05.11.2009

Deutsche Justiz
Im Überlastungsfall für den Angeklagten

Von Barbara Hans

Das Landgericht Schwerin hat einen Mann wegen sexuellen Missbrauchs seiner Nichte und seiner Tochter verurteilt – zu zwei Jahren auf Bewährung. Die milde Strafe kam unter anderem deshalb zustande, weil die Sache von den Behörden jahrelang verschleppt wurde. Eine Fallstudie.

Hamburg – Es ist einem Zufall zu verdanken, dass der Stein im Frühsommer 2006 ins Rollen kommt.
Bei der Familie H*. hält man Kaffeeklatsch. Das Gespräch beginnt harmlos, man spricht über dies und das, schließlich kommt das Thema auch auf Onkel Uwe.* Seit der Scheidung ist der Kontakt zwischen Uwe B. und den H.s, der Familie seiner Ex-Frau, praktisch abgerissen, anders als früher sieht man sich nur noch selten.

Gerade wurde die Scheidung Onkel Uwes von seiner Frau vor dem Familiengericht verhandelt, es ging um das Sorgerecht für die vier gemeinsamen Kinder. Am Kaffeetisch der H.s offenbart schließlich eines der anwesenden Mädchen, dass es von B. missbraucht worden sei. „Hast Du auch was mit dem gehabt?“, wird ein weiteres Mädchen, B.’s Nichte, gefragt. Die Antwort ist knapp und unmissverständlich: „Ja.“ Sie sei von ihrem Onkel vergewaltigt worden, sagt sie unter Tränen.

Wenige Tage später erstattet ihr Vater Anzeige gegen seinen früheren Schwager.

Nun, drei Jahre später, ist B. von der Strafkammer 3 des Landgerichts Schwerin wegen des sexuellen Missbrauchs seiner Tochter und seiner Nichte zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden.

Verteidiger, Richter und Staatsanwalt sprechen von einer angemessenen, wenn auch milden, Strafe – die Schlagzeilen sprechen eine andere Sprache. Bis in die Schweiz ist die Nachricht von B.’s Verurteilung vorgedrungen. „20 Minuten“, die auflagenstärkste Tageszeitung der Schweiz, schimpft die Entscheidung des Schweriner Landgerichts ein „Skandalurteil“.

Die Geschichte von Uwe B., 40 Jahre, vierfacher Vater, Hartz-IV-Empfänger, geschieden, wohnhaft in einem kleinen Ort in der Nähe von Schwerin, ist ein Lehrstück über die Argumentations- und Arbeitsweise deutscher Gerichte. Es ist eine Geschichte, die sich zwischen zwei Polen bewegt: dem, was juristisch vertretbar ist – und was Nicht-Juristen dennoch für unangemessen halten. Warum bekam B. eine so milde Strafe?

Rückblick: Im Sommer 2000 hat B. eine schwere Zeit. Er hat seine Ausbildung noch zu DDR-Zeiten abgeschlossen, seither lebt er von Gelegenheitsjobs und Arbeitslosengeld. Die Ehe kriselt, seine Frau verlässt ihn. Immer wieder raufen sich die beiden zusammen, nur um sich wenig später erneut zu trennen. Die vier gemeinsamen Kinder leiden unter der Situation. In jenen Monaten beginnt Uwe B., seine damals zwölf Jahre alte Nichte zu missbrauchen. Der Kontakt ist intensiv, das Mädchen besucht B. regelmäßig gemeinsam mit seiner Mutter, auch B. ist häufig bei seiner Schwägerin und deren Tochter in der Wohnung.

„Damals ahnte ja keiner was“, sagt Richter Armin Lessel nun, neun Jahre später, rückblickend SPIEGEL ONLINE.

Ein Geständnis – zunächst ohne Folgen

Unter Vorwänden nimmt B. das Mädchen in jenem Sommer mehrfach mit in eine Garage, die er angemietet hat. Das Prozedere dort ist fast immer gleich: B. bittet seine Nichte, ihn mit Massageöl einzureiben, dann befriedigt er sich selbst. Bei einigen Vorfällen ist seine Tochter ebenfalls anwesend. Einmal fesselt B. seiner Nichte die Hände, damit sie sich nicht wehren kann. In jenem Sommer vergewaltigt B. das Mädchen auch.

Ende 2003 oder Anfang 2004, den genauen Termin konnte das Gericht nicht feststellen, kommt es zum letzten Vorfall: Die Nichte will B.’s Ehefrau besuchen, doch die ist nicht Zuhause. Stattdessen wird das Mädchen ein weiteres Mal von B. missbraucht. Seine Tochter sperrt er bei winterlichen Temperaturen in Unterwäsche auf den Balkon und droht, sie erfrieren zu lassen, sollte die Nichte nicht tun, was er will.

Laut dem Urteil kommt es insgesamt zu sieben Taten, sechs Missbrauchsfällen und einem schweren sexuellen Missbrauch, der Vergewaltigung.

Bei dem Familientreffen 2006 kommen die Missbrauchsfälle erstmals zur Sprache. Eine weitere Nichte offenbart, dass B. ihr Liebesbriefe geschrieben und einen Tanga geschenkt hat. Missbraucht hat er sie nie, der Fall ist vor Gericht nicht von Bedeutung.

Am 26. Juni 2006 erstattet der Vater der Nichte Anzeige bei der Polizei. Nur einen Monat später bittet Uwe B. um eine richterliche Vernehmung. Er gesteht die sieben Taten, bestreitet aber zunächst, das Mädchen vergewaltigt und es mit der Androhung, seine Tochter umzubringen, gefügig gemacht zu haben. Diese beiden Aspekte räumt er später ebenfalls ein.

Über Jahre passiert – nichts

Das Verfahren wird jedoch erst im Januar 2009 eröffnet. Zum einen liegen die Aussagen der Mädchen monatelang unbearbeitet bei der Hamburger Polizei, deren Schreibdienst so überlastet ist, dass er die Aufzeichnungen nicht abtippen kann.

Das Landgericht Schwerin hat derart viele Haftsachen zu bearbeiten, dass alles andere hinten anstehen muss. Der Druck seitens der Politik ist groß: Eine verschleppte Haftsache macht negative Schlagzeilen. Das Gericht jedoch ist völlig überfordert. Uwe B. muss warten, sein Fall bleibt liegen. Erst am 13. Juli 2007 wird Anklage gegen ihn erhoben.

Insgesamt drei Jahre vergehen zwischen seinem Geständnis und dem Beginn der Verhandlung. In einem ersten Anlauf im Mai 2009 hört das Gericht die beiden jungen Frauen, die B. vor nunmehr neun Jahren missbraucht hat. Doch die Verhandlung wird unterbrochen, einer der Beisitzer geht in den Sommerurlaub. Die Höchstdauer von Pausen zwischen den Verhandlungstagen wird überschritten, das Gericht muss den Fall ein zweites Mal ansetzen.

Wieder vergehen Monate.

Monate, die B. später zugute gehalten werden. Er profitiert von der Überlastung des Gerichts.

Im Oktober 2009 beschäftigt sich die Große Strafkammer 3 erneut mit dem Fall. B.’s Geständnis erspart den Frauen eine weitere Aussage. Der 40-Jährige beteuert vor Gericht, das Geschehene tue ihm leid. Die Eheprobleme seien der Grund für die Belästigungen gewesen. Auf die Frage von Richter Lessel, ob die beiden Mädchen damals freiwillig mitgemacht hätten, sagt er in dem holzvertäfelten Saal: „Das kam mir so vor.“

Der anwesende Anwalt der Nebenklage wird später sagen, er habe den Eindruck gehabt, B. wisse nicht, was er den Mädchen angetan habe, er habe die Dimension des Geschehens nicht erkannt.

Inzwischen ist er mit einer anderen Frau liiert, die zwei Kinder mit in die Beziehung gebracht hat. Er fühle sich nicht mehr sexuell zu Minderjährigen hingezogen, sagt B. in der Verhandlung. Da keine weiteren Vorfälle aktenkundig geworden sind, geht das Gericht nicht von einer Gefährdung der Allgemeinheit aus.

„Riesenglück“ für den Angeklagten

Mit der zweijährigen Bewährungsstrafe entspricht das Urteil den Forderungen von Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Nebenklage-Vertreter. „In diesem Fall kamen mehrere Dinge zusammen. Insgesamt hat der Angeklagte Riesenglück gehabt“, sagt Lessel.

Aus verschiedenen Gründen ist B. mit einer Bewährungsstrafe davongekommen:

• Die Taten fanden vor der Strafrechtsreform 2004 statt, das Gesetz sah damals eine mildere Bestrafung vor. 
• B. wurde sein Geständnis zu Gute gehalten, das den Opfern eine weitere Vernehmung erspart hat.
• Die lange Verfahrensdauer wirkt strafmildernd für den Angeklagten.
• Die Taten liegen lange zurück.
• Bis zum Prozess hatte er sich nichts zu Schulden kommen lassen und war nicht vorbestraft.
• Teil der Bewährungsauflage ist es, dass er seinem Opfer Schmerzensgeld zahlt und eine Therapie beginnt.
• Das Gericht konnte keine anhaltenden Beeinträchtigungen der Opfer feststellen.

Das Sexualstrafrecht wurde zum 1. Januar 2004 geändert – die Taten fallen also in einen Zeitraum, in dem die Tatbestände des §176 Strafgesetzbuch (Sexueller Missbrauch von Kindern), lascher geahndet wurden als heute. Seither wurde der Mindeststrafrahmen bei schwerem sexuellen Missbrauch, z.B. bei einer Vergewaltigung, von einem auf zwei Jahre Haft angehoben. Nach heutigem Recht wäre B. folglich nicht mehr mit einer Bewährungsstrafe davongekommen.

„Was hätte die Frau davon gehabt, wenn er in den Knast gewandert wäre?“

Diese war nur möglich, weil die Gesamtstrafe genau zwei Jahre betrug – eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren kann im deutschen Recht nicht zur Bewährung ausgesetzt werden.

Das Gericht müsse sich fragen, „Hat der Angeklagte es zu verantworten, dass wir ihm erst jetzt den Prozess machen, oder wir?“, sagt Richter Lessel. In diesem Fall war die Sache eindeutig: B. hatte im Sommer 2006 selbst um eine richterliche Vernehmung gebeten und die Taten weitestgehend gestanden – auf einen Prozess musste er dennoch drei Jahre warten. Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass eine zu lange Verfahrensdauer gegen Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstößt.

„Der Anspruch des Staates auf Strafverfolgung wird zudem immer geringer, je länger die Tat zurückliegt“, begründet der Richter. Mit anderen Worten: B. wird zugute gehalten, dass die Anzeige erst sechs Jahre nach der ersten Serie von Missbrauchsfällen gestellt worden ist.

Die Nichte des Mannes, inzwischen eine junge Frau, ist laut ihrem Verteidiger mit dem Urteil zufrieden. „Was hätte die Frau davon gehabt, wenn er in den Knast gewandert wäre?“, fragen sowohl der Richter als auch B.’s Verteidiger Torsten Kossyk. Durch die Bewährungsstrafe, auf die sich die Beteiligten geeinigt haben, und die damit verbundenen Auflagen muss er künftig monatlich 30 Euro an sein Opfer zahlen. Hätte er Zeit hinter Gittern verbringen müssen, wäre dieser Anspruch nicht durchsetzbar gewesen. Außerdem muss B. eine Therapie machen.

„Die Risiken für die Kinder sind von dem Gericht mit einbezogen worden. Man ist davon ausgegangen, dass er sich straffrei führen wird“, begründet Lessel die Entscheidung des Gerichts, keine Gefährdung der Allgemeinheit anzunehmen. „Nach unserer Einschätzung sind die zwei Jahre die Strafe, die der Mann verdient hat.“

„Dieses Urteil ist kein Freispruch und auch nicht mit einem Freispruch zu vergleichen“, sagt B.’s Verteidiger Kossyk SPIEGEL ONLINE. „Herr B. ist vielmehr gerade noch einmal so davongekommen.“ Es handele sich um ein mildes, aber faires Urteil.

*Die gekürzten Namen wurde von der Redaktion verändert.

Quelle:

http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,656241,00.html