17.01.2010 | PHILIPP AICHINGER (Die Presse)

Ein Mädchen wurde vergewaltigt. Gutachter und Erstgericht wollten dem Kind wegen seines unglücklichen Vorlebens nur die Hälfte der psychischen Schmerzen zugestehen. Das Höchstgericht widersprach.

WIEN. Zu behaupten, die junge Kärntnerin hätte eine schwierige Kindheit hinter sich, wäre noch eine Untertreibung. Mit sieben Jahren wurde sie von zwei zehnjährigen Nachbarskindern in einen Keller gelockt. Eines der Kinder nahm geschlechtliche Handlungen an dem Mädchen vor. Das Mädchen erzählte den Vorfall dem Freund ihrer Mutter. Statt ihr zu helfen, missbrauchte nun aber auch der Mann das Mädchen. Zwei Jahre später sollte sich dieser Vorfall wiederholen.

Der Mann wurde deswegen strafrechtlich verurteilt. Das Mädchen bekam als Privatbeteiligte symbolische 100 Euro Schmerzengeld zugesprochen. Bezüglich weiterer Ansprüche wurde das Kind auf den Zivilrechtsweg verwiesen. Strittig war dabei die Bemessung des Schmerzengelds. Denn der Gutachter erklärte, dass das Mädchen schon vor dem Übergriff durch den Mann eine Grundstörung aufgewiesen hatte. Sie war immer schon ein ängstliches Kind und verbrachte die ersten drei Lebensjahre in einem sehr schwierigen Umfeld. Weil das Mädchen auffallend klein gewachsen war, wurde es schon in jungen Jahren oft von anderen gehänselt. Der Vorfall im Keller mit gleichaltrigen Kindern führte aber noch zu keiner nachhaltigen Persönlichkeitsbeeinträchtigung, meinte der Gutachter. Auch die sexuellen Übergriffe des Mannes hatten keine unmittelbaren Auswirkungen auf das Wesen des Mädchens. Sehr wohl erheblich gestalteten sich aber die mittelbaren Folgen.

Familie lehnte Kind ab

Den Aufenthalt in der Abteilung für Kinder- und Jugendneuropsychiatrie erlebte das Kind als „unendlich“. Dazu kamen familiäre Probleme: Sowohl die eigene Mutter als auch die Großeltern glaubten dem Mädchen seine Beschreibung der Tat nicht. Sie besuchten daher das Kind im Krankenhaus kaum bis gar nicht. Das Mädchen litt unter einer Depression und einer massiven Traumatisierung. Besondere Angst machten dem Kind auch Aussagen des Täters: Er sagte schlimme Folgen bei einem weiteren Zusammentreffen nach seiner Haftentlassung voraus.
Angesichts der Vorgeschichte des Mädchens schlug der Gutachter vor, „bei der Beurteilung der vorfallskausalen Schmerzperioden mit einem 50-prozentigen Abzug vorzugehen“. Denn die Lebenssituation des Mädchens sei bereits vor der Vergewaltigung durch den Mann schwierig gewesen. Tatsächlich übernahm das Landesgericht Klagenfurt die Feststellungen des Gutachters, wonach das Mädchen sich einen 50-prozentigen Abzug beim Schmerzengeld gefallen lassen müsse. Als angemessen betrachtete das Gericht ein Schmerzengeld von 28.000 Euro. Der Täter wurde überdies zur Haftung für weitere Schäden verpflichtet.

Das Berufungsgericht hielt zwar fest, dass sich das Mädchen wegen des Vorlebens keinen Abzug beim Schmerzengeld gefallen lassen müsse, kurioserweise bemaß die zweite Instanz aber die Summe für das Schmerzengeld trotzdem geringer. Es verglich den Fall mit anderen Urteilen nach Vergewaltigungen und hielt einen Betrag von 10.000Euro für angemessen. Das Mädchen erhob Revision an den Obersten Gerichtshof (7Ob 160/09v). Und dieser hielt fest: „Im vorliegenden Fall wurde das Schmerzengeld so knapp bemessen, dass dies im Interesse der Rechtssicherheit aufzugreifen ist.“ Eine klare Absage erteilte der OGH der Ansicht, wonach sich das Mädchen wegen „vorhandener Vorschäden“ einen 50-prozentigen Abzug gefallen lassen müsse. Selbst wenn zwei Umstände (in diesem Fall ein schwieriges Vorleben und eine Vergewaltigung) nur zusammen einen Schaden bedingen, bleibe der Täter voll haftbar. Daran ändere auch nichts, dass der psychische Schaden erst nach der Vergewaltigung durch die Folgewirkungen (fehlende soziale Kontakte) eingetreten sei. Dass Beeinträchtigungen nach einem sexuellen Missbrauch noch durch das familiäre Umfeld verstärkt werden, sei nicht außergewöhnlich, so das Höchstgericht. In der Sache hielt es aber – wieder etwas kurios – die von der ersten Instanz festgelegte Summe für grundsätzlich richtig. Es sprach dem Mädchen 28.100 Euro Schmerzengeld zu. Die Rechenoperation in Gestalt der Halbierung war für den OGH zwar offenbar falsch, das Ergebnis aber doch richtig.

Kein begrenztes Glücksreservoir

Andreas Klete?ka, Zivilrechtsprofessor in Salzburg, hält die Erwägungen des OGH für richtig. „Man hat nicht nur ein begrenztes Glücksreservoir“, erklärt er. Wenn ein Mensch ein unglückliches Leben hatte, könne man nicht deswegen sein Schmerzengeld geringer bemessen. Es handle sich in diesem Fall auch nicht um einen Vorschaden. Dieser würde nur vorliegen, wenn das Kind dieselben psychischen Probleme etwa wegen einer genetischen Veranlagung auch ohne Vergewaltigung bekommen hätte, nur später. Nur dann hätte man das Schmerzengeld verringern können. In diesem Fall aber wären die Probleme ohne die Vergewaltigung gar nicht aufgetreten.

Quelle:

http://diepresse.com/home/recht/rechtallgemein/533461/index.do?from=gl.home_rechtspanorama