Von Peter Spork
Die Depression ist noch immer ein riesiges Rätsel“, sagt ein weltweit anerkannter Depressionsforscher: Florian Holsboer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München. „Bis heute ist es uns nicht gelungen, den Ursachen der Erkrankung auf den Grund zu gehen.“ Dennoch ist Holsboer wie die meisten Psychiater überzeugt, dass die krankhafte Schwermut ein körperliches Leiden ist, vergleichbar mit einem Diabetes oder einer Schilddrüsenfehlfunktion.
Jede Depression habe eine stoffliche Basis, und die müsse man in den Zellen des betroffenen Organs suchen: „Bei depressiven Menschen sind die Botenstoffe im Gehirn aus dem Gleichgewicht geraten.“ Mittlerweile ist klar, dass sowohl die genetische Veranlagung als auch die Umwelt zur Entstehung einer Depression beitragen.
In der Hoffnung auf eine möglichst präzise und Erfolg versprechende Depressions-Therapie hat Florian Holsboer fast sein ganzes Forscherleben verbracht. Und jetzt machte er einen der schädlichen Umwelteinflüsse dingfest, die das Risiko, eine Depression zu bekommen, deutlich erhöhen. Im Fachblatt Nature Neuroscience (Online-Vorabpublikation, DOI: 10.1038/ nn.2436) beschreiben Holsboer und Kollegen, auf welchem Weg frühkindlicher Stress das Erbgut bestimmter Hirnzellen von Mäusen nachhaltig prägt.
Die Forscher entfernten Würfe von Nagern während der ersten zehn Tage ihres Lebens für kurze Zeit von ihrer Mutter. Dieser starke psychologische Stress sorgte in speziellen Gehirnzellen dafür, dass eine bestimmte Erbgut-Region sich anders entwickelte als bei stressfrei aufgewachsenen Mäusen. An dieser Stelle lagerten sich ungewöhnlich wenig Methylgruppen (CH3) an das Erbmolekül DNA an. Dadurch war das Gen des Botenstoffs Vasopressin besonders gut ablesbar und die Zellen erzeugten ungewöhnlich große Mengen dieser Substanz.
Zudem fanden die Forscher die Veränderung am Vasopressin-Gen nur in jenen Nervenzellen, die am Ausgangspunkt der sogenannten Stressachse stehen. Diese Zellen liegen im Hypothalamus, dem Areal im Zwischenhirn, das als maßgebliches Steuerzentrum von lebenswichtigen Stressreaktionen und des vegetativen Nervensystems gilt. Über Vasopressin und einen weiteren Botenstoff treibt dieses Zentrum die Stressantwort des Körpers an. Es aktiviert zunächst die Hirnanhangdrüse, die daraufhin die Nebennierenrinde dazu bringt, Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin vermehrt in die Blutbahn abzugeben.
Bei den traumatisierten Mäusen ist diese Stressachse nachhaltig enthemmt und überempfindlich geworden. Das hat sichtbare Folgen: „Die Tiere verhalten sich ängstlich, lernen schlecht, sind gering belastbar und antriebsschwach“, so Florian Holsboer. Ihr Verhalten erinnere stark an depressive Menschen. Deshalb weckt ein weiterer Befund auch große Hoffnungen: Eine gezielt wirkende Substanz, die die Andockstellen für das übermäßig produzierte Vasopressin blockiert, konnte die Symptome bei den Tieren deutlich mildern.
Waren die Mäuse ein Jahr alt – also aus Nagersicht fast schon Greise – hatten neue Erfahrungen den Effekt des Traumas auf das Vasopressin-Gen noch immer nicht verwischt. Im Gegenteil: „Mit der Zeit scheint sich die biochemische Markierung des Vasopressin-Gens in den Nervenzellen des Zwischenhirns eher zu verstärken als abzuschwächen“, sagt Dietmar Spengler, Hauptautor der Studie.
Das frühkindliche Trauma hat sich also tief ins Gehirn der Versuchstiere eingebrannt. Sie sind in die Stressfalle gegangen, die sie auf Dauer anfällig für Stresskrankheiten aller Art macht – wozu beim Menschen vor allem Depressionen und Angsterkrankungen gehören.
Dass traumatische Erlebnisse in der frühen Kindheit – Misshandlungen, Vernachlässigung oder sexueller Missbrauch – das Depressionsrisiko von Menschen zeitlebens erhöhen, ist aus epidemiologischen Studien bekannt. Die junge Wissenschaft der Epigenetik erklärt jetzt endlich, wie diese prägenden Einflüsse dauerhafte Spuren in Körper und Geist hinterlassen. Sie verändern molekularbiologische Strukturen, die wie Schalter an den Genen sitzen und darüber wachen, ob ein Gen aktiv werden kann oder nicht. Eine dieser Strukturen sind die Methylgruppen, die auch die Max-Planck-Forscher untersuchen.
Sämtliche Zellen eines Organismus haben die gleichen Genome. Aber sie können als Folge verschiedener Umwelteinflüsse unterschiedliche Epigenome ausbilden. Dadurch haben die Zellen verschiedene Eigenschaften, sie haben eine unterschiedliche Identität, man kann auch sagen, sie besitzen ein Gedächtnis. „Das Epigenom ist die Sprache, in der das Genom mit der Umwelt kommuniziert“, sagt der deutsche Gentechnik-Pionier Rudolf Jaenisch vom Whitehead Institute in Boston, USA.
Wie deutlich frühe Kindheitserfahrungen die Epigenetik in Körper und Geist verändern können, sei bisher am besten im Stresssystem untersucht, weiß der israelische Epigenetiker Moshe Szyf von der McGill University im kanadischen Montreal. Mit seinem Kollegen Michael Meaney fand Szyf im Jahr 2004 heraus, dass Ratten, die von ihren Müttern nicht ausreichend umsorgt werden, zu wenig Stresshormonrezeptoren in einem bestimmten Hirnteil, dem Hippocampus, bilden. Das passt hervorragend zu den neuen Erkenntnissen aus München. Denn auch diese Veränderung macht das Stresssystem überempfindlich. Die betroffenen Tiere waren besonders aggressiv, reizbar und ängstlich.
Unlängst zeigten die Forscher sogar, dass ihre Resultate grundsätzlich auf uns Menschen übertragbar sind. Im Gehirn von Suizidopfern, die in früher Kindheit misshandelt worden waren, fanden sie die gleichen Veränderungen wie bei den vernachlässigten Versuchstieren. Im Gegensatz hierzu zeigten Unfallopfer und Menschen, die Selbsttötung begingen, aber eine unauffällige Kindheit hatten, diese Veränderungen nicht.
„Ich bin überzeugt, dass das Tiermodell bis zu einem gewissen Grad das widerspiegelt, was bei uns Menschen passiert“, sagt Szyf. „Allmählich sehen die Menschen, dass die soziale Umwelt eines Kindes – das Verhalten der Eltern, Erzieher, Freunde und Lehrer – einen tiefgreifenden Einfluss hat, nicht nur auf das gesamte spätere soziale Verhalten, sondern auch auf die Physiologie des ganzen Körpers.“
Der Trierer Stressforscher und Psychobiologe Dirk Hellhammer ergänzt: „Veränderungen der Epigenetik während der Schwangerschaft und in den ersten Monaten nach der Geburt eines Kindes scheinen der wichtigste Faktor bei der späteren Stressverwundbarkeit eines Menschen zu sein.“ Stresskrankheiten wie Herzinfarkt, Allergien, Diabetes oder Fibromyalgie könnten durch ein derart „fehlprogrammiertes Stresssystem“ begünstigt werden. Selbst das Krebsrisiko eines Menschen scheint eine übersensible Stressachse zu erhöhen.
Die Stresskrankheit schlechthin ist jedoch die Depression. Und so ist es kein Wunder, dass auch Florian Holsboer seit langem die Stressachse erforscht: „Seit 20 Jahren verfolge ich die Vermutung, dass Vasopressin eine wichtige Rolle bei der Entstehung einer Depression spielt.“ Mit der neuen Studie ist ihm dieser Nachweis nun so gut wie gelungen.
Nie zuvor konnten Forscher derart detailliert zeigen, wie ein Umweltreiz die Stressachse dauerhaft verstellt und was dabei auf molekularer Ebene passiert. „Dadurch eröffnen sich ganz neue Wege der Depressionsbekämpfung“, meint Holsboer. „Und das wird höchste Zeit.“ Seit 50 Jahren sei kein neues Wirkprinzip für Antidepressiva mehr entdeckt worden. Er verstehe seine Arbeit folglich als „ausgesprochen praxisorientierte Grundlagenforschung.“ Es handele sich zwar um Tierversuche, weil dabei aber grundsätzliche, auf den Menschen durchaus übertragbare Mechanismen aufgedeckt würden, ergäben sich auch Ansatzpunkte für neue Medikamente.
In einem ersten Schritt solle die Pharmaindustrie vermehrt nach möglichst nebenwirkungsfreien Stoffen suchen, die Vasopressin-Andockstellen hemmen. Im Mäuse-Experiment hat ein Entwicklungskandidat mit diesem Wirkprinzip ja „hervorragende Resultate erzielt“, sagt Holsboer. Doch das sei letztlich auch nur eine Symptombehandlung. Man solle deshalb auch testen, ob einige schon heute erhältliche Mittel, die direkt in epigenetische Prozesse eingreifen, auch gegen die Schwermut helfen.
Und in Zukunft gebe es vielleicht aufgrund der neuen Erkenntnisse eine völlig neue, vorbeugende Therapie. Die Forscher entdeckten nämlich auch, dass die epigenetischen Veränderung in zwei Schritten abläuft, wie Dietmar Spengler erklärt: Beim ersten Schritt werde ein Eiweiß, das hilft, die Methylgruppen zu erhalten, umgebaut. Es verliere dadurch seine Kontrollfunktion. „Diese Reaktion könnte man vielleicht recht einfach blockieren und damit die Entstehung einer fehlregulierten Stressreaktion im Vorwege verhindern.“
Florian Holsboer hat sogar einen sehr persönlichen Antrieb, eine solche „Präventionstablette“ gegen Depressionen zu entwickeln. Er musste die Terroranschläge am 9. September 2001 auf das World Trade Center in New York miterleben. Jahre später untersuchte er mit amerikanischen Kollegen 20 Augenzeugen, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung litten, zu deren Leitsymptomen Depressionen gehören. Bei diesen Menschen war eine Reihe von Genen, die an der Regulation des Vasopressin-Gens beteiligt sind, vermindert aktiv.
„Es wäre eine große Hilfe, wenn wir traumatisierten Katastrophenhelfern oder Soldaten direkt nach ihrem Einsatz ein Mittel geben könnten, das spätere Depressionen verhindert“, spricht Holsboer von seinem nächsten großen Ziel.
Bis dahin wird man den Betroffenen wohl weiterhin mit Psychotherapie und herkömmlichen Antidepressiva helfen müssen. Vermutlich wirken beide zum Teil auch deshalb, weil sie die Epigenome in Gehirnzellen beeinflussen. Und genau an diesem Punkt könnte schon heute eine neue Art von Depressionsvorsorge ansetzen: Krankenkassen, Arbeitgeber und die Politik könnten für eine größere Entlastung von Schwangerer und von Eltern mit kleinen Kindern sorgen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich das langfristig bezahlt macht.
Der Freiburger Psychosomatik-Professor Joachim Bauer gibt jedenfalls zu bedenken: „Ein Staat, der Eltern nicht ausreichende Möglichkeiten einräumt, sich in der frühen Lebensphase ihrer Kinder intensiv um diese zu kümmern, zahlt später einen hohen Preis – in Form einer Zunahme psychischer, insbesondere depressiver Störungen und anderer Stresskrankheiten.“
Quelle:
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/wissen_und_bildung/aktuell/?em_cnt=2093326&em_cnt_page=1
Hallo,
so „zwischen den Jahren“ ein paar Gedanken zu diesem Artikel.
Es ist grundsätzlich erfreulich, dass Hirnforscher, als eher biologisch ausgerichtete Fachrichtung, sich jetzt auch mit den psychosozialen Lebensfaktoren beschäftigen.
Dass Körper, Seele und Geist nur aus theoretischen Gründen getrennt angesehen werden und in der Realität natürlich eine Einheit bilden und interagieren ist eigentlich unter Praktikern ein „alter Hut“.
Merkwürdig nur, dass die biologisch ausgerichteten Humanwissenschaften so überrascht tun, wenn ihnen ihre eigenen Forschungsergebnisse genau das auch beweisen.
Evtl. ist das mit darauf zurückzuführen, dass das Paradigma der „Ganzheitlichkeit“ – zu – lange von den Esoterikern besetzt wurde und deshalb von seriösen Forschern gemieden wurde.
Und psychosoziale Wissenschaften die Biologie lange ignoriert und abgewehrt haben, weil sie einmal von den Nationalsozialisten missbraucht wurde.
Aber uns Betroffenen und somit der gesamten Gesellschaft auch kommen die Forschungsergebnisse zu Gute.
Wer weiß, vielleicht gibt es schon bald preiswerte, einfache Methoden, die biologisch-strukturellen Folgen von Traumatisierungen darstellbar zu machen? Also auf der Ebene von Veränderungen von Körperstrukturen, zu dem Nervengewebe gehört, sichtbar zu machen.
Solange „Datenmissbrauch“ dabei unterbunden wird, wären das sehr effektive, nachhaltige Methoden. V.a. und auch wenn es um den Beweis von Straftaten geht, die lange zurück liegen. Oder um Reha- oder Rentenansprüche.
Die Ansicht von Prof. Bauer teile ich dagegen gar nicht und zwar v.a. aus meiner Perspektive als Fachfrau.
Zitat :
Der Freiburger Psychosomatik-Professor Joachim Bauer gibt jedenfalls zu bedenken: “Ein Staat, der Eltern nicht ausreichende Möglichkeiten einräumt, sich in der frühen Lebensphase ihrer Kinder intensiv um diese zu kümmern, zahlt später einen hohen Preis – in Form einer Zunahme psychischer, insbesondere depressiver Störungen und anderer Stresskrankheiten.”
Zitatende
Traumatisierungen und Vernachlässigungen sind eindeutig nicht die Folge davon, dass Eltern vom Staat nicht die Möglichkeit bekämen, sich um ihre Kinder zu kümmern.
Wer weiß das schließlich besser als wir, die Betroffenen.
Sondern im Gegenteil, sie entstehen dadurch, dass zu viele Menschen, die nicht in der Lage sind, für ein Kind auf allen Ebenen zu sorgen, zu viel Zeit und Gelegenheit haben, ihre Kinder zu misshandeln oder anderen Misshandlungen zu ermöglichen.
Es gibt in unserer Kultur leider zu wenige Menschen, die Einblick in die familiären Verhältnisse haben und wohlwollend kontrollieren, dass es den Kindern gut geht und dass umfassend für sie gesorgt wird. Und im Zweifelsfall einschreiten.
Zu viele Eltern sind zu viel allein zuhause mit ihren Kindern. Es gibt zu viele, die selbst so bedürftig und überfordert sind, dass sie nicht ausreichend für ihr Kind sorgen können.
Erfahrene Praktiker erkennen das schon an der Interaktion und dem, was diese Eltern über ihre Kinder berichten, wenn die noch Säuglinge sind.
Aber uns Praktikern sind häufig die Hände gebunden. V.a. wenn es um die ersten Warnsignale geht, bevor noch Misshandlungen geschehen.
Der Staat greift erst ein, wenn Kinder ganz übel misshandelt worden sind.
Es gibt viele Menschen, die sollten gar keine Zeit mehr allein mit ihren Kindern oder Enkeln verbringen und wenn dann unter Aufsicht einer verantwortungsvollen Person.
Das alles ist keine Frage des Geldes und auch keine Frage der Zeit, sondern der Qualität.
Ich empfehle Prof. Bauer einmal eine Hospitation in einem SPZ oder bei einem Kinder- und Jugendpsychiater zu machen.
Viele der Betroffenen stammen aus so genannten „intakten“ Elternhäusern.
Übersetzt in die Realität heißt „intakt:
Mami hat beruflich zurückgesteckt und geht ganz in der Fürsorge für die Kinder auf. Sowieso hat sie „nach oben“ geheiratet, also jemanden, der beruflich erfolgreicher ist, als sie es je war. Sie steht unter moralischem Erfolgsdruck (gelungene Kinder sind ihr Projekt) und ist sozial isoliert. Erfolgserlebnisse bleiben aus, sie baut kognitiv ab, ihr Selbstwertgefühl sinkt.
Deshalb sorgt sie dafür, dass die Kinder von ihr abhängig bleiben. Damit man sieht, dass sie gebraucht wird.
Papi übt im Gegensatz dazu eine „wichtige“ Tätigkeit aus. Er will auch beachtet und versorgt werden von Mami. Er reagiert eifersüchtig und „kuschelt“ jetzt lieber mit den Kindern.
Er stammt ebenfalls aus einer „intakten“ Familie, ist also auch von einer depressiven, unzufriedenen, isolierten „Mami“ erzogen worden und deshalb immer ein „Mamisöhnchen“ geblieben. Bedürftig und unreif.
Die Kinder merken, dass sie eigentlich nerven (Mami) oder „gebraucht werden“ (von Papi). Nach außen hin, wegen der „Normalität“ gibt man sich liebevoll und „glücklich“.
Die Kinder lernen, dass man nicht echt sein sollte.
Kommen noch Alkohol und Tabletten hinzu, aktivieren Mami und/oder Papi ganz schnell eigene Erfahrungen mit Übergriffen und geben sie an die Kinder weiter.
Ich habe solche Familien mal als „Rama“- Familien bezeichnet, weil die Werbeszenen immer so schön klischeehaft verlogen waren, dass sie schon wieder einen Teil der Realität abgebildet haben…
Grüße von
Angelika Oetken, Berlin