FR-online.de 7.02.2010
Internationale Tagung auf dem Campus Westend behandelt Vererbung von Traumata
Von Alicia Lindhoff
Wir Kinder der Kriegskinder“, „Die Gesellschaft der Überlebenden“ oder einfach „Kriegsenkel“: So oder ähnlich lauten die Titel auf dem großen Tisch im Untergeschoss des Bücherhauses Hugendubel. Die Auswirkungen der Kriegserfahrungen auf die heutige Gesellschaft – 65 Jahre nach Kriegsende bewegt die Deutschen das Thema.
Und nicht nur die. Vom 5. bis zum 7. Februar tagt in Frankfurt eine Konferenz der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPA). Drei Tage lang befassen sich dort renommierte Wissenschaftler aus aller Welt mit den „langen Schatten früher und später Traumatisierungen“. Vor einem solchen Hintergrund liegt es nahe, die Folgen des vielleicht größten kollektiven Traumas der westlichen Welt in den Fokus zu nehmen: Die Shoa. Schon seit geraumer Zeit ist bekannt, dass in Familien mit Extrem-Traumatisierungen, wie sie bei Holocaustüberlebenden, aber auch auf der Täterseite vorhanden sind, die Traumata an die zweite und dritte Generation weitergegeben werden. Aus psychologischer Sicht ist das nicht verwunderlich: „Für die normale Entwicklung von Kindern ist es essentiell, dass sie von ihren Eltern eine Art ,Urvertrauen´ in die Welt vermittelt bekommen“, erläutert Marianne Leuzinger-Bohleben, Direktorin des Frankfurter Sigmund-Freud-Institutes. Sei dieses Vertrauen bei der Mutter nicht vorhanden, könne sie es auch nicht auf ihr Kind übertragen. „Bei traumatisierten Müttern kommt bei jedem Schrei des Kindes wieder die alte Angst und Hilflosigkeit hoch.“
Neu ist aber, was Wissenschaftler jetzt in einem beispiellosen Zusammenspiel von Genforschung und Psychoanalyse herausgefunden haben: Eine solche Übertragung von Traumata auf die nächste Generation ist auch genetisch belegbar. Der US-Forscher Stephen Suomi hat bei Langzeitstudien mit Rhesusaffenbabys einen Zusammenhang zwischen Kindheitsumfeld und Genstruktur entdeckt.
Die Erbanlagen von Affen, deren Mutter in ihren ersten Lebensmonaten abwesend oder nicht in der Lage war, sie zu schützen, verändern sich demnach so, dass sie später eher zu Angst und Aggression neigen als ihre Artgenossen, die mit einer sorgenden Mutter aufwachsen. In seinem Vortrag am Sonntag wird Suomi die neuen Impulse in der Psychotherapie vorstellen, die seine Forschungsergebnisse liefern könnten.
Charles Hanly, Präsident der IPA, bescheinigt Frankfurt eine bedeutende Rolle in der internationalen Psychoanalyse. Besonders die Präventionsstudien des Sigmund-Freud-Institutes zur Förderung von Kindern aus problematischen Verhältnissen hebt er als wegweisend hervor.
Dass die Psychoanalyse auch in anderen Bereichen nicht nur graue Theorie ist, sondern ganz nah an gesellschaftlichen Problemen ansetzt, macht Hanly selbst deutlich: Der kanadische Psychoanalytiker beschäftigt sich seit Jahren mit Ursachen von Depressionen, Persönlichkeitsstörungen und Suizidgefährdung. Ein Großteil der Patienten habe in jungen Jahren mit sexuellem Missbrauchs zu tun gehabt, erzählt er.
Seine Erfahrungen zeigten, dass „menschengemachte“ Traumata bei ihren Opfern oft größere psychologische Zerstörungen auslösen als etwa Naturkatastrophen. Vor allem dann, wenn der Missbrauch durch eine Person geschehe, die dem Opfer nahestehe oder – wie in den aktuell aufgedeckten Fällen des Missbrauches während kirchlicher Jugendarbeit – eine erzieherisch wirke. Abermals spricht der Wissenschaftler vom „Urvertrauen“, das dann verloren gehe.
Zudem glaubten die Opfer von Missbrauch meist, schuldig am Geschehenen zu sein. „Es klingt vielleicht zynisch, aber für ein Erdbeben wie in Haiti wird sich keiner der Betroffenen verantwortlich fühlen“, erklärt Hanly den Unterschied zwischen „äußeren“ und „inneren“ Traumata.
Quelle:
http://www.fr-online.de/frankfurt_und_hessen/campus/2277538_Alte-Angst.html
Hallo,
mich baut es sehr auf, wenn ich lese, dass sich die Psychoanalytiker wieder mehr gesellschaftlichen Zusammenhängen öffnen, also auch politische Einflüsse diskutieren und in Frage stellen und sie sich mit anderen Professionen austauschen, z.B. mit Neurophysiologen.
Möge das ein Trend werden.
Ein großes Handicap bei der Professionalisierung im Bereich „Arbeit mit sexuelle Traumatisierten“ ist der mangelhaft Erfahrungsaustausch der einzelnen Berufsgruppen.
Insgesamt wird sogar innerhalb einer Profession zu wenig voneinander gelernt.
Fachübergreifendes Denken und Lernen sollte wieder ein Qualitätsstandard werden. Ganz in der Tradition von Wissenschaftlern wie z.B. Alexander Humboldt.
Das „Super-Expertentum“ ist für so ein komplexes Thema wie „sexuelle Traumatisierung“ einfach der falsche Ansatz.
Grüße von Angelika Oetken, Berlin