Muss die katholische Kirche nicht zwingend die Polizei einschalten, wenn sich einer ihrer Priester an Minderjährigen vergeht? Nein, sagt Franz Riklin, Strafrechtsprofessor an der Universität Freiburg.

Beobachter:
Ein Priester vergreift sich an einem Kind und ist geständig. Die Diözese, bei der er angestellt ist, sieht von einer Anzeige ab und schickt ihn ins Ausland. Solche und ähnliche Fälle machten in letzter Zeit Schlagzeilen – und die Öffentlichkeit war irritiert, dass die Kirche nicht sofort die Polizei einschaltete. Macht sie sich damit nicht strafbar?

Franz Riklin:
Nein. Es besteht keine Pflicht, Strafanzeige zu erstatten. Auch nicht für die katholische Kirche.

Beobachter:
Ist das nicht strafbare Begünstigung?

Riklin:
Nein, die könnte erst vorliegen, wenn ein Priester von den Strafbehörden verfolgt wird und Kirchenvertreter ihn verstecken.

Beobachter:
Anderes Beispiel: Ein Priester missbraucht ein Kind und ist geständig. Das Opfer und dessen Eltern wollen Anzeige erstatten. Die Diözese bietet ihnen eine Entschädigungssumme an. Dafür sollen die Eltern auf eine Anzeige verzichten. Ist das strafbar?

Riklin:
Nein. Wie gesagt, es gibt keine Anzeigepflicht.

Beobachter:
Sich mit Geld das Schweigen der Opfer zu erkaufen ist strafrechtlich kein Problem?

Riklin:
Bei Vermögensdelikten etwa kommt es immer wieder vor, dass ein Beschuldigter dem Geschädigten eine Genugtuungssumme anbietet. Das ist nicht verboten.

Beobachter:
Aber?

Riklin:
Die Kirche hat eine moralische Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass sich die sexuellen Übergriffe nicht wiederholen. Wichtig ist, dass auf eine solche Tat reagiert und sie nicht einfach vertuscht wird. Dass man den Täter damit konfrontiert, ihn zur Auseinandersetzung zwingt und prüft, ob Rückfallrisiken bestehen. Eine Strafanzeige ist nicht die einzig mögliche Lösung.

Beobachter:
Nennen Sie mir einen guten Grund, bei sexuellen Übergriffen auf Kinder durch Priester auf eine Anzeige zu verzichten.

Riklin:
Ein Grund ist, wenn das Opfer keine Anzeige will. Oder wenn das Delikt sehr lange zurückliegt, ohne dass weitere Verfehlungen bekannt sind. Aus meiner Sicht ist auch wichtig, ob der Täter pädophil veranlagt ist. Nicht jede sexuelle Handlung mit Kindern und Jugendlichen lässt auf eine Krankheit schliessen, die dringend behandelt werden muss.

Beobachter:
Und wenn der Täter pädophil veranlagt ist?

Riklin:
Dann kann sich eine Anzeige aufdrängen. Pädophilie ist eine Krankheit mit grosser Rückfallgefahr, die man nur mit einer intensiven Therapie bekämpfen kann. Leider garantiert unser Straf- und Massnahmenvollzug in weiten Teilen nicht, dass solche Täter adäquat behandelt werden.

Beobachter:
Begeht die Kirche nicht Täterschutz, wenn sie den Opfern von sexuellen Übergriffen hohe Entschädigungssummen zahlt und sich so ihr Schweigen erkauft?

Riklin:
Natürlich schützt sie den Täter vor einem Strafverfahren. Im Zentrum steht für mich die Prävention und insofern auch der Opferschutz. Deshalb soll man in schweren Fällen auch auf das Strafrecht zurückgreifen. Ich bin aber kein Anhänger jener Glaubensrichtung, die meint, das beste Mittel zur Lösung unserer gesellschaftlichen Probleme sei stets und primär das Strafrecht.

Quelle:

http://www.beobachter.ch/justiz-behoerde/artikel/paedophile-priester_es-gibt-keine-anzeigepflicht/