Gibt es selbstbestimmte Prostitution? „Guardian“-Autorin Tanya Gold hat so ihre Zweifel – und belegt sie mit harten Fakten. Überlegungen zum Fall der Sexbloggerin „Belle de Jour“
In der Geschichte der ach so sauberen Prostitution wurde eine neue Seite aufgeschlagen, und wir haben nun das Kapitel erreicht, in dem wir genötigt werden, einfach alles zu akzeptieren. Am vergangenen Wochenende hat die Mittelklasse-Prostituierte und Bestsellerautorin „Belle de Jour“ (von der die Vorlage für den Fernsehfilm Secret Diary of a Call Girl stammt) ihre wahre Identität gelüftet. Ihr Name lautet Dr. Brooke Magnanti und sie erklärte, sie hätte ihren Spaß dabei gehabt. „Was ich da zum Thema Prostitution schreibe, durfte man bislang so nicht sagen“, sagte sie. „Es muss kein böses Ende geben“.
Dr. Magnanti ist eine Ausnahme, selbst wenn sie die Rolle der glamourösen Sozialarbeiterin in Sachen Prostitution spielt. Sie hatte den Job angenommen, weil ihr während des Studiums das Geld ausgegangen war; heute arbeitet sie als Forscherin. Ihre Erfahrungen als Prostituierte entsprechen nicht der Norm; sie hatte Glück, denn normalerweise bringt die Prostitution, verkürzt gesagt, Frauen schlichtweg um.
Lösen wir uns von dem Bild der Schauspielerin Billie Piper, wie sie in langen Strümpfen die Hauptrolle in Secret Diary of a Call Girl spielt, und sehen wir uns die Fakten an. Sie sind alles andere als erregend. 2003 veröffentlichte das Magazin Journal of Trauma Practice eine Studie, für die 854 Prostituierte (darunter auch Männer und Transsexuelle) in neun verschiedenen Ländern befragt worden waren. Der Bericht ist ein Epos über körperliche Gewalt und Trostlosigkeit. Hinter den nackten Zahlen stehen Faustschläge ins Gesicht, geschlagene Körper, gebrochene Rippen, blaue Augen und Würgemale am Hals.
Die Mehrzahl der Prostituierten ist irgendwann Gewalt ausgesetzt
Die Studie ergab, dass zwischen 70 und 95 Prozent der Befragten während ihrer Arbeit Opfer körperlicher Gewalt geworden waren; 60 bis 75 Prozent waren im Zuge ihrer Arbeit vergewaltigt worden, mehr als die Hälfte von ihnen mehrfach. Zwischen 65 und 95 Prozent der Befragten waren bereits als Kinder missbraucht worden. Der Zusammenhang zwischen dem Missbrauch in der frühen Kindheit und dem weiteren Missbrauch im Erwachsenenalter ist offensichtlich.
Über zwei Drittel der Befragten (68 Prozent) leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Die Zahl der Vietnamveteranen, die unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, ist nur halb so hoch. Die Studie berichtet ausführlich darüber, dass Prostituierte, was kaum überrascht, an körperlichen und seelischen Krankheiten leiden, und dass ihr gesundheitlicher Zustand immer schlechter wird, je länger sie als Prostituierte tätig sind.
Die Wahrscheinlichkeit, frühzeitig zu sterben, ist bei einer Prostituierten vierzig Mal so hoch wie bei einer Frau, die nie als Prostituierte gearbeitet hat. Das geht aus einem Bericht aus dem Jahr 1985 hervor. Angesichts dieser Fakten erscheint die Prostitution dann doch weniger als eine sorgenlose Karriereentscheidung – Schuhe! Strümpfe! Sex! –, denn als der sichere Weg ins Elend. Die Befragten können ein Lied davon singen. 85 Prozent von ihnen haben versucht auszusteigen.
Im Londoner Stadtteil Soho bekommt man das an jeder Ecke mit. Ich habe einmal beobachtet, wie sich ein wohlhabender Mann in einem Anzug geradezu seinen Weg aus einem Bordell geboxt hat. Was erst hatte er mit der Frau dort drinnen getan? Ein anderes Mal habe ich mit einer jungen obdachlosen Prostituierten gesprochen. Zwei Wochen später habe ich erfahren, dass sie mit einem Mann nach Hause gegangen war. Er hatte sie eingesperrt und sie war schließlich aus dem Fenster gesprungen und hatte sich beide Knöchel gebrochen. Zwei Monate später war sie tot. Sie wurde in einem weißen Sarg beerdigt, mit einem lilafarbenen Blumengesteck in Form eines Teddybärs.
Legalisierung ist keine Lösung
Wie halten wir es nun mit dem „ältesten Gewerbe der Welt“? Diese abscheuliche Phrase suggeriert, dass es unvermeidlich sei: kommt bloß nicht auf die Idee, es abschaffen zu wollen. Sollten wir es also legalisieren und Lizenzen erteilen? Werden die Frauen dadurch geschützt, sind sie dadurch in Sicherheit? Die zentrale Frage ist, ob es wohl jemals gelingen kann, diese beiden Seiten einer Medaille, Gewalt und Prostitution, voneinander zu trennen.
Die Erfahrung lehrt das Gegenteil. Neuseeland, die Niederlande und Teile Australiens haben die Legalisierung ausprobiert. Das unmittelbare Resultat war ein Anstieg der Anzahl der Prostituierten. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass sich die Zahl der Straßenprostituierten in Auckland in Neuseeland verdoppelt hat, seit das Gesetz 2003 in Kraft trat. Es gibt Streetworker, die davon ausgehen, dass sich die Zahl sogar vervierfacht hat. Im australischen Victoria hat sich die Zahl der legalen Bordelle verdoppelt, die der illegalen hat um das Dreifache zugenommen.
Sind die Prostituierten gesünder und zufriedener geworden? Werden ihre Kunden sanfter, nur weil das Gewerbe jetzt legal ist? Offensichtlich nicht. In den Niederlanden berichten 60 Prozent der Prostituierten von Körperverletzungen, 70 Prozent erzählen von Gewaltandrohungen, 40 Prozent haben sexuelle Gewalt erfahren. Wenn man ihre Aussagen liest und die Daten auswertet, dann bekommt man den Eindruck, dass die Legalisierung eher ein Geschenk für die Zuhälter und Frauenhändler war und nicht die mutige und vernünftige Entscheidung einer aufgeklärten Gesellschaft. Der Gedanke hinter der Legalisierung mag edel gewesen sein, aber er funktioniert augenscheinlich nicht. Es gibt weiterhin tätliche Angriffe, Vergewaltigungen und auch das Stigma bleibt bestehen – weitaus stärker für die Prostituierten als für ihre Kunden.
Die meisten Prostituierten haben keine Wahl
Man muss dem Gesetz Zeit geben, mag man nun argumentieren. Und sollte sich eine Frau, davon abgesehen, nicht für die Prostitution entscheiden können, wenn es das ist, was sie wirklich will? Angenommen, dem wäre so, und eine Frau würde einfach nur aufgrund eines vorübergehenden finanziellen Engpasses zur Prostituierten, wie erklären wir es uns dann, dass die große Mehrheit der Prostituierten aus den ärmsten Schichten der Bevölkerung kommt und schon in der Kindheit unter Vernachlässigung und Gewalt gelitten hat?
Wollen wir wirklich hinnehmen, dass dies ihre „Wahl“ ist, und uns zu unserer Aufgeklärtheit gratulieren, während sie geschlagen und vergewaltigt werden? Oder haben wir den Mut, uns dafür einzusetzen, dass es andere und bessere Wege gibt, auf denen diese Frauen der Armut und den zerstörerischen Folgen der frühen Gewalterfahrung entkommen können. Setzen wir uns dafür ein, dass sichere Wohnungen, Ausbildungen, Entzugskuren, Therapien, Rechtsberatung, eine Gesundheitsversorgung und der Schutz vor Zuhältern gewährleistet werden. Und vielleicht auch dafür, dass Doktorandinnen bessere Stipendien erhalten. Ich bin froh, dass du nicht geschlagen worden bist, Belle, aber Prostitution ist die falsche Lösung; eine Lösung, die geradewegs ins Nichts führt.
Übersetzung: Christine Käppeler
Quelle:
http://www.freitag.de/alltag/0946-prostitution-gewalt-belle-de-jour
Den Text ist starke Propaganda gegen Prostitution.
Leider ist die Debatte sehr polarisiert, weil es um große Tabus geht: Sex, Geld, Arbeit, Ausbeutung, Herrschaft, Migration, Fremde, Geschlecht…
Hier hat sich jemand die Mühe gemacht den Aufsatz zu kommentieren, was ich lesenswert finde:
http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2009/nov/18/prostitution-handwringing-belle-de-jour
Google Übersetzung ins deutsche:
http://bit.ly/2LhPRu
Bitte keine Verallgemeinerungen aufkosten der Frauen, Transsexuellen und Männern, die in der Sexarbeit freiwillig und selbstbestimmt unter widrigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Vorurteilen überleben wollen (müssen).
Mit solidarischen Grüßen
vom Sexworker-Forum,
dem Vorläufer einer Gewerkschaft für SexarbeiterInnen
Hallo,
mir fällt es sehr schwer, mich in Freier und Prostituierte hineinzuversetzen – wahrscheinlich geht es vielen Leuten so.
Ich versuche es trotzdem mal.
Tabus und Ausgrenzung führen ja dazu, dass sich viele Mythen um Prostitution ranken.
Der Reiz von Prostitution für den Freier scheint ja einmal im „Verbotenen“ zu liegen und darin, sich ohne große Anstrengung sexuell „erleichtern“ zu dürfen.
Das kann ich sogar nachvollziehen.
Die Großmutter einer Bekannten hat über ihre sexuelle Beziehung zu ihrem Mann gesagt “ ich war seine Sex-Kloake“. Das klingt erstmal schlimm, aber es ist doch eigentlich nur wahr. Die Frau war so ehrlich und realistisch, dass es schon wieder befremdlich ist.
Es gibt viele wichtige Berufe, die nicht gut beleumundet sind und mit Tabus und Abwehr belegt – Totengräber, Bestatter, Müllmann z.B.
Wie viele Altenpfleger hören „iiih, alten Leuten die Windeln wechseln…das könnte ich nicht“, wenn sie ihren Beruf nennen.
Sogar Zahnärzte hören „was, anderen Leuten im Mund rumfummeln?“. Dabei gehören sie im Gegensatz zu den oben genannten Dienstleistern zu den Besserverdienenden.
Über Prostituierte denken wir „Sowas macht der/die mit wildfremden Leuten?“.
Die Großmutter der Bekannten wäre doch wahrscheinlich froh gewesen, wenn sich ihr Mann woanders Erleichterung verschafft hätte – warum nicht bei einer Prostituierten.
Noch besser wäre es gewesen, der Großvater wäre in der Lage gewesen, zu seiner Frau eine echte erotische Beziehung aufzubauen. Davon hätten doch beide was gehabt.
Und die Prostituierte ginge einem Beruf nach, in dem man nicht „Sexualmüllentsorger“ spielen muss für Menschen, die mit „Sexualität auf Augenhöhe“ überfordert sind. Oder die über Sex nur ihre Aggressionen abbauen wollen und dafür verständlicherweise keinen Partner finden.
Oder die einfach sexuell so unerfahren oder unbedarft und unbegabt sind, dass sie ihre Partner schnell wieder verlieren bzw. der Partner auf Sexkontakte wenig Wert legt.
„Multimodalen Sex“ lernen bzw. können viele Menschen eben leider nicht. Kenntnisse erwerben sich viele Menschen leider über Mythen – „Stories“ oder Pornos (filmisch festgehaltene Mythen – Märchen für Heranwachsende und Erwachsene).
Ein Freund hat für die Art Sex, die dieser Großvater damals, genauso wie viele Männer heute noch praktizierte die Bezeichnung „Pömpelsex“.
Ich weiß nicht, wo die herkommt aber ich finde, das triffts ungemein.
Zuerst habe ich über den Begriff gelacht – mittlerweile stimmt er mich traurig.
Die Frauen, die in dem „guardian“-Kommentar beschrieben werden, hatten existentiell die Wahl zwischen „Läusen“ und „Flöhen“. Das jemand dann die „Flöhe“ wählt, wenn man dafür besser bezahlt wird, dass sie einen beißen dürfen, kann ich gut nachvollziehen.
Und Menschen, die schon als Kind daran gewöhnt wurden, andere über ihre Grenzen gehen zu lassen und Ekel und Abwehr einfach auszuhalten oder zu verdrängen, wird es erstmal weniger schwer fallen, „Flöhe“ an oder in sich zu akzeptieren.
Da ja wie wir hier unlängst lesen mussten, 10 Prozent der Mädchen und 5 Prozent der Jungen genitalen Sex ertragen mussten, ist ja für Nachwuchs dieser Art gesorgt.
Krank werden diese Menschen sowieso eher als die „Nicht-Betroffenen“. Wenn sie als Prostituierte arbeiten vielleicht noch etwas schneller und heftiger.
Einige Prostituierte sind dagegen vielleicht einfach anderen Menschen bzw. dem anderen Geschlecht gegenüber robust oder anspruchslos. Möglicherweise gefällt ihnen ihre Arbeit sogar.
Dafür wären Umfragen doch gut „Was gefällt Ihnen an Ihrer Arbeit, was nicht“.
Was die Einschätzung zur Arbeitszufriedenheit von Büroangestellten angeht, stimme ich mit der „guardian-Kolumnistin“ nicht überein. Vielen Menschen gefällt ihre Arbeit grundsätzlich – sie haben nur an bestimmten Dingen etwas auszusetzen.
Die hochemotionale Diskussion über Prostitution zeigt ja, dass dieses Thema etwas in uns anrührt, was unausgegoren, verdrängt oder ambivalent ist.
Mir geht es so, dass ich bei diesem Thema immer unangenehm daran erinnert werde, auf welchem Niveau sich die sexuelle Kultur in den meisten Gegenden dieser Welt befindet.
Nämlich auf einem ganz niedrigen.
Das ist wohl so, aber es ist kein schöner Gedanke. Er ist so vollkommen unromantisch.
Angeblich entstand dieser sexuelle Kulturverlust im Neolithikum (Jungsteinzeit), mit dem Übergang von der Jäger- und Sammlerkultur zu den Bauern und Viehzüchtern.
Aus gleichberechtigen, angesehen, als Mensch wertvollen Frauen wurden nach und nach rechtlose Handelsobjekte.
Im übrigen konnte auch ein Mann ein Objekt werden – wenn er besitz- und damit rechtlos war.
Mann musste sich nicht mehr bemühen, er konnte eine Frau, bzw. einen rechtlosen Mann kaufen. Egal wie alt, häßlich, unbegabt oder krank er war, Hauptsache er hatte Besitz. Aus der Perspektive des Besitzenden ein sehr attraktives Arrangement.
Oder anders gesagt : Aus „haute-cuisine“-Sex wurde „schlabberige Pommes mit ranziger Mayo“.
Lecker!
Die Jungsteinzeit ist erst 12 000 Jahre her. Insofern besteht Hoffnung, dass es sexualkulturell wieder aufwärts geht.
Das solche Diskussionen wie hier möglich sind und es Menschen gibt, die sich von Mythen, Traditionen, Dummheit und schlechten Gewohnheiten nicht blenden und verunsichern lassen läßt mich hoffen.
Angelika Oetken, Berlin