Bei chronischen Schmerzen müssen behandelnde Ärzte immer auch an eine körperliche, sexuelle und seelische Misshandlung in der Kindheit denken, appellieren Mediziner auf dem Deutschen Schmerztag in Frankfurt an ihre Kollegen.

(Frankfurt) „In Deutschland werden die psychosomatischen und psychiatrischen Folgen aller Formen von Kindesmisshandlungen noch deutlich unterbewertet und unterdiagnostiziert“, meint Professor Tilman Fürniss, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universität Münster. Körperliche, seelische und sexuelle Misshandlungen können die Ursache für schwere akute und chronische Schmerzerkrankungen sein. Trotzdem stellen viele Ärzte ihren Schmerzpatienten die sensible Frage nach erlittenen körperlichen, sexuellen und seelischen Misshandlungen in der Kindheit nicht.

Kindesmisshandlung macht körperlich und seelisch krank

Dass viele Mediziner körperliche, sexuelle und seelische Misshandlungen in der Kindheit als Ursache für ein chronisches Schmerzleiden nicht in Betracht ziehen, kann oft auch daran liegen, dass sich die Schmerzen in späteren Jahren häufig ganz anders äußern als sie bei der Misshandlung ursprünglich erfahren wurden. So berichten zwar Frauen, die als Kind sexuell misshandelt wurden, häufig über gynäkologische Schmerzen. Doch die Beschwerden können sich auch auf andere Teile des Körpers verlagern: Manche der Opfer entwickeln zum Beispiel chronische Kopf- oder Bauchschmerzen, Brust- oder Unterleibsschmerzen und behandlungsresistente Rückenschmerzen etc.

Zweierlei Erfahrungen sind es nach Ansicht von Professor Fürniss, die nach Kindesmisshandlung zu chronischen Schmerzen führen können. Jene „primären“ Schmerzen, welche die Opfer während einer körperlichen oder sexuellen Misshandlung ertragen mussten, können im Körper unmittelbar Spuren hinterlassen und sich tief in das „Schmerzgedächtnis“ einbrennen. Die Schmerzen bleiben dann – als sekundäre Schmerzen – in der ehemals verletzten Körperregion bestehen – oft noch Jahre später.

Seelenschmerz wird zum Körperschmerz

Das zentrale Trauma bei allen Formen von Kindesmisshandlung ist der „Seelenschmerz“, die „verletzte und blutende Seele“. Schmerzsymptomatik, schweres Somatisieren, Angstsymptomatik, vermehrte Depressionen und andere psychiatrische und psychosomatische Erkrankungen können als Folge aller Formen von Kindesmisshandlung auftreten. Fürniss: „Wenn Seelenschmerz nach Kindesmisshandlung zu körperlichen Schmerzen wird, muss auch primär die Seele diagnostiziert und behandelt werden.“ Auch ohne körperlichen Schmerz kann die Seelenqual bei sexueller und emotionaler Misshandlung die Schmerzempfindung nachhaltig schädigen: „Allein die Angst und die Traumatisierung können schwere chronische Schmerzerkrankungen verursachen“, betont Professor Fürniss. Menschen, die „nur“ psychisch misshandelt wurden, werden so ebenfalls zu potenziellen Schmerzpatienten.

Selbstbetäubung gegen Schmerz als Überlebensstrategie

Dass die Schmerzwahrnehmung bei Missbrauchsopfern schwerstens beeinträchtigt sein kann, sehen Kinder- und Jugendpsychiater in der Praxis auch daran, dass in ihrer Kindheit misshandelte Patienten nicht nur eine erniedrigte, sondern auch eine ungewöhnlich hohe Schmerzschwelle haben können. „Manche misshandelte Kinder und Jugendliche fügen sich immer wieder selbst stark blutende Verletzungen zu, ohne dabei Schmerzen zu empfinden“, berichtet Professor Fürniss. Die Kinder betäuben sich praktisch selbst. Ursprünglich hilft diese „Selbstanästhesie“ oder „Selbsthypnose“ dabei, Schmerz und Angst während der Misshandlung nicht zu spüren.

Körperlich und seelisch verletzte Kinder werden schmerz- und seelenkrank

Selbstverletzungen werden häufig von Depressionen und anderen psychiatrischen Erkrankungen begleitet. Nach Erfahrungen von Fürniss kann die Schmerzwahrnehmung dieser Patienten durch eine psychotherapeutische Behandlung der seelischen Traumatisierung, Depression und anderer psychosomatischer und kinderpsychiatrischer Erkrankungen oft wieder normalisiert werden. Um chronischen Schmerzen als Folge von körperlicher, sexueller und seelischer Kindesmisshandlung vorzubeugen, rät er deshalb zu einer frühzeitigen gründlichen Diagnostik und einer spezifischen Traumatherapie durch einen Kinder- und Jugendpsychiater.

Zahlenmäßig ein massives Problem – hohe Gesundheits- und Sozialkosten

In angloamerikanischen Studien kamen Ärzte zu dem Ergebnis, dass bis zu 60 Prozent der von ihnen untersuchten chronischen Schmerzpatienten in ihrer Kindheit körperlich, sexuell oder seelisch misshandelt worden waren. Im Jahr 1997 wurden bei einer immer noch bestehenden enormen Dunkelziffer in den USA nachweislich 1,1 Millionen Kinder und Jugendliche körperlich, sexuell oder seelisch misshandelt oder vernachlässigt. In Deutschland gibt es jedoch keine vergleichbaren Statistiken. Auf die Bundesrepublik übertragen, wären dies 350.00o nachweislich misshandelte Kinder pro Jahr – ein massives Potenzial für Schmerzerkrankungen und andere kinderpsychiatrische und psychosomatische Erkrankungen.

Durch lang andauernde und komplizierte Diagnostiken und Therapien sowie durch häufige Arztbesuche bei verschiedenen Ärzten und einer deutlich erhöhten Operationsrate von Schmerzerkrankungen, die durch Misshandlungen in der Kindheit bedingt sind, entstehen durch unterdiagnostizierte und fehlbehandelte Patienten enorme Kosten, die das Gesundheitssystem belasten. US-Untersuchungen zeigen, dass gesundheits- und sozialökonomische Folgen durch Erkrankungen und Schädigung der seelischen und sozialen Funktionen nach schwerer Kindesmisshandlung zwischen 450.000 und 600.000 Euro betragen können.

Darum sollten Ärzte, die erwachsene Patienten mit chronischen Schmerzen unklarer Ursache untersuchen, auf sensible und einfühlsame Art Fragen nach möglichen Traumatisierungen durch Misshandlung in der Kindheit stellen. Kinder mit unklaren schweren chronischen Schmerzen sollten von einem Kinder- und Jugendpsychiater zur diagnostischen Evaluation überwiesen werden.

01.03.2002
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Quelle:

http://www.schmerzliga.de/presse/2002/pressemeldung_10.htm