Meine Geschichte ist eine ganz normale Geschichte. Sie ähnelt der von ganz vielen Menschen, gestern und heute.

Aufgewachsen bin ich in einer Großfamilie in einem kleinen, idyllischen, nordwestdeutschen Dorf. Mit vier Jahren wurde ich von einem Bekannten meiner Eltern sexuell missbraucht. Dieser Mann war schmutzig, hässlich, er stank nach Schweiß, Tabak, Alkohol und Insektiziden. Besonders abstoßend waren seine Finger. Nikotingelb, schwielig, die Fingernägel lang, schartig und dreckig.
Äußerlich nahm ich wenig Schaden, eine genitale Blutung, die in Folge der Tat auftrat, wurde vom Hausarzt begutachtet, aber als unwesentlich abgetan. Damit war der Fall für meine Eltern, meine Großmutter und den Arzt offenbar erledigt.

Mental dagegen habe ich mich im Laufe des folgenden Jahres so verändert, dass ich mich heute nur noch schwer in die Vierjährige von damals hineinversetzen kann und nur noch wenig mit ihr gemeinsam habe. Sie ist für mich eine fremde Person geworden.
Ich habe früh erfahren müssen, wie böse Menschen sein können, verlogen, dass ich  ihnen nicht entkommen kann und niemand mich schützt oder mir hilft.

Selbst längst erwachsene Menschen, die solche Erfahrungen machen müssen, sind danach häufig lange traumatisiert.
Kinder, gerade sehr kleine, werden durch so etwas physisch und psychisch schwer geschädigt. Viele werden damit nicht alt.

Und so kam es: Beim Eintritt in die Schule war ich zu einem anderen Menschen geworden.

Fortan war ich ständig auf der Hut. Potentiell „böse“ Männer lauerten überall, viele ihrer Verhaltensweisen und Äußerungen begann ich als bedrohlich, anmaßend, grenzüberschreitend, anzüglich einzuschätzen. Ich vertraute niemandem mehr, nur noch mir selbst.
Bis weit ins Erwachsenenalter hinein versuchte ich, dem männlichen Geschlecht elegant und unauffällig aus dem Weg zu gehen ohne ins soziale Abseits zu geraten.
Die Frage „Und – hast Du einen Freund?“ erzeugte Stress und großes Unbehagen. Was hätte ich denn sagen sollen?

Ich kann mich in Betroffene, die unter multiplen Persönlichkeitsstörungen leiden, sehr gut hineinversetzen. Ein klein bisschen schlechtere Lebensumstände, ein wenig zusätzliches Unglück und ich wäre jetzt wahrscheinlich schwer geisteskrank.

So passierte „nur“ Folgendes: aus einem fröhlichen, aufgeschlossenen, kontaktfreudigen, lebensfrohen Kind wurde ein von Tics und schweren chronischen Krankheiten, von Depressionen, Selbstzweifeln, zermürbendem, ziellosen Hass, Anfällen von Selbstzerstörung, Grübelattacken und plötzlichen Stimmungsumschwüngen gebeutelter junger Mensch.

Sexualstraftäter, das waren damals „Söckse“ (plattdeutsch „Solche“). Vorgeblich vollkommene Außenseiter. Dabei saßen „Söckse“ in Wirklichkeit bei jedem Geburtstag an der Kaffeetafel. Und „missbrauchte“ (eigentlich ein diskriminierender Begriff) Mädchen und Jungen in jeder Schulklasse. So wie heute auch.

Aber damals dachte ich – wie viele in der Kindheit sexuell misshandelte Menschen – ich sei die einzige Person, der so etwas passiert.

Erst nach und nach, nicht zuletzt durch meinen therapeutischen Beruf erkannte ich, wie viele Menschen von sexueller Gewalt betroffen und gezeichnet sind.
Und wie viele Täter es gibt.

Es gab nur ein Persönlichkeitsmerkmal, das sich bei mir damals nicht veränderte, sondern im Gegenteil sogar vollkommen in den Vordergrund rückte. Es war der Wunsch und die Fähigkeit, schnell viele Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und sofort Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden.
Ich nutzte diese Gabe aber nicht mehr wie vorher, um mit Menschen in Kontakt zu kommen, sondern um mir schnell einen Überblick zu verschaffen und damit meine Umgebung kontrollieren und ihre Reaktionen vorhersehen zu können. Ich versuchte, die Distanz zwischen mir und den anderen zu vergrößern.

Ich wurde einsam.

Und eine traurige, ernste, distanzierte, reservierte aber exzellente Schülerin. Eine defensive, aber hartnäckige, wachsame, unablässige, genaue Beobachterin mit klarem Urteil. Ich stellte alles in Frage und glaubte nichts.
„Wissen ist Macht“ wurde zu meinem Credo.
Heute bin ich überzeugt, dass mich damals nur das vor dem mentalen und körperlichen Ruin gerettet hat.

Lange Zeit habe ich meine Geschichte für mich behalten. Mir war klar, dass eine Offenbarung soziale Ausgrenzung und Stigmatisierung zur Folge gehabt hätte.

Das war eine eher intuitive Entscheidung, mit meinem Wissen und meinen Erfahrungen von heute kann ich sie reflektieren. Es war vollkommen richtig, dass ich mich damals niemandem anvertraut habe. Keiner hätte den Mut gehabt, mir zu glauben. Und erst Recht nicht, mir beizustehen.

Warum eigentlich nicht ?

Was ich mich immer wieder von Neuem frage ist : Weshalb neigen Menschen eigentlich dazu, vor der Tatsache, dass sexueller Missbrauch epidemische Ausmaße und für die Betroffenen und die gesamte Gesellschaft schwerwiegende Folgen hat, die Augen zu verschließen und warum versuchen sie, Personen, die offen bekennen, missbraucht worden zu sein von sich fern zu halten ?
Am „Nicht-Wissen“ kann es nicht liegen: Fast täglich wird in den Medien von sexueller Gewalt berichtet, auch im Privaten hören viele von diesen Fällen, es gibt eine Flut von Statistiken und wissenschaftlichen Veröffentlichungen dazu.

Hier der Versuch einer Antwort.

Denn auch in diesem Punkt ist meine Geschichte typisch.

Meine Eltern waren damals sehr jung, naiv, überfordert mit drei kleinen Kindern und ihrem Betrieb, freundlich aber leichtsinnig und etwas oberflächlich.
Meine Großmutter und unserer Hausarzt dagegen waren ganz anders – besonnen, erfahren, misstrauisch und tatkräftig.

Alle diese Erwachsenen waren typische Vertreter ihrer Generation, normal im Sinne von durchschnittlich.

Meine Mutter ist mitten im 2. Weltkrieg geboren, in schwierige Familienverhältnisse hinein. Sie konnte nie eine gute Bindung zu ihrer späteren Adoptivmutter aufbauen, meiner Großmutter und auch nicht zu mir.
Mein Vater war freundlich, geduldig, aber sehr zurückhaltend – „defensiv“ nennt man diese Haltung heutzutage.
Je älter ich wurde, desto schlechter wurde der Kontakt zu ihm.
Meine Großmutter, die eigentlich die Mutterrolle für meine Geschwister und mich eingenommen hatte, war im wilhelminischen Geist erzogen worden und später eine glühende Anhängerin Adolf Hitlers. Gemäß dem damaligen Weltbild waren Frauen dazu da, zu arbeiten, zu gehorchen, zu dienen, Kinder zu gebären und aufzuziehen. Sie waren nur unwesentlich mehr wert als das Vieh. Männer dagegen waren von Natur aus und ohne Frage großartig und überlegen. Die Krone der Schöpfung, das Wichtigste auf der Welt.

Frauen waren nichts, Männer alles.

Meine Großmutter hat diese Einschätzung sicher nie wirklich geteilt, aber sich gefügt.
Aus ihren Erzählungen schließe ich heute, dass sie ebenfalls als junges Mädchen sexuell missbraucht worden ist. Sie hatte deshalb wahrscheinlich nicht die Kraft oder nicht den Mut, mich zu schützen. Hat mich aber später in allem, was ich machte und plante unterstützt.

Der Arzt schließlich hatte während des zweiten Weltkrieges und danach gelernt, viel von dem was er sah und tat zu verdrängen und zu leugnen. Möglicherweise hat er mir mit dem „Nicht-Hinsehen“ etwas Gutes tun wollen. Er wusste, was mir und meiner Familie bei bekannt werden des Missbrauchs geblüht hätte, nämlich Ausgrenzung und üble Nachrede.
Aber vielleicht war er auch selber Täter. So wie viele seiner Generation geprägt von der menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialismus und gezeichnet vom Krieg.
Die Erwachsenen waren also schwach, unreif, selbst betroffen, hatten ein schlechtes Gewissen oder Angst vor der Wahrheit.

Genau dieses Profil trifft auch heute noch auf viele Menschen zu, wenn es um sexuelle Gewalt geht.

Ich habe Abitur gemacht, einen Beruf erlernt, bin selbstständig und erfolgreich. Ich habe geheiratet und einen Sohn bekommen. Oberflächlich betrachtet ist mein Leben gelungen.

Aber es vergeht kaum ein Tag, an dem ich mir nicht wünschte, nie geboren worden zu sein. Meine Ehe ist gescheitert, eine neue, weitere Beziehung einzugehen, kann ich mir nicht mehr vorstellen.

Ohne die preußische Disziplin, die meine Großmutter mir vorgelebt und eingeimpft hat und  die auch immer eine gefährliche Nähe zur Selbstverleugnung hat, könnte ich keiner meiner ganz normalen Verpflichtungen nachkommen.

Was mir in Folge der Tat verloren gegangen ist, ist die Fähigkeit die tägliche Dosis körpereigener Glückshormone zu produzieren, die „normalen“ Menschen hilft die Realität soweit auszublenden, dass sie es in der Welt, die uns umgibt aushalten können. Deren Produktion wird in Folge von Traumatisierungen gedrosselt wie ich heute weiß, der Hirnstoffwechsel gerät aus dem Gleichgewicht.

Betroffene sehen die Welt, so wie sie ist und was sie sehen, ist häufig alles andere als schön.

Verschiedene Therapien, zum größten Teil privat von mir finanziert, auch als Teil einer beruflichen Weiterbildung, haben immerhin dazu geführt, dass ich mich entschlossen habe zu handeln, statt zu verdrängen und zu resignieren. Auch wenn ich meine Vergangenheit nicht ändern kann, kann ich dazu beitragen, dass das, was mir geschadet und meine Lebensfreude und meine Lebensqualität mindert, offenbar wird und sich etwas weniger an anderen wiederholt.

Jeder sachliche Bericht über sexuellen Missbrauch, jeder überführte und verurteilte Täter, jede Initiative ist für mich ein Triumpf über die gegenwärtige und vergangene Ignoranz meiner Mitmenschen.

Das gibt mir viel Kraft.

Selbstvertrauen und ein Gefühl von Selbstwirksamkeit konnte ich im Laufe der Zeit aufbauen, mein Selbstwertgefühl und mein Selbstbewusstsein blieben bis heute zerstört. Ich weiß, wie man selbstbewusst auftritt, aber ich empfinde mich nicht so. Auch das habe ich mit vielen Betroffenen gemeinsam.

Ich würde mich sehr freuen, wenn ich es noch erleben könnte, dass Menschen in meiner Umgebung sexuelle Umgangsformen und Normen entwickeln, die die Bezeichnung „Kultur“ verdienen und die primitive, konsumierende, menschenverachtende sexuelle Übergriffigkeit, die ich als Bedrohung für unsere Gesellschaft ansehe, langsam aus unserem Leben entfernen.

Angelika Oetken                         Berlin, den 15.2.2010