Delitzsch (red). Zum Interview der Woche vom 16./17. Januar. In dem der Frühere Oberbürgermeister Heinz Bieniek zum Fall Norbert Denef Stellung nahm, erreichten die Redaktion folgende Leser-Reaktionen. Wie berichtet, bemüht sich der Ex-Delitzscher Denef (60), der als Minderjähriger von einem Priester und dem Organisten der katholischen Gemeinde St. Marien sexuell missbraucht worden war, um öffentliche Aufarbeitung seines und des Schicksals anderer Opfer.

„Er versucht gar nicht erst, seine damalige Reaktion zu beschönigen“

Auf einer Website habe ich diesen Artikel gefunden und er beschreibt die typische Reaktion von erwachsenen Menschen auf die sexuelle Misshandlung von Minderjährigen in ihrem Umfeld so anschaulich, dass ich dazu noch etwas anmerken möchte.

Zuerst einmal möchte ich Herrn Bienieks Offenheit in diesem Interview anerkennen. Er versucht gar nicht erst, seine damalige Reaktion und sein Verhalten zu beschönigen.  Damit unterscheidet er sich von vielen anderen Verantwortlichen.
Das, was Herr Denef in Delitzsch als jugendliches „Opfer“ von sexueller Gewalt und dann später als Erwachsener nach seinem „Geständnis“ erlebt hat, spielt sich so oder so ähnlich überall ab. Es liegt nicht speziell an dieser Gemeinde, wie Herr Bieniek annimmt, sondern daran, dass weite Teile unserer Gesellschaft immer noch leugnen, dass sexueller Machtmissbrauch von Erwachsenen gegenüber Kindern alltäglich und fast schon „normal“ ist. Bei einer Verbreitungsrate von 5 bis 30 Prozent (je nachdem wie weit oder eng man sexuelle Übergriffe definiert), sind in einer Gruppe von 100 Kindern immerhin 5 von schwerstem sexuellen Missbrauch betroffen. Das ist in jeder Schulklasse durchschnittlich mindestens ein Kind. Jeder „Fall“, der ans Tageslicht kommt, stört den Prozess des öffentlichen Leugnens und Verdrängens dieser Tatsache. So etwas ist für den überwiegenden Teil unserer Bevölkerung offenbar sehr beängstigend und unbequem. Dem „Normalbürger“ stehen zwei Wege offen, mit dieser Erkenntnis umzugehen:

– Weiter leugnen, abwehren, das „Opfer“ der Lüge bezichtigen, es ausgrenzen
oder
– sich mit der Wahrheit auseinandersetzen, Handeln, etwas an der eigenen Einstellung und am Verhalten verändern.

Das Letztere nennt man Zivilcourage, nach einer Definition von Helmut Jaskolski (Buchautor und Friedenspädagoge) ist es
„Der Mut, in der Öffentlichkeit dem Unrecht an einem Menschen trotz eigener Gefährdung  entgegenzutreten“
Wie man das Erstere nennen muss, soll jeder, der bewusst wegguckt, selbst entscheiden.

Ob und wieweit sich Delitzscher Einwohner vor 40 Jahren selbst gefährdet hätten, wenn sie Herrn Denef und anderen Betroffenen damals geholfen hätten, können nur Menschen beurteilen, die zu der Zeit dort gelebt haben.
Ich hoffe, dass die Betreffenden für die Zukunft aus diesem Fall gelernt haben. Vielleicht haben einige Delitzscher aber auch nur darum so abwehrend und aggressiv auf Herrn Denef reagiert, weil er ihnen mit seinem Mut und seiner Offenheit bewiesen hat, was ihnen an menschlichen und bürgerlichen Tugenden fehlt.
Sei es drum. Delitzsch ist überall.

Angelika Oetken, 12555 Berlin

Nicht wissen wollen und Wegsehen schützt nur die Täter“

Unglaublich, unfassbar, haarsträubend, ernüchternd. Das ging mir spontan durch den Kopf, als ich das Interview mit dem ehemaligen Oberbürgermeister von Delitzsch, Herrn Heinz Bieniek, in Ihrer Zeitung las.

Als ebenfalls Überlebende von jahrelanger sexueller Gewalt, ausgeübt von zwei männlichen Familienangehörigen während meiner Schulzeit, weiß ich um die lebenslangen Folgen. Man spricht nicht umsonst von Traumatisierungen. Wer als Kind (meist über viele Jahre hinweg) der sexuellen Gewalt eines Erwachsenen ausgeliefert ist, erlebt einen so genannten traumatischen Stress. Nicht nur das Kind als Person ist mit der Situation völlig überfordert, sondern sein ganzes neuronales, genetisches, hormonelles und psychisches System ist es ebenfalls. Neueste Forschungsergebnisse belegen beispielsweise, dass solcherart Erlebnisse die Aktivität von Genen, die bei der Verarbeitung von Stress eine Rolle spielen, dauerhaft verändern. Auch wurde herausgefunden, dass Stress in der frühen Kindheit dauerhaft das Immunsystem schwächen kann.

Wer als Kleinkind extremen Stress oder Traumen erlebt hat, ist später eher von Depressionen oder Angststörungen betroffen, haben jüngst Forscher des Münchner Max-Planck-Instituts für Psychiatrie herausgefunden. Die Fachliteratur berichtet, dass kindliche Opfer von sexueller Gewalt als Erwachsene signifikant häufiger unter Schlaflosigkeit, sexuellen Störungen, Autoaggressivität und Reizbarkeit leiden, stärker selbstmordgefährdet und häufiger drogen- und alkoholabhängig sind. Leider hat sich bisher noch niemand die Mühe gemacht, herauszufinden, welche enormen Kosten beispielsweise im Gesundheitswesen, im Strafvollzug, bei Rentenversicherungsträgern (Stichwort Frühberentung), Kommunen, Arbeitgebern usw. durch die (versteckten) langfristigen Folgen von sexueller Gewalt von Erwachsenen an Kindern jährlich entstehen. Würden wir uns als Gesellschaft dies alles klar machen, könnten wir keinen Moment länger zögern, diese Machenschaften endlich wirksam zu unterbinden und die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Egal, ob sie beliebte Pfarrer, angesehene Väter oder tolle Judotrainer sind.

Offenbar haben in Delitzsch damals viele zumindest geahnt, dass ihr beliebter Pfarrer Alfons Kamphusmann „gewisse Neigungen“ hatte. Dennoch haben sie geschwiegen. Wie so viele, die solcherart Ahnungen bei ihrem Nachbarn, Bruder oder Fußballkumpel haben. Und damit die Kinder einfach ihrem Schicksal überlassen. Wenn wir Überlebenden uns dann – meist erst nach vielen, vielen Jahren der Scham und Selbstbeschuldigung – endlich an die Öffentlichkeit wagen und unsere Wahrheit aussprechen, dann treten wir natürlich denjenigen, die Ahnungen hatten, aber nichts unternommen haben, gehörig auf den Schlips. Das mögen die nicht. Deshalb müssen sich viele Überlebende auch dann wieder beschimpfen, der Übertreibung oder gar der Lüge bezichtigen lassen. Wie wäre es, endlich einmal die wahren Täter an den Pranger zu stellen und den Überlebenden so viel Unterstützung und Rückhalt anzubieten, wie nur möglich? Und zwar nicht aus einem diffusen Schuldgefühl heraus, nicht früher etwas unternommen zu haben. Sondern in dem Wissen darum, dass es schon heute auch meine Tochter, meinen Neffen, meine Enkelin betreffen kann, deren Leben durch Wegsehen und Schweigen unwiderruflich zerstört würde. Wegsehen und Nichtwissenwollen schützt nur die Täter, den Kindern hilft es nicht.

Petra Forberger, 89077 Ulm

Quelle:

Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch/Eilenburg 22.01.2010