Offener Brief – Psychoanalytische Vereinigung, sollen Opfer schweigen?
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Antwort von Deutsche Psychoanalytische Vereinigung e.V. am 28.09.2009
Sehr geehrter Herr Denef,
als wir Anfang August Ihren Aufruf erhielten, Ihre Initiative zur Aufhebung der Verjährungsfrist für sexuellen Mißbrauch im Zivilrecht zu unterstützen, standen wir im Vorstand der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) vor einem Problem, das wir auch von anderen Initiativen, die an uns herangetragen werden, kennen. Einerseits haben wir als Privatpersonen Ihr Anliegen als sehr gut nachvollziehbar und gerechtfertigt eingeschätzt – wir wissen aus unserer Arbeit mit Opfern sexueller Gewalt, wie langwierig und schwer der Weg dahin ist, sich überhaupt herauszutrauen und öffentlich bekannt zu machen, was geschehen ist. (Ihr Buch zeigt das in eindrucksvoller Weise.)
Andererseits ging es nicht darum, wie wir als Privatpersonen dazu stehen, sondern Sie wollten von unserer Vereinigung eine Unterstützung Ihres Anliegens. Nun ist es so, daß es in der DPV als wissenschaftlicher Fachgesellschaft und gemeinnützigem Verein in Übereinstimmung mit ihrem satzungsgemäßen Auftrag einen Grundsatzbeschluß gibt, keine Stellungnahmen zu politischen Petitionen abzugeben, weder positiv noch negativ. Das ist ganz unabhängig davon, ob die Mitglieder des Vorstands ein Anliegen, wie in Ihrem Fall, persönlich für unterstützenswert halten.
Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände in der Ferienzeit bedingt, ist Ihnen der daraus resultierende Beschluß leider in einer so verkürzten Form mitgeteilt worden, daß der Eindruck der grundsätzlichen Ablehnung Ihres inhaltlichen Anliegens und sogar der der Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern sexueller Gewalt entstehen konnte. Als Vorsitzender der DPV bedaure ich das sehr, es stellt unsere Einstellung geradezu auf den Kopf. Ich habe Ihnen gegenüber das zusammen mit unserer o.a. formellen Grundposition ja bereits in zwei längeren Gesprächen zum Ausdruck gebracht.
Ihre Angriffe auf die Psychoanalyse („kein Freund für Gewaltüberlebende“, „Onkel Freuds Märchenkiste … schadet den Opfern“ etc.) muß ich zurückweisen. Es werden Klischees reproduziert, die die geschichtliche Entwicklung verzerren und der gegenwärtigen Wirklichkeit der analytischen Psychotherapie nicht angemessen sind.
Wie ich Ihnen mitgeteilt habe, werde ich auf unserer nächsten Mitgliederversammlung im November unseren Mitgliedern von Ihrem Anliegen berichten und entsprechendes Informationsmaterial auslegen. Es besteht zudem für die Anwesenden die Gelegenheit, sich in eine Unterschriftenliste für Ihr Anliegen einzutragen.
Mit freundlichen Grüßen
gez.: Dr. G. Schneider
(Vors. der DPV)
Positiv zu dem offenen Brief ist festzustellen, dass die DPV sich mit Norberts Petition auseinander gesetzt hat und nun ihre Ablehnung, diese zu unterschreiben, ausführlich begründet und erläutert. Damit hat sie den zuvor entstandenen Eindruck der schnöden Missachtung ausgeräumt.
Inhaltlich allerdings sind die vorgebrachten Gründe nur schwer zu verstehen. Die DPV führt im wesentlichen aus, die Mitglieder ihrer Vereinigung hätten als Privatpersonen großes Verständnis für die Schwierigkeiten von Opfern sexueller Gewalt und unterstützten Norberts Anliegen aus vollem Herzen. Im Zusammenschluss ihrer Vereinigung seien der DPV jedoch leider die Hände gebunden wegen des Grundsatzbeschlusses, sich nicht politisch zu betätigen.
Für mich sieht genau diese Argumentation nach einem politischen Winkelzug aus, denn die DPV verschanzt sich hinter einer bürokratischen Formalie, um keine Entscheidung in der Sache treffen zu müssen.
Es ist anzuerkennen, dass die DPV in ihrer nächsten Mitgliederversammlung auf Norberts Petition hinweisen will, aber ist diese Vorgehensweise nicht schizophren? Die Mitglieder der DPV müssen sich nämlich in ihrer Meinung aufspalten: Als Privatpersonen dürfen sie die Petition durchaus unterschreiben, in ihrer Eigenschaft als Mitglieder der DPV haben sie sich offiziell einer Meinung zu enthalten. Sollte nicht eine Vereinigung die Summe der Meinungen ihrer Mitglieder zum Ausdruck bringen?
Und wie vereinbart sich der Anspruch der DPV eines sozialen Engagements in der Öffentlichkeit mit politischer Abstinenz? Sind da nicht die Grenzen fließend? Hat Norberts Petition nicht auch einen sozialen Aspekt, indem die Betroffenen von sexueller Gewalt die Möglichkeit erhalten, zeitlich unbegrenzt Schadensersatz von ihren Schädigern zu fordern? Geld, auf das sie oft genug angewiesen sind, denn mit einer geschundenen Seele ist es nicht so einfach, einen Beruf auszuüben und Geld zu verdienen…
Ich appelliere an die DPV, auf ihrer nächsten Mitgliederversammlung ihren Grundsatzbeschluss der politischen Nichteinmischung aufzugeben, um künftig dort, wo es um Wiedergutmachung für Gewaltopfer geht, klar Stellung zu beziehen!
Hallo an alle Leser,
ich möchte noch etwas sagen zu der Reaktion der Deutschen Psychoanalügenvereinigung. Psychoanalügner lernen in ihrer Ausbildung, dass man sich nicht mit den Opfern identifizieren soll, sondern neutral bleiben soll (Prinzip der Neutralität). Das führt dazu, dass die Täter geschützt und die Opfern praktisch nochmal misshandelt werden und alleine gelassen. Es ist erstaunlich, dass die überhaupt reagiert haben, aber mit einer Begründung sind sie heillos überfordert. Ich war vor einiger Zeit bei einer Podiumsdiskussion zum Thema sex. Missbrauch in meiner Stadt (Rathaussaal, mehrere Hundert Zuhörer, vollbesetzt). In der Mitte saß der Diskussionsleiter der SZ, links von ihm zwei Psychoanalügnerinnen und rechts zwei Leute mit vernünftigen Ansichten. MIssbrauchsgeschädigte saßen nicht auf dem Podium. Eine Therapeutin von der linken Seite (Psychoanlügnerin und Anhängerin der systemischen Familienpest) fing an zu reden und redete und redete, sie erzählte u.a. der sex. Missbrauch würde Spass !!!!! machen. Drei Viertel der Zuhörer, vermutlich Sozialpädagogen, klatschten Beifall, die fanden das anscheinend auch, eine Gruppe klatschte nicht, der war das nicht ganz geheuer, was die Dame erzählte. Im Saal befanden sich auf Missbrauchsopfer, die an zu schreien fingen (aufhören, Scheiße usw.). Wir brüllten quer durch den ganzen Rathaussaal. Da wurde uns der Rausschmiss angedroht.
Im ganzen gesehen bin ich aber doch hoffnungsvoll. Sämtliche Psychoanalügner Deutschlands sind bei docinsider.de aufgeführt. In einigen Jahren wird man ganz genau sehen, was von denen zu halten ist und es wird viel in Bewegung kommen.
Sehr geehrte, liebe Wilma, liebe andere Überlebende,
„Psychoanalügner lernen in ihrer Ausbildung, dass man sich nicht mit den Opfern identifizieren soll, sondern neutral bleiben soll (Prinzip der Neutralität). Das führt dazu, dass die Täter geschützt und die Opfern praktisch nochmal misshandelt werden und alleine gelassen. (Wilma)
GENAU SO!!!!! Habe ich das auch erlebt, bzw. erlebe das auf meiner Suche nach einer psychotherapeutischen Begleiterin nach wie vor REGELMÄSSIG!!! Insofern kann ich auch nicht nachvollziehen, wie der Vorsitzende der DPV, Dr. G. Schneider, in seiner Antwort an Herrn Denef schreiben kann, es würden „Klischees reproduziert, die die geschichtliche Entwicklung verzerren und der gegenwärtigen Wirklichkeit der analytischen Psychotherapie nicht angemessen sind“.
Da kann ich nur sagen: Woher wollen Sie, Herr Dr. Schneider, das wissen? Wie können Sie das für alle Ihre Mitglieder behaupten? Sind Sie dabei, wenn wieder mal eine/r von Ihnen mir sagt, ich solle „das ganze alte Zeugs“ doch jetzt endlich mal loslassen? Oder im Erstgespräch feststellt, er/sie „begäbe sich auf ein Tretminenfeld, wenn man sich mit mir einlasse“, so dass sich „jeder Psychotherapeut schon überlegen muss, ob er sich da hineinbegibt“ (Original-Zitate!!!!). Wer braucht hier eigentlich Hilfe??????
Stichwort „Neutralität“: Ich glaube, viele so genannter ExpertInnen haben das mit der Neutralität noch nicht wirklich verstanden. Eine sehr gute Darstellung der notwendigen Haltung eines/r BegleiterIn habe ich bei Judith Herman („Die Narben der Gewalt“) gefunden: „Der Therapeut muss sich zu „Abstinenz“ und „Neutralität“ verpflichten. „Abstinenz“ bedeutet, dass der Therapeut seine Macht über den Patienten nicht missbraucht, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen. „Neutral“ heißt, dass der Therapeut BEI INNEREN KONFLIKTEN DES PATIENTEN UNPARTEIISCH BLEIBT und nicht versucht, dessen Lebensentscheidungen in eine bestimmte Richtung zu lenken. DIE TECHNISCHE NEUTRALITÄT DES THERAPEUTEN IST NICHT MIT MORALISCHER NEUTRALITÄT GLEICHZUSETZEN. Die Behandlung von Opfern setzt eine engagierte moralische Position voraus. Der Therapeut wird zum ZEUGEN EINES VERBRECHENS und muss dem Patienten gegenüber eine SOLIDARISCHE HALTUNG einnehmen.“ (alle Hervorhebungen durch mich)
Ich glaube mittlerweile, der Großteil der so genannten ExpertInnen hat Angst. Angst vor der Wahrheit. Angst vor den Abgründen, die sich auftun, wenn man sich mit dieser Wahrheit (was Menschen anderen Menschen antun können) abgibt. Eine Angst, die sie sich aber nicht eingestehen. Daher müssen Sie uns abwehren – mit allen möglichen Theorien, Therapie-Konstrukten, Verdrängungen, mit sich-hinter-ihren-Rollen-verschanzen, etc.
Zuletzt aber möchte ich Ihnen, liebe Wilma, danken für Ihre wunderbar-köstlichen Worterfindungen: „Psychoanlügnerin“ und „Anhängerin der systemischen Familienpest“! So herzlich gelacht wie darüber habe ich schon lange nicht mehr! Ich werde sie sofort in meinen Wortschatz aufnehmen – und ich spüre, wie sehr es hilft, die so genannten ExpertInnen nicht so ernst zu nehmen… Danke dafür!
Ich präzisiere meinen Kommentar von gestern: Die Angst der „PsychoanalügnerInnen“ ist die Angst vor Übertretung des 4. Gebots („Du sollst Vater und Mutter ehren“, was auch alle anderen Autoritäten wie Gott, Kirche, Freud, … einschließt). Und das bedeutet im Grunde, dass in jedem dieser so genannten ExpertInnen immer noch das kleine Kind lebt, das (auch) Angst hat, sich gegen Mama und Papa zu erheben. Und das heißt weiter: Viele dieser so genannten ExpertInnen brauchen uns Hilfebedürftigen, um in sich selbst das Gefühl zu nähren, auf der „starken“ Helfenden-Seite zu sein (wer helfen „kann“, ist scheinbar nicht hilfebedürftig, also kein kleines abhängiges Kind mehr). DESHALB können sie sich nicht auf unsere Seite stellen. Und DESHALB sind die Kontakte mit ihnen für uns Überlebende so gefährlich: denn auf eine perfide Art und Weise missbrauchen auch diese so genannten ExpertInnen uns für IHRE Zwecke.
Wahrheit ist relativ…..
ein jeder laesst nur soviel zu wie er will oder kann!
“ Psychoanalügner “ gelungenen Wortschoepfung Bravo !
Nun ja mich machen schon immer die Menschen sceptisch die an meiner Krankheit verdienen, die durch Seelenmord und Folter entstanden ist. Bequeme Sache fuer Psychoanalügner alle 45 Minuten scheint das Thema zu Ende, fuer mich ist es das nie, ich trage die Last jeden Tag 24 Std in mir.
Wünsche allen Ueberlebenden von Seelenmord gute 24 Stunden immer wieder und wieder.
Und du Norbert lass dich von solch billigen Statements nicht in deinem Tun bremsen, du bist auf dem richtigen Weg, weiter so Norbert ich bin stolz auf dich.
Sagt es LAUT!
Pia Survivor
Liebe Pia,
ja, „jede/R lässt nur soviel zu wie er will oder kann!“, und das ist völlig in Ordnung, soweit es uns Überlebende angeht!
Für die so genannten ExpertInnen sehe ich das etwas anders, denn Sie geben ja vor, uns zur Seite stehen zu können, und insofern ist es in ihrem Fall eher schwierig, wenn sie bestimmte eigene „Abgründe“ noch nicht angeschaut und zugelassen haben. Denn dann projizieren sie sie unbewusst auf uns.
Ganz entschieden muss ich aber „NEIN!“ zu Ihrer Aussage „Die Wahrheit ist relativ…“ sagen: Nein, die Wahrheit ist EBEN NICHT RELATIV. Aber gerade WEIL unsere Wahrheit immer wieder relativiert wird, finden wir keine Gerechtigkeit (und somit keine Heilung)!
„… dass der Körper die Wahrheit registriert hat, sein Bewusstsein sich aber weigert, davon Kenntnis zu nehmen. Die im Körper gespeicherte WAHRE GESCHICHTE produziert Symptome, um endlich erkannt und ernstgenommen zu werden. (…) Aber wer soll ihm dabei helfen, wenn so viele „Helfer“ ihre eigene Geschichte fürchten? So spielen wir miteinander das Blinde-Kuh-Spiel, Patienten, Ärzte, Behörden, weil bisher nur wenige die Erfahrung gemacht haben, dass das EMOTIONALE ZULASSEN DER WAHRHEIT die unabdingbare Voraussetzung der Heilung ist.“ (Alice Miller, „Abbruch der Schweigemauer“) (Hervorhebungen durch mich)
Ich bin mittlerweile zutiefst davon überzeugt, dass uns nur die Wahrheit heilt. Und wir dürfen uns nicht länger von der Angst (auch der PsychotherapeutInnen) davon abhalten lassen, unsere Wahrheit IN DEM UNS GEMÄSSEN TEMPO (da stimme ich völlig mit Ihnen überein!) ans Licht kommen zu lassen. Wir dürfen uns nicht länger von Theorien verwirren lassen, deren Ziel vor allem die Vermeidung der Wahrheit ist.
Das ist sehr schade, dass der Unterstützung nicht nachgekommen werden kann aufgrund der Satzung.
Ich hoffe selbst als Opfer, dass es irgendwann doch noch eine Möglichkeit gibt, dass die Verjährungsfrist abgeschafft wird und eine Bestrafung auch noch nach Jahren möglich ist, denn letzten Endes leiden wir Opfer ein ganzes Leben lang darunter.
Ich leide an einer PTBS (Posttraumatischen Belastungsstörung). Bin arbeitsunfähig. Hätte wegen meiner Vergangenheit schon selbst fast mein Leben durch Suizid verloren. Meine mir zustehende Kindheit durfte ich nie erleben. Das ist schlimm und grausam.
Das ist eine Bestrafung meines ganzen Lebens und das vieler weiterer Opfer!
Das ist Mord, Mord an meinem Leben, das ich nie so leben durfte wie ich es mir gewünscht hätte.
Spätestens nach meinem Suizidversuch, weil ich mein Leidensdruck nicht aushalten konnte, hätte man diejenigen wegen Beihilfe zur Selbsttötung heranziehen müssen, denn ohne deren zutun durch sexuelle Misshandlungen, währe es nie zu diesem Druck gekommen, nie zu dieser Ausweglosigkeit und schon recht nicht zu einer lebenslanger psychischen Erkrankung.
Ich habe wegen denen mein innerliches Leben verloren, werde wohl ganz in Rente gehen, werde nie Spaß an einer Familie erleben dürfen, und wenn doch, würde ich jede Zärtlichkeit meiner Partnerin als Rückwurf in die Vergangenheit ansehen.
Die sollten meine Behandlungskosten, Traumatherapien, Therapeuten, Fachärzte und sonstigen Therapien bezahlen. Sie sollen meine Unterbringungen in Kinderheimen zahlen, nicht die Ämter und Behörden. Und nicht ich selbst von meiner kleinen Rente, meine Medikamente, die ich brauche um ohne Depressionen, ohne Suizidgedanken etc. zu leben, um ein zumindest erträgliches Leben führen zu können.
Ich habe mir angewöhnt, in jedem Land in dem ich Urlaub mache, eine Pflanze für all die Opfer von sexueller Gewalt, im jeweiligen Land zu pflanzen.
Ein Zeichen, das Schweigen zu brechen, ein Zeichen des Lebens, ein Zeichen, dass man nicht allein ist, ein Zeichen, dass es Menschen gibt die sich für uns als Missbrauchsopfer gerade in der Kindheit einsetzen.
Eine gelbe Blume, die Stärker leuchtet als das Leiden, um denen die uns so was antun zu zeigen, dass irgendwo in uns drin noch immer etwas positives am Leben hält und man sich durch solche Täter nicht aufgibt, sondern gegen an kämpft, Tag für Tag aufs neue, und mit jedem Tag des Lebens.
Mit lieben Grüssen
Steve
Neues aus unserer beliebten Reihe: „Psychotherapeuten sind gar nicht so“:
Heute wird in unserer Tageszeitung über einen Mann berichtet, der wegen mehrfacher schwerer Brandstiftung vor Gericht steht. Ein psychiatrisches Gutachten sollte darüber Klarheit schaffen, ob es psychische/seelische Gründe für die Taten gibt.
Die Biografie des jungen Mannes (Anfang 30) liest sich so: Aufgewachsen in der ehemaligen DDR, kommt er mit zirka 12 Jahren nach Westdeutschland („er musste Freunde und Verwandte zurücklassen“). Kurz darauf werden er (14-jährig) und sein Bruder (12-jährig) mehrfach von einem im neuen Wohnort lebenden Mann sexuell missbraucht. Seine schulischen Leistungen seien „eher unterdurchschnittlich“ gewesen, liest man weiter, die Hauptschule habe er ohne Abschluss verlassen. Lehre scheiterte wegen einer Allergie. Nach dem Zivildienst schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durchs Leben. Heirat, Scheidung, erneute Heirat. Beide Kinder leben heute in einer Pflegefamilie. Danach: Leben auf der Straße: Schnorren und „zahlreiche Straftaten“ (Betrug, Diebstahl, Urkundenfälschung). Dann die Brandstiftungen, bei denen auch Menschenleben in Gefahr kamen.
Der Gutachter, Dr. Reiner Missenhart, Leiter des psychiatrischen Landeskrankenhauses Bad Schussenried, stellt fest, dass der Angeklagte ein Mensch sei, der „nicht bereit sei, Verpflichtungen einzugehen, der andererseits aber die absolute Autonomie anstrebe“. Er wirke „emotional abgeschottet“ und verstehe es „sich die Welt schönzureden“. Sein Drang, etwas anzuzünden, sei nicht der Anlass für die Taten gewesen, er habe vielmehr gezielt reagiert, wenn er verletzt oder gekränkt worden sei. „Um Rache zu nehmen“. Bei dem Angeklagten, so Dr. Reiner Missenhart zusammenfassend, lägen aber „keine seelischen Störungen vor, auch keine Persönlichkeitsstörung.“
Nur um nicht missverstanden zu werden: Ich finde keineswegs, dass Häuser anzünden und Menschen in Lebensgefahr bringen, tolerierbares Verhalten ist!
Aber ich finde sehr wohl, dass dies mal wieder ein Beispiel dafür ist, dass eben die Tatsache an sich, dass jemand in der Psychiatrie (leitend!) tätig ist, noch lange nicht bedeutet, dass er Traumafolgestörungen und -verläufe erkennen kann. Wenn es in der Biografie eines Menschen das Erlebnis eines (oder mehrerer) sexuellen Missbrauchs gibt, müsste NACH DEM HEUTIGEN WISSENS- UND FORSCHUNGSSTAND ZUM THEMA SEXUELLER MISSBRAUCH UND TRAUMATISIERUNG jedem/r psychiatrischen, psychologischen, psychotherapeutischen, medizinischen, anwaltlichen, richterlichen, polizeilichen etc. „Fachmann/-frau“ klar sein, dass er/sie höchstwahrscheinlich Zeuge/in von Überlebenstechniken aus der Kindheit ist.
ExpertInnen, denen die typischen Traumafolgestörungen geläufig sind, könnten die „mangelnde Bereitschaft, Verpflichtungen einzugehen“, das „Anstreben absoluter Autonomie“, „emotionale Abschottung“ (!!!!), und Flucht vor der Realität („sich die Welt schönreden“) sowie einen Drang nach Zerstörung nach einer Kränkung oder Verletzung eben NICHT losgelöst von dieser Kindheitserfahrung sehen. Denn sie wissen, dass sexueller Missbrauch seelische Wunden hinterlässt, die sich Außenstehenden häufig nur verschleiert präsentieren. Wunden, die sich oft in „einer verwirrenden Vielfalt von Symptomen“ (Judith Lewis Herman) zeigen, zu denen beispielsweise Angstzustände, das Gefühl des Betäubtseins, emotionale Stumpfheit oder Übererregtheit, erhöhter Reizbarkeit u.v.m. zählen.
Wie gesagt: Ich finde Häuser anzünden und Menschen in Lebensgefahr bringen kein tolerierbares Verhalten. Aber ich habe sehr stark das Gefühl, dass dieser Gutachter nicht verstanden hat (oder verstehen will), was sexueller Missbrauch bedeutet. Wie sonst könnte er nach all diesen Einsichten in die persönliche Geschichte des Angeklagten zu dem Ergebnis kommen, dass „keine verminderte Schuldfähigkeit“ vorliegt?
„Viele Menschen“, schreibt Aphrodite Matsakis in ihrem Buch „Wie kann ich es nur überwinden?“, „glauben den Berichten Überlebender über ihr Trauma nicht oder leugnen, dass so etwas hätte geschehen können. Oder sie tun das Ereignis, seine Bedeutung für das Opfer oder seine Wirkung auf das Leben der Betroffenen als unbedeutend ab.“ Sie nennt das “Sekundäre Traumatisierung“.
Ich kann dazu nur wieder sagen: Es ist schon schlimm genug (und oftmals grausam), dass ganz normale Menschen mit unseren Traumafolgestörungen nicht umgehen können (weil sie sie oft nicht verstehen) und uns damit erneut verletzten, verunglimpfen und ausgrenzen. Für mich UNVERSTÄNDLICH und eigentlich NICHT HINNEHMBAR ist das, wenn das auch so genannte „Fachmänner/-frauen“ nicht können.
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Augsburger Allgemeine
„Feuerteufel wurde als Kind missbraucht“
http://www.augsburger-allgemeine.de/Home/Lokales/Guenzburg/Lokalnachrichten/Artikel,-Feuerteufel-wurde-als-Kind-missbraucht-_arid,1930974_regid,2_puid,2_pageid,4497.html
zum Bericht von Petra:
Die konkrete Angelegenheit kann ich nicht beurteilen,
da ich den Fall nicht genau kenne, stimme aber mit der Schlußfolgerung weitestgehend überein.
Es ist schon so, daß ein Betroffener kaum Änderungs-Chancen hat, wenn das Umfeld nicht mitzieht, das heisst, wenn das Verständnis für Traumafolgestörungen noch zu gering ist.
Es müsste eigentlich so sein, daß eben nicht nur ein Opfer allein therapiert wird, sondern die gesamte Bevölkerung diesbezüglich aufgeklärt werden müsste.
Somit blieben Betroffenen zumindest weitere Verletzungen sozialer Art und Ausgrenzungen erspart.
Die Notwendigkeit dessen steht ja wohl außer Frage.
Es hat sich in den letzten Jahren zwar schon viel dahingehend getan, aber offensichtlich bei weitem nicht genug, denn sonst wäre das mit der Ablehnung der Petition so nicht passiert.
Forschung ist momentan nicht das Wichtigste dabei, denn damit hat man bereits sehr genaue Erkenntnisse erreicht.
Es geht vielmehr um die Umsetzung der Erkenntnisse im sozialen Bereich.
Im Grunde geht es dabei doch um eine Wiederherstellung eines gewissen inneren zwischenmenschlichen Gleichgewichtes.
Geschieht dies nicht, so hat man möglicherweise anschließend eben mit den oben dargestellten Problemen zu rechnen (siehe Petra´s Bericht).
Auch die erfolgreiche Petition würde zur Wiederherstellung eines solchen inneren Gleichgewichtes von Betroffenen sehr beitragen.
In meinen Augen eine absolute Notwendigkeit.
Ohne weiteren Kommentar:
„Brandstifter zu langer Haftstrafe verurteilt
Ein 32-jähriger Brandstifter ist vor dem Landgericht Ulm am Mittag zu 13 Jahren und 3 Monaten Haft verurteilt worden. Der Mann hatte innerhalb von zweieinhalb Jahren unter anderem drei Wohnhäuser angezündet. Dabei habe er billigend in Kauf genommen, dass bei einer der Taten zwei Menschen hätten ums Leben kommen können. Mit dem Urteil überschreitet das Gericht die Forderung der Staatsanwaltschaft nach 11 Jahren Haft.“ (Quelle: SWR.de, 16.10.2009)
„Von den angeklagten 500 Fällen blieben am Schluss 119 eindeutig nachweisbare Fälle übrig. Dafür muss ein 46 Jahre alter Sexualverbrecher 3 Jahre und 9 Monate hinter Gitter. Zehn lange Jahre hatte der Sexualverbrecher seine eigene Tochter sexuell misshandelt und genötigt. Das Gericht hatte keinerlei Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Opfers, deren Aussagen in allen Vernehmungen konstant gleich gewesen sind. Nach Verbüßung der 2/3 Strafe ist der Sexualverbrecher nach etwas mehr als 2 Jahren wieder auf freiem Fuß.“ (Quelle: carechild.de, 27. April 2007)
„Fünf Jahre und drei Monate Haft wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 36 Fällen sowie wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und schweren sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 39 Fällen heißt es am 2. Juli 2007 für Peter M. nach einem Jahr Verfahrensdauer.“ (Quelle: berlinkriminell.de, Urteil vom 2. Juli 2007)
„In der Affäre um den sexuellen Missbrauch junger Frauen in Schmitten (Schweiz) hat das Kantonsgericht Freiburg das Urteil des Bezirksgerichts gegen zwei Beteiligte bestätigt. Die Verhandlungen fanden erneut unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die beiden zur Tatzeit erwachsenen Männer waren im März verurteilt worden und hatten daraufhin das Urteil angefochten. Einer erhielt eine Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren, der andere wurde zu 18 Monaten mit vierjähriger Bewährung verurteilt. Insgesamt fünf Erwachsene und fünf Minderjährige waren an den Taten beteiligt.“ (Quelle: 20min.ch, 17.09.09)
@Petra
Es ist im Grunde ganz einfach:
Was man selbst nicht erlebt hat, kann man auch nicht entsprechend angemessen nachvollziehen und bewerten .
Nahezu jeder hat sich schon einmal am Feuer verbrannt, und kann die Schmerzen gut zuordnen und bewerten.
Es gibt aber Ereignisse, die eben nicht jeder erlebt hat und diese dann auch nicht richtig bewerten beurteilen kann.
So kommt es dann auch wohl zu diesen kuriosen Urteilverkündungen aufgrund mangelder Nachempfindungs-Fähigkeit. Was man selbst nicht kennt oder wahrnehmen kann, wird eben abgewertet.
Dabei liegt nichtmal Unwissenheit in dem Bereich vor, sondern einzig und allein deren eigenes Gefühl der Richter. Ein Gefühl, welches dann dem tatsächlichen Gefühl mit deren Auswirkungen eines Betroffenen nicht annähernd entsprechen kann.
Somit kommt es zur unbewussten Abwertung bzw. Abschwächung in der Bewertung der tatsächlichen Schädigung eines Opfers.
Und wohl nur aus dieser Unwissenheit heraus, kommt es zu solch verharmlosenden „Fehl-Urteilen“.
Für mehrfachen Seelen-Mord (119 „erwiesene Fälle“!!!) gibt es nur rund 4 Jahre,
jodoch für Brandstiftung mit möglichem, aber nicht stattgefundenen Totschlags gibt es immerhin 13 Jahre.
Ich finde das sowas von unglaublich.
Dieses Bewerten mit zweierlei Maß ist sowas von unglaublich. Und das alles auf dem Rücken der betroffenen Opfer, welche sehr viel unerkannte Last mit sich rumschleppen müssen – eine Last mit der Zusatzlast dieser Ungerechtigkeit. Das kann man durchaus als Doppelbelastung so sehen.
Wie selbstverständlich verjährt in unserem Land ein Mord nicht.
Warum verjährt dann in unserem Land dieser Seelenmord?
Ich kann dein zu Anfang erwähntes „ohne Kommentar“ sehr gut verstehen. Denn da können einem schnell die Worte fehlen.
Hubert
@Hubert
Die Tragik hat ja noch eine Steigerung: Der zu 13 Jahren Haft verurteilte Brandstifter ist derjenige, von dem ich wenige Tage vorher berichtete; derjenige, der in seiner Jugend mehrfachen sexuellen Missbrauch erlitten hat, dem aber der Leiter einer Psychiatrischen Klinik „keinerlei seelische Störung“ und insofern „keine verminderte Schuldfähigkeit“ zugestanden hatte.
Und die – kommentarlose – Gegenüberstellung der Urteile sollte genau das aufzeigen: das Wissen über sexuellem Missbrauch, seine Ursachen, Hintergründe, förderlichen gesellschaftlchen Bedingungen, seine seelischen, neuronalen, körperlichen Auswirkungen auf das GANZE LEBEN der Betroffenen, die dadurch verursachten Kosten für die Gemeinschaft (z.B. wie in diesem Fall Gerichts- und Haftkosten, ansonsten aber auch beispielsweise Kosten für Psychiatrieaufenthalte, für Krankheitskosten, für Arbeitsunfähigkeit, Fremdunterbringung von Kindern, etc.) ist – jedenfalls in Deutschland – noch viel zu gering.
Anders lässt sich eine solche Diskrepanz (der Urteile) sowie das Übergehen des erlebten sexuellen Missbrauchs durch den Psychiater nicht erklären.
1995 ergab eine Umfrage der Sozialpsychiatrischen Abteilung der Freien Universität Berlin, dass in Deutschland die Unkenntnis der Fachwelt über das Störungsbild der Posttraumatischen Belastungsstörungen noch sehr groß war.
Ehrlich: Ich kann nicht erkennen, dass wir da schon sehr viel weiter sind.
Und mir fehlt – ich habe das auch schon mehrfach geschrieben – einfach das Verständnis dafür, dass das „in der Fachwelt“ noch immer so ist, bzw. durchgeht.
Sie haben sicher recht, es mangelt an „Nachempfindungs-Fähigkeit“. Aber die, das tut mir leid, setze ich bei Psychologen, Psychiatern, Psychotherapeuten und anderen „helfenden Berufen“ voraus! Ich meine, sonst sollten sie besser Kfz-Mechaniker oder Bibliotheksassistentin werden. Da benötigen sie keine „Nachempfindungs-Fähigkeit“!
Dasselbe gilt für „Unwissenheit“, denn das Wissen ist da:
„Seit 1980 gibt es im wissenschaftlich weitverbreiteten amerikanischen Klassifikationssystem psychischer Störungen (DSM) die Störungskategorie „Posttraumatische Belastungsstörungen“. Seit 1994 wird diese Störungskategorie auch in dem von der WHO herausgegebenen Internationalen Klassifikationssystem der Krankheiten (ICD 10) verwendet.“ (Maercker)
„Einmalige Erlebnisse – Naturkatastrophen, Unfälle, technische Katastrophen – werden leichter verarbeitet als menschliche Gewalt, besonders wenn sie durch nahestehende Personen verübt wurde. Als besonders pathogen wirkende Ereignisse gelten Vergewaltigung, sexueller Missbrauch und Misshandlung in der Kindheit sowie Kriegsereignisse. KZ-Traumatisierungen und langandauernder sexueller Kindesmissbrauch führen in rund sechzig Prozent der Fälle zu chronischer Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS).“
Auch hier setze ich wieder voraus, dass „die Fachwelt“ auch ohne direkte eigene Erfahrungen (wie Sie erläutern) in der Lage ist, 1 + 1 zusammenzuzählen!
Dass es NICHT so ist, weiß ich wohl. Aber ich bin nicht mehr bereit, das zu akzeptieren. Ich bin nicht länger bereit, für „die Fachwelt“ Verständnis zu haben. Sie haben es – in der Mehrzahl – offensichtlich für uns auch (noch) nicht.