systems ist, können die Kinder nicht erkennen, da ihnen dazu noch die nötigen Relationen fehlen.

So wird sich am Ende mit der Aussage, selbst keine sexuelle Gewalt am Aloisiuskolleg erlebt zu haben, nochmals von den Opfern distanziert, und ihr Zeugnis nochmals herabgewürdigt: 500 die „ausdrücklich keine sexuelle Gewalt erlebt haben“ gegen 2 (oder 5 oder 10 am Aloisius-Kolleg), die – weil nicht „selbstverantwortlich“ und „verantwortungsbewusst“ genug – in „sowas“ verwickelt waren.

Und offenbar sind die Unterzeichner entschlossen, ihre Blindheit gegenüber den dysfunktionalen Strukturen weiter beizubehalten: „Viele von den Unterzeichnern geben dem dadurch nachhaltig Ausdruck, dass sie ihre eigenen Kinder in die Obhut des Kollegs gegeben haben und geben.“

Um die Reputation der Schule, des (Ex)Rektors, der Lehrer/innen und Schulangehörigen, sich selbst als „sauberes Nicht-Missbrauchsopfer“ zu retten und zu bewahren, werden die eigenen Kinder weiterhin einem gestörten System ausgeliefert.

Es wird nicht überlegt, wie man Kinder zukünftig schützen kann, wie man Täter und Taten früher entdecken und verhindern kann, wie es überhaupt zu solchen jahrelangen Übergriffen kommen kann, ohne dass etwas bemerkt wird – nein, es wird weiterhin weggesehen, sich selbst belogen, sich weiter beim „Heile-Welt-Demonstrieren“ geholfen.

Und es werden weiterhin diejenigen ins Aus gedrängt und mit Schmutz beworfen, die sowieso schon genug Leid zu tragen haben.

Quelle:

http://rheinraum-online.de/2010/02/19/sexueller-missbrauch-am-aloisiuskolleg/