In dem Lehrbuch „Klinische Psychologie“ (Davison-Neale-Hautzinger), 7. Auflage, S. 511, steht zum Thema „Sexueller Missbrauch – Auswirkungen auf das Kind“ folgendes:

„Die unmittelbaren Auswirkungen von sexuellem Missbrauch auf ein Kind sind sehr unterschiedlich. Bei fast der Hälfte der Betroffenen scheint sich der Übergriff nicht negativ auszuwirken (Kuehnle, 1998).“

„Dieses Lehrbuch „Klinische Psychologie“ erscheint nun bereits in der 7. deutschsprachigen Auflage. Ohne Zweifel gehört es zu den erfolgreichen Einführungswerken und hat viele Generationen von Psychologen geprägt.“

Die Aussage, „bei fast der Hälfte der Betroffenen scheint sich der Übergriff nicht negativ auszuwirken“, hat aus meiner Sicht eine fatale Auswirkung für die Opfer. Denn nach dem Abbruch der Schweigemauer, oft erst viele Jahrzehnt nach dem Verbrechen, muss sich das Opfer fragen lassen: Gehörst Du denn überhaupt zu denen die Schaden genommen haben? Und der Kampf um die Anerkennung der Schäden beginnt! – aus diesem Grund schweigen die Opfer lieber, leiden ein Leben lang, werden verrückt oder machen andere verrückt und die es gar nicht mehr aushalten können, versuchen sich das Leben zu nehmen.

In der Zeit als ich über meine erlebte sexualisierte Gewalt noch nicht sprechen konnte, war es für mich unmöglich, das Ausmaß der Folgeschäden wahrzunehmen. Aus Angst Scham und Schuldgefühlen habe ich verdrängt, verleugnet und geschwiegen. Viele Jahrzehnte lang habe ich daran geglaubt, dass der „Übergriff“ sich nicht negativ ausgewirkt hat.

Wenn ich oft viele Nächte nacheinander nicht schlafen konnte
und dann erschöpft zusammenbrach
und keine Erklärung dafür hatte – –
das hab ich ja immer alles für normal gehalten, alles.
(er überlegt) Zweimal alles ist zuviel.
Das hab ich ja immer für normal gehalten. Alles.
Normal.
Die Konsonanten schwingen lassen.
Normmmmal- l – l – l – ll.
Jeder Verrückte denkt ja, er ist normal.
(Auszug aus „Alles muss raus“)

Erst nach 44 Jahren war ich dazu in der Lage meine Schäden des Verbrechens anzuschauen und sie zu akzeptieren. Ausführlich beschreibe ich das in meinem Buch „Ich wurde sexuell missbraucht“.

Anstatt den Opfern einreden zu wollen, dass „bei fast der Hälfte der Betroffenen sich der Übergriff nicht negativ ausgewirkt hat“, wäre es aus meiner Sicht wichtiger, auf folgende Fragen Antworten zu finden:

Warum gibt es in Deutschland keine Studie zu den psychologischen und gesellschaftlichen “Kosten” von Gewalt?

Was bedeutet Gewalterleben/Traumatisierung denn wirklich: für die Opfer, für die gesamte Gesellschaft?

Die Studien anderer Länder zeigen ALLEIN für die sog. häusliche Gewalt Beträge in Milliardenhöhe! Und was wäre, wenn man sexualisierte Kindesmisshandlung noch in solche Studien aufnehmen würde? Beträge, die alle zahlen müssen…
Wie hoch wären die kurz-, mittel- und langfristigen Kosten?

Können und wollen wir uns das wirklich leisten?

Müsste eine Gesellschaft hier nicht werten und sagen: “Moment mal! Die Betroffenen von Gewalt sind uns wichtiger. Sie brauchen…”?

Hoffnungsvolle Grüße

Norbert Denef