In dem Lehrbuch „Klinische Psychologie“ (Davison-Neale-Hautzinger), 7. Auflage, S. 511, steht zum Thema „Sexueller Missbrauch – Auswirkungen auf das Kind“ folgendes:
„Die unmittelbaren Auswirkungen von sexuellem Missbrauch auf ein Kind sind sehr unterschiedlich. Bei fast der Hälfte der Betroffenen scheint sich der Übergriff nicht negativ auszuwirken (Kuehnle, 1998).“
„Dieses Lehrbuch „Klinische Psychologie“ erscheint nun bereits in der 7. deutschsprachigen Auflage. Ohne Zweifel gehört es zu den erfolgreichen Einführungswerken und hat viele Generationen von Psychologen geprägt.“
Die Aussage, „bei fast der Hälfte der Betroffenen scheint sich der Übergriff nicht negativ auszuwirken“, hat aus meiner Sicht eine fatale Auswirkung für die Opfer. Denn nach dem Abbruch der Schweigemauer, oft erst viele Jahrzehnt nach dem Verbrechen, muss sich das Opfer fragen lassen: Gehörst Du denn überhaupt zu denen die Schaden genommen haben? Und der Kampf um die Anerkennung der Schäden beginnt! – aus diesem Grund schweigen die Opfer lieber, leiden ein Leben lang, werden verrückt oder machen andere verrückt und die es gar nicht mehr aushalten können, versuchen sich das Leben zu nehmen.
In der Zeit als ich über meine erlebte sexualisierte Gewalt noch nicht sprechen konnte, war es für mich unmöglich, das Ausmaß der Folgeschäden wahrzunehmen. Aus Angst Scham und Schuldgefühlen habe ich verdrängt, verleugnet und geschwiegen. Viele Jahrzehnte lang habe ich daran geglaubt, dass der „Übergriff“ sich nicht negativ ausgewirkt hat.
Wenn ich oft viele Nächte nacheinander nicht schlafen konnte
und dann erschöpft zusammenbrach
und keine Erklärung dafür hatte – –
das hab ich ja immer alles für normal gehalten, alles.
(er überlegt) Zweimal alles ist zuviel.
Das hab ich ja immer für normal gehalten. Alles.
Normal.
Die Konsonanten schwingen lassen.
Normmmmal- l – l – l – ll.
Jeder Verrückte denkt ja, er ist normal.
(Auszug aus „Alles muss raus“)
Erst nach 44 Jahren war ich dazu in der Lage meine Schäden des Verbrechens anzuschauen und sie zu akzeptieren. Ausführlich beschreibe ich das in meinem Buch „Ich wurde sexuell missbraucht“.
Anstatt den Opfern einreden zu wollen, dass „bei fast der Hälfte der Betroffenen sich der Übergriff nicht negativ ausgewirkt hat“, wäre es aus meiner Sicht wichtiger, auf folgende Fragen Antworten zu finden:
Warum gibt es in Deutschland keine Studie zu den psychologischen und gesellschaftlichen “Kosten” von Gewalt?
Was bedeutet Gewalterleben/Traumatisierung denn wirklich: für die Opfer, für die gesamte Gesellschaft?
Die Studien anderer Länder zeigen ALLEIN für die sog. häusliche Gewalt Beträge in Milliardenhöhe! Und was wäre, wenn man sexualisierte Kindesmisshandlung noch in solche Studien aufnehmen würde? Beträge, die alle zahlen müssen…
Wie hoch wären die kurz-, mittel- und langfristigen Kosten?
Können und wollen wir uns das wirklich leisten?
Müsste eine Gesellschaft hier nicht werten und sagen: “Moment mal! Die Betroffenen von Gewalt sind uns wichtiger. Sie brauchen…”?
Hoffnungsvolle Grüße
Norbert Denef
@ Norbert: Die schwammige – und sehr unwissenschaftliche – Formulierung der Professorin zeigt ja, dass es sich hier um eine waghalsige Hypothese handelt:
“Die UNMITTELBAREN Auswirkungen von sexuellem Missbrauch auf ein Kind sind sehr unterschiedlich. Bei FAST der Hälfte der Betroffenen SCHEINT sich der Übergriff nicht negativ auszuwirken (Kuehnle, 1998).”
In meinen Augen absoluter Unsinn! Bei Kindern, zumindest sobald sie eine bewusste Erinnerung daran haben, wirkt sich ein sexueller Missbrauch praktisch immer negativ aus. Eine seriöse schwedische Kinderschutzorganisation kam mal auf eine Quote von rund 95%.
Die Frage ist aber immer, was wird überhaupt als Übergriff definiert, wie lang ist der Beobachtungszeitraum, usw.
Keine dieser Studien hat ja 30 Jahre später nachgefragt, wie es den Betroffenen jetzt geht, sondern die längsten Studien gehen über höchstens 15 Jahre. (z.B. eine der Universität von Kopenhagen)
Vermutlich meint die Professorin mit UNMITTELBAR, dass es nicht immer SOFORTIGE Auswirkungen gibt. Einige stecken dies scheinbar „mühelos“ weg, weil sie es völlig in sich vergraben, bis es dann nach Jahren herausbricht.
Dass dies „fast die Hälfte“ ist, bezweifle ich aber sehr.
Einige Standardwerke sind tatsächlich Mumpitz. Aber sie werden Jahr für Jahr neu aufgelegt, die Autoren machen sich mit der Überarbeitung nur wenig Arbeit.
Langzeitstudien sind sehr kostspielig, der Staat kommt dafür nicht (mehr) auf, die Mittel der Unis sind knapp, kein Prof. würde die heute noch vom Rektor genehmigt bekommen, private Geldgeber bekommt man dafür i.d.R. auch nicht.
Kurse und Lehrstühle für Sexualwissenschaft werden seit Anfang der 90er Jahre in Europa abgebaut. Stiftungen haben sich hier noch nie besonders engagiert, die meisten machen um das heikle Thema einen Bogen.
Es gibt seit einigen Jahren die „Psychotraumatologie“, die sich mit diesem Thema beschäftigt und es nicht verharmlost. Auch aus der Bindungsforschung weis man heute, eine traumatisierte Mutter/ein traumatisierter Vater gibt seine Erfahrungen unweigerlich an ihr/sein Kind weiter. Traumata, die nicht integriert werden, werden unweigerlich von Generation zu Generation weitergegeben. Sowohl auf Opfer als auch auf Täterseite. Dies ist neuester wissenschaftlicher Fakt. Dies muss den Opfern und den Tätern klar sein. Warum halten sich die Opfer mit veraltertem wissenschaftlichen Aussagen auf? Warum werden solche Bücher, wie „Verwirrte Seelen“, „Trauma, Bindung und Familienstellen“. „Seelische Spaltung und innere Heilung“ von Prof. Dr. Franz Ruppert. oder das Lehrbuch der Psychotraumatologie von Prof. Dr. Gottfried Fischer und Prof. Dr. Peter Riedesser oder das Buch: Neue Wege aus dem Trauma von Gottfried Fischer, nicht wahrgenommen und gelesen. Die Zeit ist reif. Jetzt. Heilung ist möglich. Intergration ist möglich. Ich bin diesen Weg selber gegangen. Ich habe erkannt, wenn ich mich den neuesten Heilungswegen und wissenschaftlichen Erkenntnissen verschliesse, ich meine Opferrolle immer wieder zelebriere, lebe ich nicht im Jetzt. Ich mache die Augen zu und lebe in der Vergangenheit. Mich macht dieses Kreisen um die eigene Opferrolle wütend. Es gibt nur einen Ausweg aus diesem Teufelskreis der Traumawiederholung. Erkenne den Täter in dir selbst. Heilung ist möglich. „Neue Wege aus dem Trauma“
Wachwerden! Augen auf! Aufstehen und gehen lernen Schritt für Schritt. Dies schafft niemand alleine man braucht dazu Hilfe. Hier eine wichtige Adresse:
http://www.psychotraumatologie.de
Hi Elvira!
schön dass es bei Dir so einfach ist.
Meine „Eltern“(Anthroposphen) sind ebenfalls der Meinung, ich solle, was geschah, ruhen lassen/vergessen UND von ihnen wird die Mitverantwortung an dem, was JETZT geschieht, wenn zum Beispiel ich schweige, einfach IGNORIERT!!!
Ich kann es nur selbst schaffen, aber ich stehe allein oder auch nicht, da es hier einige besonnen-zornige gibt, welche sich selbst aus dem Sumpf ihrer schmerzenden Vergangenheit herauslösten oder sich in dieser Arbeit befinden.
Es ist durchaus auch mir verständlich, sich helfen zu lassen – aber bei mir ginge dies nun wirklich nicht, Du liest gern – hier ein kurzes (Triggert) Autobiographie-Skript, darin kannst Du lesen weshalb. Das hat nichts mit Mangel an Vertrauensfähigkeit zu tun: http://mister33.wordpress.com/zukunft/
Ich heule mich nicht ein, kann hier auch keine Heulenden ausmachen, die sind bei MySpace und IMEDO.
Tschüß!
Anselm.
Hallo Elvira,
du schreibst „Mich macht dieses Kreisen um die eigene Opferrolle wütend“. Hast du dir schon einmal Gedanken darüber gemacht, warum das so ist? Mich – tut mir leid – erinnert das ein bisschen an ehemalige Raucher, die als Nichtraucher anderen Rauchern gegenüber häufig intoleranter und militanter sind als „Allzeit-Nichtraucher“.
Mir gefällt auch der leicht missionarische bis fast schon verletzende Ton nicht, den du anschlägst. Ich denke wir alle sind gut beraten, wertschätzend und achtsam mit uns selbst und mit anderen Betroffenen umzugehen.
Zunächst einmal ist es doch einfach schön, dass du auf deinem Weg schon so weit gekommen bist. Was macht es für dich so schwer aushaltbar, dass andere sich noch auf dem Weg befinden? Und warum greifst du in diesem Zusammenhang die Betroffenen an, statt – aus deiner „Heilungserfahrung“ heraus – Mitgefühl und Achtung für sie und ihren Weg zu empfinden?
Warum dürfen Opfer nicht sagen und zeigen, dass sie Opfer (geworden) sind? Warum dürfen sie nicht sagen und zeigen, dass sie schwere Verletzungen erlitten haben, und dass sie daran im „Hier und Jetzt“ leiden. Und zwar zum Beispiel leiden, weil niemand ihre Verletzungen sehen will. Weil niemand zur Rechenschaft gezogen wird dafür, was ihnen angetan wurde. Weil eben nicht „alles wieder gut“ werden kann. Und weil sie das als Unrecht empfinden.
Den Opfern zu verbieten, ihr Opfer(geworden)sein zu zeigen, bedeutet im Grunde eine Solidarisierung mit den Tätern. Und dient dem Schutz der Täter. Denn die Sichtbarwerdung der Opfer bricht mit dem Schweigegebot und macht deutlich, dass es überhaupt Taten und somit Täter gibt, bzw. gegeben hat.
Daher glaube ich, dass es zuallererst im Interesse der Täter (und der schweigenden Mehrheit der Gesellschaft, die es sowieso lieber nicht so genau wissen möchte) ist, die Opfer zu diffamieren. Beispielsweise dadurch, dass man den Begriff „Opfer“ stigmatisierend benutzt. Beispielsweise dadurch, dass man die Zuschreibung „Opferrolle“ diffamierend verwendet und damit eine gewisse Mutwilligkeit (diese einzunehmen) und sogar einen Missbrauch (durch die Opfer) unterstellt.
Auf perfide Weise wird also auch hier wieder das Opfer zum Täter gemacht, indem seine Haltung und Handlungsweise als „verwerflich“ deklariert wird („Opferrolle einnehmen“, „an Opferrolle festhalten“), während über die Verwerflichkeit der Taten und der Täter weiterhin der Mantel des Schweigens gebreitet bleibt.
Ich weiß schon: Manche Betroffene und auch zahlreiche Therapeut/innen verbinden mit dem (Selbst)Anspruch, die „Opferrolle“ abzulegen, auch eine Form der (Selbst)Ermächtigung. Das ist auch an und für sich ein guter Gedanke, und schön, wenn es gelingt. Aber man sollte bei aller Begeisterung angesichts eines so verführerischen Rollenwechsels (von der Ohnmacht zur Macht) nicht übersehen, dass die eigene Macht zur Selbst(neu)erfindung doch sehr begrenzt ist.
Denn was sich dadurch NICHT ändert, sind gesellschaftliche Machtverhältnisse, sind die Bedingungen, die den Tätern ihre Taten überhaupt möglich machten, ist die Ignoranz gegenüber den Folgen von Traumatisierungen, ist das Bagatellisieren von Grenzverletzungen und Gewalthandlungen, ist das Beschämen und Diffamieren der Opfer, ist eine mangelhafte strafrechtliche Verfolgung, sind Therapeut/innen, die sich nicht weiterbilden, sind Gutachter, die Traumatisierung durch sexualisierte Gewalt nicht erkennen, sind Politiker, Regisseure und Schauspieler, die sich über die Strafverfolgung eines Promi-Täters empören, ist eine florierende Sex- und Pornoindustrie, die den „Lolita-Mythos“ zelebriert, sind Männer, die nach Asien reisen, um Kinder zu f….., sind „Christen“ und Kirchen, die kinderf….. Pfarrer decken, sind Menschen, die einen auffordern, doch „endlich mal mit dem Jammern aufzuhören“.
NICHT wir Opfer halten („mutwillig“ und „missbräuchlich“) an einer „Opferrolle“ fest, sondern die uns auch heute noch – „im Hier und Jetzt“ – umgebenden Bedingungen, insbesondere die Unwilligkeit zur Strafverfolgung der Täter und Rehabilitation der Opfer, hält uns in dieser Rolle fest!
„Der Verlust von Rechtssicherheit führt zu einer periodischen Reaktivierung der Traumatischen Erfahrung von Schutzlosigkeit und entfaltet darüber seine destruktive Wirkung auf das seelische Befinden der Überlebenden.“ (Knut Rauchfuss)
Ich bin sehr dafür, dass wir Überlebenden einmal unser Opfer(geworden)sein hinter uns lassen können. Nur glaube ich nicht, dass der Weg dahin der ist, wieder an die Opfer Forderungen zu stellen, wieder ihnen die „Bewältigungs-Arbeit“ (allein) aufzulasten.
Voraussetzung dafür, unser Opfer(geworden)sein hinter uns zu lassen, ist nicht, dass wir weiter darüber schweigen, dass wir Opfer schwerer Traumatisierungen wurden (mit Folgen bis heute), nur um uns vor dem Vorwurf zu schützen, an der „Opferrolle“ festzuhalten (der einem erneuten Schweigegebot gleichkommt).
Voraussetzung dafür, dass wir unser Opfer(geworden)sein hinter uns lassen können, ist SICHTBAR WERDEN und SICHTBAR SEIN. Ist, das Schweigegebot zu brechen und die TATSÄCHLICHEN TATEN, TÄTER, VERLETZUNGEN und FOLGEN zu BENENNEN. Ist, durch unserer „Opferrolle“ Zeugnis über die Taten der Täter abzulegen.
Voraussetzung dafür, dass wir unser Opfer(geworden)sein hinter uns lassen können, ist außerdem, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden, dass das, was ins Unrecht gefallen ist, wieder ins Recht kommt, dass wir Rehabilitation erfahren und dass diese Gesellschaft endlich Kenntnis davon nimmt, was passiert (ist).
Dann – davon bin ich überzeugt – wird es für uns Betroffene ganz leicht sein, die „Opferrolle“ zu verlassen. Weil wir dann nicht mehr als Einzige unser schreckliches Schicksal bezeugen müssen. Weil wir dann nicht länger darauf beharren müssen, aus Solidarität mit uns selbst nicht zu schweigen. Weil wir dann nicht mehr Gefahr laufen, durch unser Schweigen wieder den Tätern in die Hände zu arbeiten.
Abschließend dazu folgende Zitate (alle ebenfalls von Knut Rauchfuss, Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum):
„In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle behindert die Straflosigkeit der Täter nachweislich die Stabilisierung von Überlebenden psychosozialer Traumata.“
„Für Überlebende von Folter stellt sich die Kultur der Straflosigkeit als Barriere der Aufarbeitung ihrer traumatischen Erfahrungen dar.“
„Im Vordergrund steht dabei die fehlende gesellschaftliche Anerkennung für das Erlittene, die jedoch eine wichtige Voraussetzung für die biografische Einordnung des Erlebten und die Historisierung der Ereignisse darstellt.“
Hallo zusammen,
„Kreisen um die eigene Opferrolle“ klingt für mich wie:
– suhle dich nicht in deinem Selbstmitleid
– ruhe dich nicht auf deiner Krankheit aus
– vergiss was geschehen ist
– akzeptiere die Vergangenheit
das sind in meinen Augen Ohrfeigen für jede/n Überlebende/n.
Und dann „neue Wege der Heilung“ Familienaufstellungen
usw., hm das hab ich auch schon hinter mir – geheilt hat es mich nicht.
Es gibt viele Wege und jeder muss den für sich passenden Weg finden.
Mein persönlicher Weg ist das Schreiben, die Konfrontation, etwas tun für die Betroffenen und ihre Angehörigen. Das verschafft meinem Leiden Linderung.
Das heißt aber nicht, dass dies bei jedem anderen Menschen genauso ist.
Ich vertrete die Ansicht, dass Überlebende, die das Schweigen gebrochen haben, viel zu wenig Unterstützung und Anerkennung erfahren.
Wer steht Ihnen bei wenn sie sich outen?
Wer hilft Ihnen durch den Dschungel der Bürokratie?
Wer verschafft Ihnen Gerechtigkeit, bzw. wenigstens ein Stück Wiedergutmachung?
In den meisten Fällen werden die Überlebenden durch die Öffentlichkeit, durch die Ämter und die Justiz erneut missbraucht. Missbraucht dadurch, dass die Täter mehr Unterstützung und Hilfe erfahren als das Opfer.
Wie kann eine solche Grausame Tat verjähren?
Wer gibt dem Staat das Recht zu bestimmen, dass es verjährt?
Die Folgen werden ein Leben lang getragen.
Ich bin der Überzeugung, dass jedes Opfer so gut es kann versucht zu überleben.
Das es sogar versucht unsichtbar eine Dunkelziffer zu bleiben, weil es größte Anstrengungen aufbringt um der Gesellschaft gerecht zu werden.
Sie wollen nicht auffallen – ins System passen. Normal sein.
Doch wenn Sie an Ihren Lasten zerbrechen, um Hilfe bitten, Anzeige erstatten, werden Sie erneut missbraucht.
Man spricht von Verjährung. Man spricht davon, dass dem Täter auch ein „normales“ Leben zusteht.
Nicht einmal die Stunden die in der Therapie benötigt werden, bekommt man großzügig gewährt.
Nein betteln muss man, dass man die selbigen bezahlt bekommt.
Wird man arbeitsunfähig sieht man seine gesamte Existenz den Bach runtergehen und muss sich dann noch anhören – hör auf, dich selber zu bemitleiden. Reiß Dich endlich zusammen. Was war, das war – leb Dein Leben.
Sorry welches Leben?
Das hat man uns genommen.
Dann gibt es wunderbare Institutionen, wie das Amt für soziale Angelegenheiten.
Man hört Worte wie Opferentschädigung.
Da muss man allerdings wie überall auch beweisen, dass es geschehen ist, dass der Missbrauch stattfand. Zeugen möchte man für alles haben.
Diese Prozeduren sind für Opfer so entwürdigend, demütigend und verletzend, dass sie erneut traumatisiert werden.
Anträge lieben Jahre bei den Ämtern bis sie entgüldig bearbeitet werden.
Auch hier versucht man alles so gut wie möglich abzuschmettern, damit der Staat nicht für die Betroffenen aufkommen muss.
All das nehmen die Überlebenden auf sich, um „Heilung“ zu erfahren.
Um die Dunkelziffer zu erhellen.
Um anderen Opfern Mut zu machen.
Und doch werden sie auf jedem Weg alleine gelassen.
Kämpfen Tag täglich ums nackte Überleben
und dann kommt jemand und schreibt: „Das kreisen um die Opferrolle“
Ich kann mein Entsetzen über diesen Satz nicht deutlich genug zum Ausdruck bringen.
Wer sich mit der Seele der Betroffenen befasst, weiß das jedes Opfer eine Überlebende wurde – dies allein bestätigt schon, dass es ein Kreisen um die Opferrolle gar nicht gibt, sondern nur ein Kampf ums nackte Überleben.
Angela Moonlight
EINHUNDERTPROZENTIGE Zustimmung!!!!
Und besonders gefällt mir diese Aussage:
„Das es (das Opfer) sogar versucht unsichtbar eine Dunkelziffer zu bleiben, weil es größte Anstrengungen aufbringt um der Gesellschaft gerecht zu werden. Sie wollen nicht auffallen – ins System passen. Normal sein.“
„unsichtbar eine Dunkelziffer bleiben“ – eine treffende Beschreibung des fortgesetzten Schweigens. Das ist, was vermutlich jede/r von uns kennt, weil jahre-, oft jahrzehntelang praktiziert.
Und deshalb ist „sich selbst zum Opfersein bekennen“, also vor sich selbst und irgendwann auch nach außen bewusst die „Opferrolle“ einnehmen, ein – erster – emanzipatorischer Schritt!!!
Auch wenn er leider genau all diese Mühsal, Erniedrigungen, Borniertheiten, Verletzungen, Rückschläge und Nachteile mit sich bringt.
Doch weiter zu schweigen ist noch schlimmer.
“ `Kreisen um die eigene Opferrolle` klingt für mich wie:
– suhle dich nicht in deinem Selbstmitleid“
Dem kann ich NICHT zustimmen, Opfer haben das Recht, sich Opfer zu nennen, denn sie sind definitiv Opfer.
Und der Begriff „Selbstmitleid“: Ich kriege das Kotzen, wenn ich das hören – wie oft habe ich mir selbst so einen Schrott anhören müssen, noch vor der Zeit als ich wusste, dass ich Opfer von physischer, psyschischer und sexueller Gewalt war.
Ich habe das Recht selbstmittleidig zu sein, denn die Hilfen und Stützen für Opfer von sexueller und/oder psychischer/physischer Gewalt sind kläglich, lächerlich, skandalös!
Und ich bekenne: Ich zahle bewusst kaum Steuern (und würde auch keine zahlen, wenn ich mehr verdiente!), ich bin nicht bereit, diesem Staat mit meinem Geld beizukommen, wenn er nicht in der Lage ist, mir als Bürger und Opfer seriöse Hilfe zukommen zu lassen und seine Gesetze im Sinne der Opfer von sexualisierter Gewalt zu ändern (wie von Herrn Denef initiierte + der Opferentschädigung).
Mehr und mehr denke ich darüber nach, eine Bürgerinitiative + Demo auf der Straße zu organisieren, um die Recht für Opfer von Sexualierter Gewalt laut und deutlich einzufordern + mehr Aufmerksamkeit zu erzielen.
Wer Ideen hat, kann sich ja gerne melden.
Hallo Willi,
deinen ersten drei Absätzen stimme ich völlig zu, das mit den Steuern lasse ich jetzt mal außen vor.
Bei mir war es so, dass ich mich erst als Opfer fühlen und Selbstmitleid mit mir haben konnte, als ich mein kleines Buch geschrieben und mich dabei „von oben“ sehen konnte. Nicht „von oben“ im Sinne von überheblich, sondern quasi als eine Person, die über ein geschundenes Kind schreibt und nicht über sich selbst. Seither fühle ich mich als Opfer, was aber nicht bedeutet, dass ich bemitleidet werden möchte. Mitgefühl statt Mitleid, das ist das, was mir ab und an gut tut.
Viele Grüße,
Elke
Lieber Willi,
ich glaube Angela meinte mit ihrer Aussage „Kreisen um die eigene Opferrolle klingt für mich wie:
– suhle dich nicht in deinem Selbstmitleid” das Gleiche wie Du: Sie schreibt, sie empfindet diese Aussage DESHALB (weil sie vorwurfsvolle Interpretationen zulässt) als „Ohrfeige für jede/n Überlebende/n“.
Ich sehe es im Übrigen genauso wie du: Wenn uns schon niemand beisteht, müssen wir das zumindest selbst tun. Es bedeutet Selbst(be)achtung. Mit sich selbst Mitgefühl, von mir aus auch Mitleid zu empfinden, ist angebracht, heilsam und zeigt, dass wir TROTZ ALLEM noch „gesund“ reagieren auf unermessliches Leid.
Nun, dass mit den „Steuern“ sehe ich heute auch wieder etwas „anders“; war ne spontane (Über-)Redaktion. Aber dennoch Danke für die interessanten Antworten!
„…zeigt, dass wir TROTZ ALLEM noch “gesund” reagieren auf unermessliches Leid.“
Es stellt sich für mich die Frage, warum die Leute, die weniger erlitten oder nichts Traumatisches in ihrer Kindheit erlebt haben, sich nicht mit den „stärker“ Betroffenen solidarisieren, und sich für sie bei dem Thema stark machen?
Zu dieser Gruppe gehören, wie man hier und anders liest, nicht die Therapeuten. Ich kann von meiner Seite sagen: ich wurde mehrfach teils schwerst re-traumatisiert von meinen „Helfern“, statt dass man mir half, mir glaubte, mich stützte. Der Stachel sitzt bis heute sehr tief, so dass ich extremst misstrauisch gegenüber allen Therapeuten bin, ich „gehe“ seit einigen Jahren nicht mehr zu Therapeuten; bin verletzt und habe auch kaum Hoffnung, dass es „gute“ gibt.
Alleine dass ist bitter – und skandalös. Ein Armutszeugnis für unser ach so hochentwickeltes Land.
Die Tatsache, dass „Betroffene“ nicht selten der Gefahr laufen, als Erwachsener beim „Outen“ vor Therapeuten und Ärzten und anderen Leuten (Familie, Bekannten, „Kollegen“, „Freunde“ etc.) retraumatisiert (sprich stigamatisiert, „gemobbt“ bis hin zu beleidigt) werden, ist ein weiterer Skandalpunkt und überaus demoralisierend für „Betroffene“ (resp. „Opfer“).
Ob sich das jemals ändern/bessern wird? Ich bin da skaptisch.
In dem Sinne, auf besseres 2010!
Lieber Willi,
Diese Aussage von mir:
Kreisen um die eigene Opferrolle” klingt für mich wie:
– suhle dich nicht in deinem Selbstmitleid
– ruhe dich nicht auf deiner Krankheit aus
– vergiss was geschehen ist
– akzeptiere die Vergangenheit
das sind in meinen Augen Ohrfeigen für jede/n Überlebende/n.
meint das gleiche wie du.
Auch ich vertrete die Ansicht, dass jedes Opfer sich Opfer nennen darf, schließlich ist es eines.
Die Sätze habe ich geschrieben, weil ich sie so kenne. Genau wie du und viele andere auch.
Wer kennt sie nicht die auch so gut gemeinten Ratschläge wie zum Beispiel:
Stell dich nicht so an!
Tue doch nicht so!
So schlimm wird es nicht gewesen sein!
Weist du wie schlimm mein Leben war!
Du suhlst dich im Selbstmitleid!
Du ruhst dich auf deiner Vergangenheit aus!
Du willst gar nicht glücklich und gesund sein!
Du wühlst immer wieder in der Vergangenheit herum!
Wann willst du endlich nach vorne schauen!
Was passiert ist, ist passiert, das kannst du nicht mehr ändern!…
Die LIste ist beliebig weiterzuführen.
Ich bin mir sicher, dass wir alle noch unendlich mehr diese blöden Aussagen kennen, die nur von Menschen getroffen werden, die so Gefühlskalt und Ignorant sind, dass man es nicht aushalten kann.
Es gibt einen wunderbaren Spruch, den ich persönlich sehr mag und den ich diesen Menschen präsentiere:
„Bevor Du urteilen willst über mich,
Ziehe meine Schuhe an,
gehe meinen Weg
und dann kannst du Urteilen über mich“!
Hallo Angela Moonlight,
diese „Vorschläge“ werden interessanterweise ja auch Menschen gemacht, die um einen verstorbenen Angehörigen trauern. Oder die von ihrer schweren Erkrankung und ihrer Angst deswegen erzählen.
Uns Betroffene verletzen diese Bemerkungen genauso wie Menschen, die einen Menschen verloren haben, den sie geliebt haben. Oder die lebensbedrohlich krank sind und nicht mehr schlafen können vor Angst.
Ich habe mir irgendwann die Frage gestellt, warum Menschen beim Thema „Trauer“ so beschwichtigend bis abwehrend reagieren. Ich ertappe mich auch immer wieder dabei, habe es aber im Laufe meiner Therapeutinnenkarriere gelernt, „Trauer“ auszuhalten und konstruktiv damit umzugehen.
Genau genommen bin ich damit angefangen, als mein ehemaliger Partner, mit dem ich sehr lange zusammen war, so ähnlich wie oben beschrieben auf meine Eröffnung reagiert hat, dass ich in meiner Kindheit sexuell misshandelt worden bin.
Zuerst war ich tief getroffen, wurde unsicher und habe meine Enttäuschung und Wut herunter geschluckt.
Vor zwei Jahren habe ich mich dann schließlich von dem Mann getrennt.
So aus der Distanz und im Vergleich zu anderen, ähnlichen Reaktionen (auch eben auf Trauer wegen Todesfällen oder Krankheit) glaube ich, dass das vor allem ein Zeichen für eigene Abwehr ist.
Kaum jemand will daran erinnert werden, dass er im sexuellen Bereich Wut und Aggression abwehren muss. Oder selbst mal sexuell misshandelt wurde. Zumindest mal demütigende Erfahrungen gemacht hat.
Weil er nicht reif genug ist, sich mit diesen Empfindungen auseinanderzusetzen. Menschen, die von sexuellen Übergriffen berichten, stören den Verdrängungsmechanismus der anderen.
Deshalb gibt es ja auch diesen kollektiven, verlogenen „Liebesmythos“.
Ähnliche kollektive Empfindungsschemata sind:
Der Gedanke, einen geliebten Angehörigen zu verlieren, ist schmerzliche – der muss verdrängt werden. Also kann ich trauernde Menschen nicht ertragen.
Ich weiß, dass ich jederzeit schwer erkranken kann – aber auch dass will ich nicht wahrhaben. Also auch da weghören oder „genervt“ reagieren.
Liebe Angela,
Sie haben mich mit Ihrem Beitrag auf eine neue Idee gebracht.
Wenn ich das nächste Mal solche Reaktionen erlebe bei meinen Mitmenschen, dann werde ich sie ganz direkt fragen, was mein Bericht bei ihnen auslöst, was sie denken, was sie empfinden. Damit wird das Ganze sachlicher, bleibt aber persönlich und ich spiele eben nicht die mir zugedachte Rolle.
Mal sehen, welche Reaktionen dann kommen.
Werde davon berichten.
Grüße von
Angelika Oetken, Berlin
Liebe Angelika,
neben den Dingen, die du aufführst und denen ich voll zustimme, ist es bei mir so, dass ich, sobald ich mit sehr verständnisvollen Freunden über meine Missbräuche rede, in Tränen ausbreche. Sowas geht natürlich nicht in geselliger Runde, jedenfalls möchte ich das nicht. Seit einiger Zeit erst rede ich überhaupt darüber, und das auch nur mit ein paar wenigen Menschen, von denen ich weiß, dass sie mich verstehen bzw. keine dummen Bemerkungen machen. Tränen vor anderen sind schrecklich für mich.
Auf der anderen Seite kann jeder in meiner Gegenwart weinen. Ich trage jede Trauer mit und habe damit kein Problem. Ich besuche Schwerstkranke, weine mit ihnen oder lache mit ihnen, ich bin da sehr offen. Aber ich mag MEINE Tränen nicht, wenn sie meinetwegen vergossen werden, das ist sicher etwas, woran ich noch arbeiten muss…
Auf deinen Bericht über die Reaktionen deiner Mitmenschen bin ich sehr gespannt. Ich habe zwei Freunde gefragt, was sie auf meine Erzählung hin fühlen. Beide waren sehr betroffen und eher sprachlos. Ich glaube, man muss den Menschen Zeit geben, mit dem Erzählten fertig zu werden. Wichtig war und ist für mich, dass ich nach meinem „Outing“ nicht anders behandelt werde als vorher.
Liebe Grüße,
Elke
Liebe Elke,
„Aber ich mag MEINE Tränen nicht, wenn sie meinetwegen vergossen werden…“
Das kann ich voll und ganz nachvollziehen. Mir geht es auch heute noch genau so wie Dir, gleichwohl ich bereits 1993 mein Schweigen im Familienkreis gebrochen habe und seit dieser Zeit über meine Geschichte in der Öffentlichkeit berichte.
Wenn ich mich z.B. für eine Lesung aus meinem Buch „Ich wurde sexuell missbraucht“ vorbereite, übe ich ganz besonders die Stellen, wo MEINE Tränen fließen und lass sie auch beim Üben fließen. Schaue mir aber genau diese Gefühle an. So lange, bis sie mir keine Angst mehr machen. Später kann ich öffentlich darüber sprechen, als mein Anwalt, der mich vertritt. Und der kann dann sehr authentisch darüber berichten, ohne Tränen vergießen zu müssen. So handhabe ich das immer, wenn ich in der Öffentlichkeit über meine Geschichte berichte.
Dass ich meine Geschichte der Öffentlichkeit preisgebe, hat übrigens bei mir nichts mit Therapie zu tun, auch wenn das vielleicht viele glauben – ich „benutze“ meine Geschichte, um der Gesellschaft einen SPIEGEL vorzuhalten.
Herzliche Grüße
Norbert Denef
Lieber Norbert,
einerseits tut es mir leid, dass es dir so geht wie mir, andererseits tröstet es mich auch, dass ich nicht die einzige „Heulsuse“ bin.
Aus meinem Buch vorlesen, das könnte ich noch nicht, aber die „Technik“, mit der du an deine Lesungen heran gehst, übe ich gerade mit meiner Therapeutin ein. Da ich inzwischen schon sehr viel gelernt habe, bin ich zuversichtlich, auch das zu schaffen.
Es ist mir schon klar, was du mit deinem Buch bezweckst, im Grunde liest man das aus jeder deiner Zeilen im Buch bzw. zieht am Ende einfach dieses Résumé. Und ich denke mal, dass ich nicht die Einzige hier bin, die dir für diesen „Spiegel“ sehr dankbar ist.
Bei mir war es ja zunächst so, dass ich einfach nur aus einer Laune heraus aufgeschrieben habe, was mir als Kind passiert ist. Ganz zufällig stellte ich dabei auch eine Art therapeutischer Wirkung fest, nämlich die, dass ich plötzlich das kleine Mädchen vor mir sah, und endlich Mitleid mit ihm haben konnte. Ich fand das für mich persönlich und für mein Weiterkommen sehr wichtig.
Viele liebe Grüße,
Elke
Lieber Norbert,
du hast da für dich einen wunderbaren Weg gefunden. Du spielst deinen eigenen Anwalt. Aber dir ist durchaus bewusst, dass du kein Anwalt bist. Du bist ja auch von Berufs wegen Schauspieler, wenn ich mich recht erinnere. Leider gibt es nun aber viele Traumatisierte, die sich darüber nicht im klaren sind, dass sie spielen. Diese Menschen identifzieren sich doch tatsächlich mit ihrer Rolle. Sie haben vergessen das sie nichts weiter als einfache Menschen sind. Menschen wie du und ich. Verheerend wirkt sich so etwas besonders bei Anwälten, Richtern, Ärzten und Therapeuten und Seelsorgern aus. Aber auch bei Opfern kann man die Identifikation mit der Opferolle häufig finden.
Hallo Elke,
ich finde Norberts „Technik“ auch total gut. Ich habe mir das vorhin mal eine Zeitlang vorgestellt und finde, dass es eine gute Möglichkeit ist, bei sich zu bleiben, echt zu bleiben ohne sich den anderen auszuliefern. Man behält die Kontrolle über die emotional sehr belastende Situation.
Guckt übrigens mal bei „wikipedia“, was da zu „Weinen“ geschrieben steht.
Scheint gesund zu sein (jede Menge Hormone in den Tränen) und benachrichtigt die anderen nonverbal über unsere Stimmung (auch als Warnung vor Gefahr und Aufforderung zum Handeln).
Ich weiß nicht, wie es bei euch war:
Ich durfte als Kind nicht weinen. Es war verpönt. Meine Mutter hat mich sogar ausgelacht, vorgeführt und verhöhnt, wenn ich in Tränen ausbrach. Darum widerstrebt es mir jetzt total, in der Öffentlichkeit irgendwelche Emotionen zu zeigen. Es fühlt sich einfach nicht gut an.
Ansonsten kann man es ja auch so sehen, dass das unterdrückte Weinen aus der Kindheit in der erinnerten Situation nachgeholt wird.
Traumatisierte Kinder können regelrecht in „Schockstarre“ verfallen. Sie äußern gar keine Emotionen mehr.
Ich kann mich erinnern, dass ich als Fünfjährige ein paar Wochen im Krankenhaus war ohne dass mir klar war warum und wann ich wieder entlassen werden würde. Ich dachte, dass ich nicht wieder nach Hause käme. Da bin ich eine Zeitlang auch in so eine „Schockstarre“ geraten.
Vielleicht ist es aber auch so, dass man dem „Heulen“ selbst viel mehr Wirkung auf andere zuschreibt als es dann tatsächlich auslöst.
Grüße von
Angelika Oetken, Berlin
Liebe Angelika
Dem kann ich nur zustimmen. Es ist tatsächlich die Angst der Menschen sich mit dem schmerzlichen zu konfrontieren.
Es ist ja auch nicht leicht Trauer oder Wut auszuhalten.
Da ich in meinem Forum mit vielen Betroffenen arbeite habe ich ebenfalls gelernt zuzuhören und den Schmerz auszuhalten, der selbstverständlich da ist, wenn Betroffene von Ihrem Schicksal berichten.
Ich bin sehr gespannt auf die Reaktionen die Sie in Ihrer Arbeit bekommen werden.
Lg Angela
@Angelika und Angela
Es geht glaube ich nicht nur darum, Trauer und Wut oder auch Schmerz auszuhalten.
Ich denke mal, dass eine Auseinandersetzung mit dem Thema nur ein Versuch darstellt, das eigene Befinden zu verbessern.
Aber genauso wahrscheinlich können bei der Auseinandersetzung mit dem Thema auch zusätzliche innere Schäden entstehen.
Somit stellt es in jedem Fall ein gewisses Risiko dar.
Und es gibt dazu keinen sicheren Weg. Vielleicht ist das Thema sogar unlösbar. Und gerade deswegen machen vielleicht auch so viele eine großen Bogen um diese Problematik.
Am Ende bleiben die Betroffenen meist damit allein, und können zusehen, wie sie mit den zusätzlich aufgerissenen innerlichen Wunden überleben können.
Was mich mal interessieren würde, ist eine aktuelle reale Statistik, mit
Anzahl der Betroffenen,
Anzahl der Überlebenden,
Anzahl der nicht Überlebten,
Anzahl der sozialen Abstürze aus diesem Grunde,
Anzahl der erfolgreichen Heilungen,
Anzahl der Suizidfälle von Betroffenen,
Anzahl der schweren Erkrankungen, welche damit im Zusammenhang stehen,
der gesamtwirtschaftliche Schaden durch diese Problematik. …. usw.
Eine Gesamtauflistung dieser Statistiken konnte ich bisher nicht ausfindig machen.
Sie lässt sich wohl auch nur in Zusammenarbeit mit Behörden realisieren, sofern sich diese in der Lage fühlen, ungefälschte Daten herauszugeben.
Hubert
Hallo Hubert,
ich bin gerade dabei zusammen mit anderen solche Zahlen zu suchen und zu listen.
Das Problem dabei ist, dass es schwer ist, absolute Zahlen zu ermitteln, weil man sich dazu erstmal über Definitionen einigen muss.
Und weil einige Folgen, wie z.B. Suizide oder soziale Abstürze natürlich in bestimmten Zusammenhängen auftreten und es neben der sexuellen Misshandlung ja noch andere Einflussgrößen gibt. Auch wenn die sexuelle Misshandlung subjektiv von den Betroffenen häufig als am Schwerwiegendsten eingeschätzt wird.
Und dann ist es natürlich so, dass Institutionen wie Behörden oder Krankenkassen natürlich immer nur einen Ausschnitt erfassen.
Und nicht jeder Betroffene zu einem bestimmten Zeitpunkt (Befragung, Fragebogen…) Auskunft geben kann und möchte.
Alles andere lässt sich nur hochrechnen, also schätzen.
Umkehrrechnungen, wie ich sie in einem anderen Beitrag schon mal vorgeschlagen habe, wären einfacher zu erstellen.
Z.B. was maximal eingespart wird, wenn ein Kind nicht sexuell missbraucht wird, nicht krank wird, keine besonderen Sozialleistungen in Anspruch nehmen muss und nicht ebenfalls zum Täter wird.
Und vor allem, was so ein Kind dann für die Gesellschaft erwirtschaftet.
Das lässt sich relativ leicht errechnen und ist ebenfalls sehr anschaulich.
Daraus lässt sich ziemlich gut ein volkswirtschaftlicher Schaden ermitteln (schon rein anhand der dokumentierten und erfassten Fälle) und solche Zahlen sind letztendlich das, was die „Gesellschaft“ am nachhaltigsten zum Handeln animiert.
Man stelle sich nur mal vor, jemand rechnet aus, dass jedes Auto, was in Deutschland herumfährt und jedes nicht nach der neuesten Norm gedämmte Haus die Gesellschaft langfristig eine bestimmte Summe kostet. Und diese Summe würde per Gesetz auf Auto- und Hausbesitzer umgelegt.
Es würde nicht mal zwei Jahre dauern und wir hätten nur noch „Spritsparer“ auf der Straße und eine sehr rege Bautätigkeit (Dämmung). Und eine beachtenswerte CO2-Einsparung.
Genauso würde es sich mit Folgekosten verhalten.
Wer Sex mit Kindern hat, zahlt. Meinetwegen mit Tagessätzen (bis an sein Lebensende). Arbeit gibt es ja genug.
Das tut richtig weh und wirkt.
Davon bin ich überzeugt.
Es verhält sich wie in der Suchttherapie: Ehrlich sein, konsequent sein, Grenzen setzen. Kein falsches Mitleid, grundsätzlich dem „Täter“ misstrauen.
Wegen „Trauer und Wut aushalten”: Idealerweise lernt man sie anzunehmen und zu kontrollieren.
Allerdings ist weder der Mensch noch das Leben ideal und kontrollierbar.
Schon sich nicht weiter destruktiv zu verhalten (Suchtmittel, Medikamente, Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten, Arbeitssucht, Helfersyndrom…) ist schwer genug. Dabei kann helfen, einfach erstmal anzuerkennen, was passiert ist und das man sich deshalb als Betroffene/r schlecht fühlt.
Das kommt viel zu wenig zur Sprache finde ich (es geht immer sehr schnell um „Heilung“ = hoher Anspruch anhand der Schwere der Schädigung).
Grüße von
Angelika Oetken, Berlin
Zitat
es geht immer sehr schnell um “Heilung” = hoher Anspruch anhand der Schwere der Schädigung).
Das übt auf mich persönlich immer einen sehr starken Druck aus. Ich versuche zu funktionieren, so wie es die Gesellschaft von mir erwartet.
Therapien, Rehamaßnahmen, Ärzte, Medis usw.
Mein schlimmstes Erlebnis war in der Rehaklink als ich die Reha abbrach. Für mich waren es dort unzumutbare Zustände.
Den Satz den man mir von oben mit auf den Weg gab war enorm belastend.
„Sie wissen ja, dass wenn sie die Reha abbrechen, sie die Kosten selber zu tragen haben und dass man ihnen Schwierigkeiten mit ihrer Zeitrente machen wird“
Die Existenzängste die in mir ausgelöst wurden, sind nicht zu beschreiben.
Und wieder einmal hatte ich versagt. Dem Anspruch der Gesellschaft gegenüber zu funktionieren und gefälligst zu arbeiten, damit ich dem Staat nicht auf der Tasche liege.
Heilung ist für mich ein sehr schwieriges Feld. Was ist Heilung in diesem Falle?
Wie stellt man, die Gesellschaft, sich diese Heilung vor?
Wie soll sich die/der Betroffene besser fühlen, wenn ihr/ihm niemand glaubt, sie/er um alle Stunden bei der Krankenkasse kämpfen muss?
Immer wieder muss sie/er sich erneuten Untersuchungen und Befragungen unterziehen um ja zu beweisen bildlich, dass sie/er immer noch geschädigt genug ist, dass man ihr/ihm eine Therapie bewilligt.
Was mich auch sehr beschäftigt ist folgendes:
Jahrelang gehst du arbeiten, verdrängst bewusst oder unbewusst deine Probleme – kämpfst dich durch, zahlst schön brav deine Steuern, Krankenkassenbeiträte, Rentenbeiträge usw. und wenn du Hilfe benötigst tut man so, als würden die Damen und Herren dies aus ihren eigenen Taschen bezahlen.
Wie sollen Betroffene, Opfer, Überlebende da aufstehen, sich zeigen, die Dunkelziffern erhellen, wenn sie erneut traumatisiert und stigmatisiert werden?
Hallo Angelika,
was du über das Weinen, deine Kindheit und deine Mutter schreibst, könnte von mir stammen! Es macht mich ganz betroffen, dies so zu lesen – du hast mein volles Mitgefühl! Bei mir kam neben der gefühlskalten Mutter noch der ebenso ausgestattete Bruder dazu, die beiden waren mein Untergang…
Liebe Grüße,
Elke
Bezüglich Zahlenmaterial und Zahlensuche kann ich folgende Zahlen beisteuern:
Man rechnet mit ca. mind. 600 sexuellen Übergriffen pro Jahr in der Psychotherapie. Die Folgeschäden, der sexuellen Übergriffe für ambulante und stationäre Weiterbehandlungen d.h. ohne die Kosten, die durch Langzeitschäden wie Arbeitsunfähigkeit und Berentung verursacht werden, betragen 20. Mill DM (Studie Becker-Fischer 1995). Die Täter sind zu 90% männlichen Geschlechts. Die Anzahl der sexuell missbrauchenden Therapeutinnen jedoch scheint in den letzten Jahren zu steigen.
Bezüglich rein emotionalem und narzisstischen Missbrauch in der Therapie habe ich noch keine Zahlen gefunden.