Missbrauch in der katholischen Kirche
Das Schweigen der Hirten
Von Jörg Schindler
Berlin. Im Herbst 2002 mochten auch die deutschen Bischöfe nicht länger wegsehen. Nach einer Serie von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche sahen sich die Hirten gezwungen, hierzulande zu reagieren. Gerade erst war im Vatikan, ausgelöst durch beschämende Skandale in den USA, ein Krisengipfel zuende gegangen. Weil auch deutsche Priester immer wieder in die Schlagzeilen geraten waren, beschloss die Bischofskonferenz, zu handeln. Sieben Jahre nach ihren Amtskollegen aus den Niederlanden, sechs Jahre nach Österreichs Bischöfen und eineinhalb Jahre nach ihren südafrikanischen Glaubensbrüdern veröffentlichten sie Leitlinien zum „Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger in der katholischen Kirche“.
Auf den ersten Blick las sich das Regelwerk beeindruckend. „Die Fürsorge der Kirche gilt zuerst dem Opfer“, hieß es unmissverständlich in dem etwas anderen Hirtenbrief. In allen Bistümern würden künftig zentrale Anlaufstellen für Missbrauchsopfer geschaffen; diese werde man „im Einzelfall“ auch finanziell unterstützen. Die Täter dagegen werde man kirchenintern maßregeln, gegebenenfalls auch die staatlichen Strafverfolgungsbehörden einschalten. Nie mehr würden die gefallenen Priester „in Bereichen eingesetzt, die sie mit Kindern und Jugendlichen in Verbindung bringen“. So weit die Theorie.
Was in der Praxis von den hehren Leitlinien zu halten ist, wurde fünf Jahre später im Herrschaftsgebiet des Regensburger Bischofs Gerhard Ludwig Müller deutlich. Dieser hatte 2004 seinem Pfarrer Peter K. die 800-Seelen-Gemeinde Riekofen bei Regensburg überantwortet. Was er für sich behielt: K. war vier Jahre zuvor wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt worden. Als die Sache 2007 aufflog, weil K. sich erneut an Minderjährigen vergriffen hatte, rechtfertigte sich Bischof Müller mit einem Gutachten, wonach der Pfarrer als geheilt von seiner pädophilen Neigung galt. Dass Fachleute Pädophilie für unheilbar halten, war ihm wohl entgangen.
Ein Einzelfall? Eher nicht. Im Zuge des Missbrauchs-Skandals am Berliner Canisius-Kolleg wurde in Berlin ein neuer Vertuschungsfall bekannt. Diesmal an der katholischen Kirchengemeinde Heilig Kreuz in Hohenschönhausen. Deren Gemeinderat erfuhr erst jetzt, dass ihr Priester sich 2001 an einem Kind vergangen haben soll. Berlins Erzbischof Georg Kardinal Sterzinsky war schon im Juli 2009 informiert und suspendierte den Geistlichen – aus „gesundheitlichen Gründen“.
Fälle wie diese sind es, die Bernd Hans Göhrig, den Geschäftsführer des ökumenischen Netzwerks „Kirche von unten“ grundsätzlich skeptisch stimmen, ob Deutschlands katholische Bischöfe tatsächlich an Aufklärung interessiert sind. Göhrigs Initiative hatte schon 2002 „schwerwiegende Zweifel“ an den Leitlinien der Ober-Hirten angemeldet. Diese seien vorwiegend „täterorientiert“ und ermöglichten Kirchen sogar die Strafvereitelung. Im Jahr 2007 wiederholte die Initiative ihre Kritik und wies, nach etlichen weiteren Skandalen, nachdrücklich darauf hin, dass sexuelle Gewalt bei den Katholiken „ein strukturelles Problem“ sei. Die Einwände wurden gehört – und dann beiseite gewischt.
Dabei liegt das Problem nach Göhrigs Dafürhalten auf der Hand. Anders als oft behauptet sei der Zölibat – also die erzwungene sexuelle Enthaltsamkeit von Priestern – nicht so sehr Ursache für die stetige Wiederkehr von Missbrauchs-Skandalen. Vielmehr begünstige „das System katholische Kirche“ mit seinen festgefahrenen Machtstrukturen die sexuelle Gewaltausübung von geweihten Amtsträgern. Unter Glaubensbrüdern herrsche nach wie vor ein „Korpsgeist“, der dazu führe, das einer den anderen decke.
Ähnlich sieht es Sigrid Grabmeier, Sprecherin von „Wir sind Kirche“. Sie bezweifelt, dass die Kirche über ausreichende Selbstreinigungskräfte verfügt. Zwar wurden mit den Leitlinien von 2002 in allen Bistümern Anlaufstellen für Missbrauchsopfer geschaffen. Nur säßen dort zumeist selbst Verantwortliche in Priesterrobe, sagte Grabmeier der Frankfurter Rundschau. „Das sind Brüder im Amt – da pinkelt man sich nicht ans Bein.“ Seit Jahren fordern die kircheninternen Kritiker unabhängige Ombusleute wie Ärzte, Juristen oder Therapeuten. Mit mäßigem Erfolg.
Um die Katholiken zum Umdenken zu zwingen, sammelt der ehemalige Ministrant Norbert Denef seit geraumer Zeit im Internet Unterschriften. Sein Ziel: Er will vor dem Europäischen Menschenrechts-Gerichtshof eine Aufhebung der im deutschen Zivilrecht gültigen Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch erreichen. Dann hätten Opfer ein Recht auf Entschädigung. Denef war als Kind von Priestern missbraucht worden und stritt mit dem Bistum Magdeburg jahrelang um ein angemessenes Schmerzensgeld. 25000 Euro wollten die Kirchenmänner ihm zunächst zahlen, aber nur, wenn er „alles unterlasse“, um das Thema publik zu machen. Das war im November 2003 – ein Jahr, nachdem die Bischöfe ihre Leitlinien vorgestellt hatten.
Quelle:
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/aktuell/2259398_Das-Schweigen-der-Hirten.html
Ich bezweifle ebenfalls, „dass die Kirche über ausreichende Selbstreinigungskräfte“ verfügt.
Was passiert denn gerade?
Die große Aufregung ist doch nicht entstanden, weil bekannt wurde, dass es sexualisierte Kindesmisshandlung in den Einrichtungen der katholischen Kirche gibt. Die Aufregung ist entstanden, weil sich 1.) endlich mal ein einigermaßen einflussreicher Mensch auf die Seite der Opfer gestellt hat. Die Aufregung ist außerdem entstanden, weil es sich 2.) bei den Opfern um männliche, so genannte „Elite-Schüler“ handelt. Als es noch „nur“ – zwar ebenfalls zahlreiche, aber eben weniger unterstützte – um Ministranten ging, hat doch kein Hahn öffentlich danach gekräht. Die Kirche hat gemauert wie immer, und nach ein paar Aufregern im SPIEGEL und bei Maischberger wandte sich die Öffentlichkeit wieder von den Opfern der katholischen Kirche ab. Die Politik findet noch immer, dass das mit der bisherigen Verjährungsfrist für Seelenmord in Ordnung geht.
Es wird nach wie vor geschwiegen über die Opfer, die der ausgewanderte Priester sich nun ganz ungestört und bar jeden Versteckens in den Slums von Südamerika aussuchen kann.
Und es wird nach wie vor (und ich prophezeie auch weiterhin) geschwiegen über die zahlreichen – ja eigentlich DIE MEHRHEIT DER OPFER – Mädchen (und Frauen), die innerhalb der Familie jahrein jahraus Opfer sexualisierter Gewalt werden bzw. geworden sind. Sie machen den weitaus größten Teil der Betroffenen aus, doch nach ihnen kräht schon erst recht kein Hahn auch nur ansatzweise. Sie haben – weil sie atomisiert in ihren Familien den Tätern alleine ausgeliefert sind, weil es sehr schwierig ist, weitere Betroffene ein und desselben Täters aufzutun (Beweiskraft), und weil es darüberhinaus DENNOCH „nur“ als Einzelfall, als Tat EINES besonders „triebgestörten“ Täters angesehen wird – keine Chance, jemals auch nur den Funken dieser Aufmerksamkeit und dieses Hypes zu bekommen, wie ihn diese „Elite-Schüler“ gerade bekommen.
(Um nicht falsch verstanden zu werden: Es ist toll, dass diesen Betroffenen nun (vielleicht) Gerechtigkeit wiederfährt und dass ihr Leid an die Öffentlichkeit kommt!)
Wenn man es genau nimmt, bekommen ja nicht mal diese „Elite-Schüler“ die Aufmerksamkeit. Denn das eigentliche Interesse gilt – wieder mal – den Tätern. Wieviele sie waren, an welchen Schulen sie unterrichtet haben, wohin sie ausgewandert sind, ob sie „triebgestaut“ oder einfach nur „homosexuell“ sind, ob sie mit dem Zölibat nicht zurecht gekommen sind, ob ihnen früher hätte ein Strich durch ihre perverse Rechnung hätte gemacht werden müssen, etc. pp.
„Es ist der Täter, der im Vordergrund steht. Von ihm scheint eine große Faszination auszugehen“, schreibt Monika Gerstendörfer („Der verlorene Kampf um die Wörter“). „Die Opfer und ihr TATSÄCHLICHES Leiden, ihre Perspektive, bleiben in der Regel außen vor. Von ihnen und ihrem Leiden geht keine Faszination aus.“ (Hervorhebung durch mich)
Und noch viel schlimmer: Sie bleiben als „Geschändete“ stigmatisiert, ihnen wird auf perfide Weise die „Schande“, die der Täter auf sie projiziert (und ausgeübt!) hat, angelastet.
DAS ist häufig EIN Grund, warum sie lieber schweigen und still leiden.
DESHALB ist es für die Täter so interessant, ihre Gewalttaten mit Sexualität zu verknüpfen.
Das lenkt ab von der Gewalt und bringt die KINDLICHEN Opfer in Zusammenhang mit Sexualität. Und „sowas“ sollte man als Kind doch nicht machen!!! läuft die Gedankenspur in den Köpfen weiter. Und schwupps landet das „Schmutzige“, die „Verfehlung“, der „Fehltritt“ beim kindlichen Opfer. Ist es dazu noch weiblich, kommt die Unterstellung „Verführung“, „Lolita“, „die wollte das doch eigentlich“ noch dazu.
Und der Täter ist fein raus.
Wenn wir Betroffenen uns also einerseits diese Berichte und Berichterstattung ansehen, sollten WENIGSTENS WIR nicht vergessen, WAS ALLES hier eigentlich NICHT GESAGT, NICHT GEZEIGT wird. Und wir sollten – so weit es jeder/jedem einzelnen von uns möglich ist – immer wieder darauf hinweisen, wer WIRKLICH im Mittelpunkt stehen sollte, wer WIRKLICH alle Aufmerksamkeit und alles Interesse verdient, wer WIRKLICH Betroffene/r ist und Unterstützung beispielsweise durch KOMPETENTE Therapie, ein echtes „Opferentschädigungsgesetz“ und die Möglichkeit, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, benötigt.