„Das Schweigen muss gebrochen werden“
Donnerstag, 28. Januar 2010 10:50 – Von Jens Anker und Michael Behrendt
Über Jahrzehnte hinweg sind Schüler eines Berliner Elitegymnasiums von Lehrern sexuell missbraucht worden: Am dem von Jesuiten betriebenen katholischen Canisius-Kolleg in Berlin-Tiergarten haben sich demnach mindestens zwei als Lehrer eingesetzte Padres an Jungen vergangen. Der amtierende Rektor der Schule will nun mit einer ungewöhnlichen Aktion weitere Opfer aufspüren.
Das Elite-Gymnasium Canisius-Kolleg in Tiergarten und seine Mitarbeiter sehen schweren Zeiten entgegen. Pater Klaus Mertes ist sich bewusst, mit seinen spektakulären Briefen an ehemalige Schüler seiner Einrichtung eine Welle ausgelöst zu haben, deren Ausmaß zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehbar ist. Nach den offenbar jahrelangen und systematischen sexuellen Übergriffen von mindestens zwei Padres auf Schüler des Elite-Gymnasiums steht der Ruf der Schule auf dem Spiel. „Ich fühle mich aber in erster Linie den Opfern verpflichtet und nicht so sehr dem Ansehen der Schule oder meiner eigenen Person“, sagt Mertes.
Damit erklärt Mertes sein ungewöhnliches Vorgehen. Der Schulleiter hat am 19. Januar einen Brief an alle ehemaligen Schüler des Gymnasiums der 70er- und 80er-Jahre geschrieben, der der Berliner Morgenpost vorliegt. In diesem entschuldigt er sich für die Übergriffe. „Neben der Scham und der Erschütterung über das Ausmaß des Missbrauchs in jedem einzelnen Fall und in der Anhäufung müssen wir uns seitens des Kollegs die Aufgabe stellen, wie wir es verhindern können, heute durch Wegschauen wieder mitschuldig zu werden.“
Nach den bisherigen Erkenntnissen der Schule haben sich mindestens zwei Padres offenbar jahrelang systematisch an Schülern vergangen, die die Schule und die angeschlossene Freizeiteinrichtung besuchten. Diese beiden Männer sind nicht mehr im Orden aktiv und spätestens Ende der 80er-Jahre ausgetreten.
Pater Mertens bedauert in seinem Schreiben unter anderem, dass im Canisius-Kolleg und im Jesuiten-Orden schon vor vielen Jahren einzelne Fälle offenbar bekannt geworden sind, die Verantwortlichen aber weggesehen haben. „Allein schon deswegen gehen die Missbräuche nicht nur Täter und Opfer an, sondern das ganze Kolleg, sowohl die Schule als auch die verbandliche Jugendarbeit.“ Die „Gemeinschaft christliches Leben“ bietet am Canisius-Kolleg Freizeitaktivitäten nach der Schule an. Auch dabei ist es offenbar zu Übergriffen gekommen.
Mertes fordert die Opfer dazu auf, an die Öffentlichkeit zu gehen. „Das Schweigen muss gebrochen werden.“ Die wichtigste Botschaft sei, dass die Opfer der Schule und dem Orden dadurch nicht schaden, sondern im Gegenteil helfen würden, die Missstände der vergangenen Jahre aufzuklären.
Ihm seien nach der Veröffentlichung eines Aufsatzes in einer jesuiteninternen Zeitung über die Aufklärung sexuellen Missbrauchs mehrere Fälle bekannt geworden. „Dabei hat mich neben der Quantität vor allem die Qualität erschüttert. Erst vor zwei Wochen ist mir die mögliche Größenordnung bewusst geworden. Da die Täter systematisch vorgegangen sind, gehe ich von einer großen Dunkelziffer aus, die hoffentlich nun erhellt werden kann.“
Deswegen habe er sich in Gesprächen mit den bisher bekannten Opfern dazu entschieden, die kompletten Jahrgänge aus den 70er- und 80er-Jahren anzuschreiben. „In tiefer Erschütterung und Scham wiederhole ich meine Entschuldigung gegenüber allen Opfern von Missbräuchen durch Jesuiten am Canisius-Kolleg“, schreibt Mertes in seinem Brief.
Angaben zu den Opfern und den Dingen, die ihnen im Detail angetan worden sind, will der Pater nicht machen. Als Schulleiter vertrete er gewissermaßen die Täterseite, ohne selbst Täter zu sein. Daher verbiete es sich, als Stellvertreter der Opfer zu sprechen.
Als Ansprechpartner für die Opfer hat die Schule die Anwältin und Mediatorin Ursula Raue benannt. Bereits seit 2007 soll sie zwischen Tätern und Opfern vermitteln. Nach Angaben von Frau Raue hat es bereits mehrere vermittelnde Gespräche zwischen den Betroffenen gegeben. Angaben zu deren Inhalten machte sie aus Gründen der Verschwiegenheitspflicht nicht.
Berlins Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) erfuhr gestern von der Berliner Morgenpost von dem jahrelangen Missbrauch an der Schule, die auch von ihren drei Kindern besucht worden war. „Bei uns zu Hause war dies nie ein Thema, meine Kinder haben von diesen Dingen glücklicherweise nichts mitbekommen. Wir haben sie so erzogen, dass sie sich aber an uns gewandt hätten. Ich habe Respekt vor dem Schritt von Pater Mertes, die Missstände an die Öffentlichkeit zu bringen.“
Pater Klaus Mertes ist seit zehn Jahren Rektor des renommierten Canisius-Kollegs an der Tiergartenstraße im Bezirk Mitte. Sie gilt seit Jahrzehnten zusammen mit dem Grauen Kloster und dem Französischen Gymnasium als Berliner Elite-Schule und ist eines von drei Jesuiten-Kollegien in Deutschland. Das berühmteste ist das Internat Sankt Blasien am Bodensee. Der 55-jährige Schulleiter entstammt einer Diplomaten-Familie, verbrachte seine Kindheit im Ausland und trat mit 23 Jahren in den Jesuiten-Orden ein. Seit 1990 ist er im Schuldienst. Er ist Autor mehrerer Bücher und ein viel gefragter Gesprächspartner. Seit 2008 hat er zudem das Amt des Leiters der Kirche Maria Regina Martyrium, der Gedenkkirche der Katholiken in Deutschland für die Opfer des Nationalsozialismus, inne.
Die kommenden Tage schrecken ihn eigenen Angaben zufolge nicht. Er wisse zugleich nicht, welches Ausmaß der Skandal annehmen werde, sagt Mertes. Er sei jedenfalls auf alles gefasst.
Quelle:
http://www.morgenpost.de/berlin/article1246729/Das-Schweigen-muss-gebrochen-werden.html
Sehr geehrter Pater Klaus Mertes,
meine Hochachtung und meinen aus tiefstem Herzen empfundenen Dank für Ihren mutigen, aber einzig richtigen Schritt!!
Sie haben damit den Opfern/Betroffenen schon sehr, sehr viel Unterstützung zukommen lassen – auch wenn Ihnen das (noch) garnicht bewusst sein mag.
Ihr offensiver Umgang mit den Informationen über die Vorfälle an Ihrer Schule, ihre spürbare Empörung und Erschütterung über die sexualiserten Misshandlungen durch Lehrer Ihrer Schule an Ihnen anvertrauten Schülerinnen und Schülern ist ein EINDEUTIGES Signal, sich einzig und allein auf die Seite der Opfer/Betroffenen zu stellen.
Und das ist so wichtig für uns Betroffene.
Es zeigt, dass es noch eine „Ordnung“ gibt, dass es noch (andere) Menschen gibt, die an einer „Ordnung“ festhalten wollen (zum Beispiel Sie).
Wir Betroffenen mussten in unserem Leben schmerzlich erfahren, dass Erwachsene einfach daherkommen können und die Welt in „Unordnung“ bringen können. Wir mussten erleben, dass kein anderer Erwachsener um uns herum, auch keine Mutter, kein Polizist, kein Richter, kein Oberkirchenrat, keine Schulleitung, einfach NIEMAND sich daran störte, dass da jemand die Welt in „Unordnung“ bringt. Sie alle gaben uns dadurch das Gefühl, dass diese „Unordnung“ in „Ordnung“ wäre.
Und nun kommen Sie und bestätigen uns: NEIN, die „Unordnung“ ist nicht die wahre „Ordnung“!
Sie bestätigen damit: IHR FÜHLT RICHTIG. ES IST NICHT IN ORDNUNG, WAS EUCH GESCHEHEN IST!!!
Sie zeigen damit, dass es auf dieser Welt – die wir von ihrer schrecklichsten, dunkelsten Seite bereits als Kind erfahren mussten – noch „Menschen“ gibt, die wissen, was in „Ordnung“ ist, und was nicht.
Danke dafür.
Sehr geehrter Herr Pater Mertes,
es tut gut, endlich einen „Fürsprecher“ für traumatisierte Opfer zu erleben. Wie sehr hätte ich damals einen Menschen wie Sie gebraucht, der hinsieht, der den Mut hat, diese schrecklichen Dinge zu glauben und dagegen vorzugehen. Ich wurde jahrelang sexuell missbraucht, und das katholische Heim (Ordensfrauen) wussten davon und haben weggesehen. Mit 30 habe ich dann durch eine Traumatherapie all das Verdrängte wieder hochgeholt und konnte selbst nicht glauben, welcher Gewalt und Pädiphilität ich damals ausgesetzt war. Doch die Gegenüberstellungen mit den Tätern bestätigten all die Bilder, die in der Therapie hochkamen. Da aber auch bei mir die Verjährungsfrist schon lange abgelaufen war (was sicher jeder traumatisierte Betroffene sakastisch empfinden muss, wenn er erst durch schwere Depressionen Jahre oder wie ich Jahrezehnte später erst die Ursachen hierfür durch eine Therapie erfährt, hatte ich keine rechtliche Wiedergutmachung erfahren. Eine Entschuldigung kam bis heute nicht bei mir an. Deshalb möchte ich Ihnen insbesondere dafür heute danken, dass Sie uns allen zeigen und fühlen lassen, was wir jahrelang vermissten, dass Sie sich für die Ungerechtigkeit, die unter dem Deckmantel der Kirche stattfindet, aktiv werden. Mit freundlichen Grüßen
ein der vielen Opfern
Sehr geehrter Pater Mertes,
Sie haben in den Sommerferien 1964 als Gast am Zeltlager der Gerolsteiner Ministranten in Vierneburg/Eifel teilgenommen. Der Organisator und Leiter dieser Expedition, damals Kaplan in der Pfarrei Gerolstein/Eifel, wird beschuldigt in diesem Lager (und allgemein waehrend seiner Dienstzeit in Gerolstein von 1960 bis zu seiner Strafversetzung im Jahre 1965 nach Trier-Kuerenz) Kinder missbraucht zu haben.
Falls sie etwas zur Aufklaerung beitragen koennen, wenden Sie sich bitte an den Beauftragten fuer Missbrauch beim Bistum Trier, Praelat Rainer Scherschel, Tel. 0651/7105-220.
Vielen Dank
Alois Wolf
Hallo Alois Wolf,
gut zu wissen.
Würden Sie Ihren Vorschlag bitte auch an Johnny Hauesler, den Betreiber des Internet-Blogs „Spreeblick“ senden?
[link]www.spreeblick.com[/link]
Herr Hauesler ist ehemaliger Schüler des Canisius-Kolleg in Berlin und hat als Reaktion auf die Vorfälle dort einen sehr gut besuchten Blog eingerichtet.
Viele Betroffene haben sich an ihn gewandt.
Vielen Dank !
Angelika Oetken, Berlin