Norbert Denef wurde von Geistlichen missbraucht – nun kämpft er gegen Verjährung von Sexualverbrechen
Das gläserne Opfer schweigt nicht
Ein Jahr lang hatte Norbert Denef geübt. Vor dem Spiegel hatte er immer wieder die Worte geformt, so wie er es bei den Schauspielern im Theater gesehen hatte. Nachts war er manchmal schweißgebadet aufgewacht. Aber irgendetwas in ihm hatte gewusst, dass er den Satz irgendwann sagen musste, diese vier unmöglichen Wörter, die sein ganzes Leben bestimmten: „Ich wurde sexuell missbraucht.“
Heute, fast 20 Jahre nach seinem ersten Bekenntnis, will Norbert Denef nicht mehr aufhören zu reden. Viel Arbeit habe er in den letzten Wochen gehabt, sagt er. Seitdem die Missbrauchsfälle an Schulen des Jesuitenordens bekannt wurden, wollen viele seine Geschichte hören. Arbeit, das heißt für ihn heute vor allem erzählen. Wenn er eine Pause braucht, geht er hinunter zur starrgefrorenen Ostsee vor seinem Haus. Dann erzählt er weiter.
„Ich habe mich zum gläsernen Opfer gemacht“, sagt der 60-Jährige mitten im Gespräch. „Nur so kann es öffentliche Diskussionen geben.“
Neun Jahre Martyrium
Norbert Denef hat 35 Jahre gebraucht, um sein Schweigen zu brechen. Als Zehnjähriger wurde er zum ersten Mal von einem Priester der katholischen DDR-Gemeinde „Unbefleckte Empfängnis Mariens“ in Delitzsch bei Leipzig vergewaltigt. Der Geistliche war ein Freund der Familie, der oft zum Feiern vorbeikam. Noch immer träumt Denef von der Pfarrwohnung mit den bunten Tapeten und dem Astloch im Holzschreibtisch. In dieses Loch steckte der Messdiener seinen kleinen Finger. Um nichts fühlen zu müssen, bis es endlich vorbei war.
Als der Priester plötzlich „strafversetzt“ wurde, glaubte der inzwischen 16-Jährige an das Ende seines Martyriums. Doch dann lud ihn der Organist der Gemeinde in seine Wohnung ein. Zwei Jahre dauerte es, bis Norbert Denef sich seinem zweiten Peiniger entziehen konnte und nach Leipzig zog.
„Ich hätte nie darüber sprechen können“, sagt er. „Ich war wie in Einzelhaft und hätte noch unter Folter geschwiegen.“ Unzählige Male hat sich der ehemalige technische Leiter eines Theaters gefragt, warum er den Missbrauch zugelassen hat, noch mit 18, als er fast ein Mann war. „Missbrauch ist Seelenmord“, sagt er. „Die Seele steigt aus dem Körper aus und man fühlt gar nichts mehr.“
Erst als zweifacher verheirateter Vater begann er mit der Aufarbeitung seiner Vergangenheit. Er verschlang Psychologiebücher, begab sich in Therapie und hielt auf einem Familienfest 1993 einen Vortrag über sexuellen Missbrauch. Während seine beiden Peiniger zwischen seiner Verwandtschaft saßen, sagte er den Satz, der alles veränderte. „Ich wurde sexuell missbraucht.“
25 000 Euro Entschädigung
Bis er die Täter schließlich beim Bistum Limburg anzeigte, sollten allerdings noch Jahre vergehen. Jahre, in denen er seine eigene Beschädigung besser verstehen wollte. 1996 zeigte er den ersten Täter an, den inzwischen verstorbenen Pfarrer Alfons K. Den Namen des zweiten Täters konnte er erst 2003 nennen.
Als erstes bekanntes Missbrauchsopfer in Deutschland erhielt er von der katholischen Kirche eine Abfindung in Höhe von 25 000 Euro, unter einer Bedingung, die ganz am Ende eines Briefes stand: Er sollte sich verpflichten, über den Missbrauch weiter zu schweigen. Doch Norbert Denef hielt sich nicht an die Klausel und machte seinen Fall in den Medien bekannt.
Inzwischen bestimmt der Kampf für die Opfer von sexualisierter Gewalt sein Leben. Mit einer Petition hat er vom Bundestag die Abschaffung der Verjährungsfrist von sexuellem Missbrauch im Zivilrecht gefordert. Mit der Ablehnung aus Berlin hatte er gerechnet, jetzt sammelt er Unterschriften für eine Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof. „Die Schäden der Opfer müssen anerkannt werden“, sagt er. „Die Verjährungsfrist schützt nur die Täter.“
Angst vor einer Niederlage hat Norbert Denef nicht. „Dann starte ich eine weltweite Aktion“, sagt er. Bis dahin wird er weitererzählen und auf die Kraft einer öffentlichen Debatte hoffen. „Ich habe Geduld“, sagt er. „Ich habe bewiesen, dass ich warten kann.“
• Seine Geschichte hat Norbert Denef im Buch „Ich wurde sexuell missbraucht“ aufgeschrieben. Wer daran Interesse hat oder Denefs Beschwerde gegen die Ablehnung der Petition „Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch im Zivilrecht aufheben“ unterzeichnen will, kann das über seine Homepage norbert.denef.com tun.
Von Saskia Trebing
Quelle:
http://www.hna.de/nachrichten/politik/politik-lokal/glaeserne-opfer-schweigt-nicht-629146.html
Auch ich wurde 15 Jahre lang von einem meiner Brüder sexuell missbraucht und vergewaltigt! Ich brauchte 20 Jahre, bis ich mich dem stellte, meine ganze Familie litt jahrelang unter mir, die nicht wusste, was eigentlich los ist! (Ich auch nur vage!)
Ich habe 5 Jahre Psychotherapie und -analyse hinter mich gebracht, die ich größtenteils selbst bezahlen musste!
Meines Erachtens müssten die Täter wenigsten DAS bezahlen!
PS.: meine Mutter, die ich mit den Taten ihres “ Lieblingssohnes “ konfrontierte, wischte das alles als “ Peanuts “ unter den Tisch! Üblich bei Sexualopfern!
Liebe Barbara,
immer wieder bin ich aufs Neue betroffen von dem, was ich hier lese. Du hast mein volles Mitgefühl, unsere Geschichten und unsere Mütter scheinen recht ähnlich zu sein…
Liebe Grüße,
Elke
Hallo Norbert,
habe mir eben das Interview im NDR angehört.
Endlich mal ein ehrlicher Beitrag auch von Seiten des Klerus, mit fachlich fundierten und gut recherchierten Aussagen. Da gibt es ja doch noch einige Amtswürden-träger, die die Courage besitzen, Leute in den eigenen Reihen zu kritisieren, weil sie nicht in der Lage sind, ein längst überfälliges und geeignetes „Krisenmanagement“ in die Wege zu leiten und zum erneutem aktuellen Skandal in der Kirche immer noch keinerlei Stellung nehmen. Lob dem Geistlichen (war er Patoralassistent oder Kaplan) von Augsburg.
Jetzt noch eine ganz andere Frage? Wurde das 2. Projekt im Formum (coming-out) herausgenommen? Wenn ja, warum? Gab es Probleme? Wenn ja, welche? Wir sind schon groß :-).
Nichts für ungut…
Sarah M.