Ein Pfarrer vergriff sich über Jahre hinweg an Norbert Denef / Das Opfer leidet noch heute

Norbert Denef kann verstehen, warum die Opfer am Berliner Canisius-Kolleg so lange geschwiegen haben. Was der Missbrauch anrichtet und warum er die Aufklärung der Kirche für „Theater“ hält, erklärt Denef im Gespräch mit Antje Hildebrandt.

MAZ: Wundert es Sie, dass der Rektor des Canisius-Kollegs, Klaus Mertes, erst jetzt über Missbrauchsfälle aus den siebziger Jahren informiert hat?

Norbert Denef: Nein, dieses Schema ist typisch. Erst versucht man, diese Fälle zu verschweigen, zu vertuschen. Man geht erst nach draußen, wenn man schon mit dem Rücken zur Wand steht. Dann tut man so, als wäre man um Aufklärung bemüht.

Immerhin ist die Kirche von sich aus an die Öffentlichkeit getreten. Ein mutiger Schritt?

Denef: Nein, mutig war, dass die Opfer schon vor Jahren versucht haben, etwas zu bewegen. Ich verstehe nicht, warum die Schulleitung erst jetzt darauf reagiert hat.

Es heißt, die Opfer hätten um Diskretion gebeten.

Denef: Das ist doch Theater. Erst reagiert man nicht, dann schiebt man die Schuld auch noch den Opfern zu. So versucht man sich reinzuwaschen.

Sie unterstellen den Verantwortlichen, sie hätten auf Zeit gespielt?

Denef: Ja, die Verjährungsfrist für eine Anklage wegen sexuellen Missbrauchs läuft nach zehn Jahren ab. Die Opfer können jetzt zivilrechtlich keine Ansprüche auf Schmerzensgeld mehr erheben.

Warum haben Sie selber 35 Jahre geschwiegen?

Denef: Wer so etwas erlebt hat, spaltet die Erinnerung daran ab, um nicht jedes Mal wieder den Schmerz erleben zu müssen. Hirnforscher können diesen Prozess neurochemisch erklären. Es fehlen bestimmte Verbindungen im Hirn, die lösen dieses Schweigen aus.

Sie haben auch als Kind nicht darüber gesprochen?

Denef: Nein, man hätte mir die Zunge abschneiden können, ich hätte nicht geredet.

Weil der Pfarrer Sie unter Druck gesetzt hat?

Denef: Nein, Täter, die ihre Opfer einschüchtern, sind eher die Ausnahme. Das haben die gar nicht nötig. Das Kind ist von ihnen abhängig.

Was geht in einem Kind vor, wenn der Pfarrer plötzlich zudringlich wird?

Denef: Ich erinnere mich daran, dass ich als Zehnjähriger auf seinem Sofa lag und seinen Schwanz im Mund hatte. In der Seitenwand des Schreibtisches nebenan war ein Loch. Darin habe ich mit meinen kleinen Fingern herumgebohrt, so lange, bis die Scheiße vorbei war. Es klingt vielleicht merkwürdig, aber dieses Loch hat mir geholfen, den Missbrauch auszublenden.

Ein Pfarrer gilt als Autorität, als Vertrauter oder Vorbild eines Kindes . . .

Denef: Er ist gottgleich, mit dem Papst als Chef. Sehen Sie, meine Mutter war alleinerziehend, fünf Kinder. Ich wurde gezeugt, um die Ehe meiner Eltern zu retten. Die Kirche stand immer an erster Stelle. Ich war für diesen Pfarrer ein dankbares Opfer.

Hätte Ihnen Ihre Mutter nicht geglaubt?

Denef: Nein, meine Familie grenzt mich aus, seit ich mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen bin. Der Organist, einer der beiden Täter, stammt aus dem Umfeld meiner Familie. Das macht die Sache kompliziert.

Kinder werden heute früher aufgeklärt. Das Ziel ist, sie zu starken Persönlichkeiten zu erziehen. Hilft das?

Denef: Im Einzelfall vielleicht schon. Generell lassen sich Kinder aber leicht manipulieren. Je weniger Liebe ein Kind erfahren hat, desto mehr Zuneigung braucht es. Das nutzen die Täter aus.

Sind die Täter in Ihrem Fall verurteilt worden?

Denef: Nein, der Pfarrer wurde einige Male strafversetzt. Der Organist wurde prunkvoll in den Ruhestand verabschiedet.

Zeigten die beiden Täter Reue?

Denef: Der Pfarrer war sich keiner Schuld bewusst. Als ich ihn zur Rede gestellt habe, hat er gesagt, das sei doch alles nicht so schlimm gewesen. Der Organist sagte: „Die Frage ist doch, wer angefangen hat.“ Er ist zehn Jahre älter als ich.

Was hat der Missbrauch mit Ihnen angerichtet?

Denef: Er hat meine Seele getötet. Nach außen hin habe ich bis zum 40. Geburtstag unauffällig gelebt. Ich habe geheiratet, zwei Kinder gezeugt. Ich war süchtig nach Arbeit. Aber innerlich fühlte ich nichts. Ich muss noch heute in kochend heißem Wasser baden, um mich zu spüren.

Wann war der Druck so groß, dass Sie Hilfe suchten?

Denef: Es war in einem Spanienurlaub mit der Familie. Ich konnte plötzlich nicht mehr sprechen. Vier Wochen lang. In meiner Wut darüber bin ich dann mit 220 Sachen mit dem Auto nach Hause gerast. Meine Frau hat mir danach die Pistole auf die Brust gesetzt: „Du musst was tun.“

Sie waren in zig Kliniken. Warum konnte Ihnen bis heute kein Therapeut helfen?

Denef: Ach, nur wenige Therapeuten haben dafür eine geeignete Ausbildung. Und wenn man sich einmal geöffnet hat, geht der Stress doch erst richtig los. Dieser Schaden bleibt an einem hängen.

Sie sind das erste Missbrauchsopfer, von dem man weiß, dass es von der katholischen Kirche entschädigt wurde. Wie haben Sie das geschafft?

Denef: Indem ich dafür gesorgt habe, dass mir beide Täter ihr Geständnis schriftlich gegeben haben. Ich hatte das riesengroße Glück, dass mir ein ranghoher Mitarbeiter der Kirche Einblick in die Personalakten gegeben hat. Damit konnte ich die Amtskirche, das Bistum Magdeburg, unter Druck setzen. In den Akten stand, dass meine Geschichte kein Einzelfall war.

Glauben Sie, dass der Skandal am Canisius-Kolleg zu einer Neubewertung Ihrer Petition vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte führt?

Denef: Ich hoffe es. Dieser Skandal hat mir die Tür zu den Medien geöffnet. Dafür habe ich jahrelang gekämpft.

Bis vor den Europäischen Gerichtshof: Der zähe Kampf um Anerkennung
Norbert Denef, geboren 1949, wurde als Kind über acht Jahre lang von einem Pfarrer und einem Kirchenorganisten im sächsischen Delitzsch missbraucht. Das Opfer litt später jahrelang unter Depressionen, ist heute berufsunfähig.
Als erstes bekanntes Missbrauchsopfer erhielt Denef von der katholischen Kirche eine Abfindung in Höhe von 25.000 Euro. Die Zahlung war an eine Schweigeklausel geknüpft. Denef machte seinen Fall trotzdem öffentlich – die Kirche nahm die Klausel zurück.
Denef kämpft vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dafür, dass die Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch im Zivilrecht abgeschafft wird. Damit sollen Opfer auch Jahre später Ansprüche geltend machen können. Der Bundestag hatte eine Petition 2008 abgelehnt.
Das Buch, das Denef über seinen Fall schrieb, ist nicht mehr im Handel erhältlich. Restexemplare kann man über Denefs Homepage beziehen: www.norbert.denef.com MAZ

Quelle:

http://www.maerkischeallgemeine.de/cms/beitrag/11723960/62249/Ein-Pfarrer-vergriff-sich-ueber-Jahre-hinweg-an.html