FEUCHT – «Die Zeit heilt keine Wunden, aber sie lehrt mich, damit zu leben», steht auf dem Flyer der Selbsthilfegruppe «Sege – Trauma sexualisierte Gewalt». Ähnlich lautten die Devisen, die zwei andere Broschüren zieren, die ebenfalls informieren über Gesprächsgruppen für erwachsene Frauen, die in ihrer Kindheit Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind. Solche Selbsthilfegruppen in Bayern zu vernetzen, haben sich nun die Leiterinnen dreier Kreise aus der Region zur Aufgabe gemacht, denn «nur wenn wir viele sind, werden wir wahr- und ernstgenommen», wissen die drei Frauen mittleren Alters.

Sie verbindet ein Trauma, das auf Ereignisse zurückgeht, die in der Öffentlichkeit noch weitgehend tabu sind. Alle wurden in ihrer Kindheit vom Vater bzw. Stiefvater missbraucht, alle haben einen langen Leidensweg hinter sich, alle haben viele Jahre gebraucht, sich das einzugestehen, sich Hilfen zu holen und nun auch Hilfen für andere in ähnlicher Situation anzubieten. Damit sie ihre Ziele erfolgreicher durchsetzen können, haben sie nun auf zunächst kleiner Ebene einen «Arbeitskreis sexualisierte Gewalt» gegründet, in dem sie ihre Erfahrungen austauschen wollen und von dem sie sich einen besseren Stand in der Öffentlichkeit erhoffen.
Die Selbsthilfegruppen, die sie zunächst unabhängig voneinander ins Leben riefen, wollen betroffene Frauen unterstützen. Dass alle drei selbst zu diesem Personenkreis zählen, erklärt sich aus dem Begriff Selbsthilfegruppe. Und dass diese Art der Misshandlung eine Erfahrung ist, die man irgendwann verarbeitet hat, wenn sie nur weit genug zurückliegt, ist ein verbreiteter Irrtum, den sie korrigieren möchten. «Wenn man diese Ereignisse überlebt, dann muss man ein Leben lang mit ihnen leben», wissen Renate, Petra und Rosemarie, die Gruppen in Roth, Feucht und Nürnberg leiten. Und dieses Weiterleben soll den Betroffenen so weit wie möglich erträglich gemacht werden.
Dies ist das eine Ziel ihrer Selbsthilfearbeit, das andere ist Aufklärung. Beides lässt sich gemeinsam eher erreichen. Gleichzeitig soll aber auch die Anonymität gewahrt werden, denn nur so gelingt es den Betroffenen, irgendwann aus ihrer Isolation zu treten. Eine Vernetzung der Gruppen führt zu mehr Aufmerksamkeit, mit der sich wiederum ihre Absichten leichter durchsetzen lassen.
Beispiel: Viele Missbrauchsopfer reagieren Jahrzehnte nach der Tat mit psychosomatischen Beschwerden. Sie «…werden als erwachsene Frauen häufiger krank und leiden eher unter Depressionen, Ängsten, mangelndem Selbstbewusstsein, Alkoholmissbrauch, Drogenabhängigkeit und Selbstmordabsichten als andere Frauen», heißt es in einem Infoblatt. Würde man die Missbrauchsfolgen einer Frau als chronische Krankheit anerkennen, dann würde sie beispielsweise von den Zuzahlungen zu ihren Medikamenten befreit.
Weiteres Beispiel: Eine Änderung des Strafrechts könnte bewirken, dass Missbrauch nie verjährt. Dies würde den Frauen helfen, auch noch im Erwachsenenalter ihren Peiniger anzuzeigen. Denn häufig können die Betroffenen erst sehr spät die Zusammenhänge zwischen dem Verbrechen und ihrer Befindlichkeit erkennen. Dann aber ist die zehnjährige Verjährungsfrist oft schon vorbei. Und eine Bestrafung des Täters hilft natürlich, mit dieser schrecklichen Erfahrung zu leben.
Um Aufklärung bemüht
Ebenso wichtig wie eine Aufwertung des Geschehenen durch eine rechtliche Besserstellung und notwendige Hilfen durch Psychologen, Therapeuten und Kliniken sind ihnen aber auch Aufklärung, insbesondere Prävention, und Anerkennung. Denn Frauen, die ihre Leidensgeschichte öffentlich gemacht haben, erleben nicht selten deutliche Berührungsängste. Wo sie nach Hilfen suchen, werden sie zu Ämtern oder zum Hausarzt geschickt. Wenn sie Info-Vorträge in Schulen oder Kindergärten anbieten,werden sie abgelehnt.
Einerseits wissen die drei erfahrenen Gruppenleiterinnen, dass kein Außenstehender nachvollziehen kann, was ihnen angetan wurde, andererseits haben sie aber auch kein Verständnis dafür, dass man auch an höheren Stellen zu glauben scheint, was 20 Jahre zurückliegt, kann einen doch nicht mehr schmerzen. «Man lebt ja immer mit dieser ewigen inneren Traurigkeit», weiß Petra.
Die schrecklichen Kindheitserlebnisse sitzen tief: Eine der Frauen wurde vom eigenen Vater missbraucht und musste erleben, dass die Mutter auch nach einer Verurteilung des Verbrechers zu ihm gestanden ist. «Wenn mich meine Tante damals nicht aufgenommen hätte, hätte ich mich umgebracht», ist sich Renate heute sicher. Eine andere der drei wurde vom Stiefvater verbal so unter Druck gesetzt, dass eine Vergewaltigung nicht mehr «nötig» war, eine andere wurde nach jahrelangem Missbrauch mit 15 Jahren schwanger. Und alle sind sich einig: Die Mütter haben es gewusst oder geahnt, sie haben versagt. «Denn wir alle haben uns in unserer eigenen Kindersprache über das Schreckliche mitgeteilt, aber es wurde von den anderen nicht ernst genommen», erinnert sich Renate. Genauso schwierig ist es, mit eigenen Schuldgefühlen umzugehen. Noch nach Jahren stellen sich die Mädchen bzw. Frauen die Frage: «Was signalisiere ich, dass er mich anfässt?»
Die drei Frauen haben alle nach heftigen Zusammenbrüchen und mehreren Therapien den eigenen Leidensdruck als Motor für das Gründen einer autonomen Selbsthilfegruppe benutzt.
Die Treffen dort laufen nach bestimmten Regeln ab. Zunächst muss eine telefonische Kontaktaufnahme stattfinden, eventuell ein Treffen im Vorfeld und natürlich ein Gespräch, das ausschließt, dass es sich nur um Neuigierige handelt, die «mal sehen wollen, was dort so läuft». Bei den Sitzungen, die in regelmäßigen Abständen stattfinden, sind auf Wunsch der Teilnehmerinnen auch ab und zu Psychologen dabei, ansonsten gibt es zu Beginn ein «Blitzlicht», in dem jede kurz erzählt, wie es ihr derzeit geht. Daraus ergibt sich dann meist das Gesprächsthema für die Sitzung. Wichtig ist das Anonymitätsprinzip, man spricht sich beim Vornamen an oder verwendet ein Pseudonym. Noch wichtiger ist allerdings der sensible Umgang miteinander. Keine versucht der anderen vorzuschreiben, was sie tun soll. So heißt es nicht: «Du müsstest das machen…», sondern «Mir hat in einer ähnlichen Situation folgendes geholfen…». Wer nicht reden will, muss natürlich nicht. Auch kreative Ausdrucksmöglichkeiten wie Malen, Musik oder Schreiben kommen zum Einsatz. Das Reden in der Gruppe ist nicht nur deshalb so wichtig, weil alle selbst betroffen sind, sondern weil man auch Familie und Freunde, die Bescheid wissen, nicht ständig mit diesem einen Problem belasten will. Eine Partnerschaft nach sexuellem Missbrauch ist ohnehin schon schwierig genug.
Nachdem sich die drei Gruppenleiterinnen kennen gelernt hatten, entstand auch bald die Idee der bayernweiten Vernetzung und Bündelung. Ein Versuchsballon per Internet zeitigte jedoch wenig Resonanz. Nun will man eben zu dritt beginnen und durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit den Kreis der angeschlossenen Gruppen erweitern, weitere Selbsthilfegruppen aus der Isolation holen, Kenntnisse sammeln und weitergeben. «Wir wollen unsere Erfahrungen austauschen und einander stärken», formuliert es Petra, die das einfache, aber auch treffende Motto zitiert: «Gemeinsam sind wir stärker».
Die allgemeine Sensibilisierung für dieses Thema ist ein wichtiges Ziel: Daher nahm man auch am Gesundheitstag der Stadt Nürnberg vor einigen Wochen teil, an dem diverse Selbsthilfegruppen Gelegenheit erhielten sich vorzustellen. Je präsenter man in der Öffentlichkeit ist, desto mehr dringt das Bewusstsein durch, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern kein Randphänomen der Gesellschaft ist und umso selbstverständlicher sollte es eines Tages sein, in Jugendgruppen, Bildungseinrichtungen, Kindertagesstätten, aber auch bei Behörden und Ärzten zu diesem Thema angehört zu werden. Selbstverständlich sollte es dann auch sein, dass es viel mehr Frauen wagen, selber Gruppen zu gründen, um das Netz zu verdichten, denn der Bedarf ist leider vorhanden und zwischen Weißenburg und Nürnberg existiert derzeit zum Beispiel nur eine aktive Gruppe in Roth.
Schock durch Authentizität
Sehr häufig erleben die drei derzeit noch Desinteresse, wenn sie anbieten, durch Vorträge zu informieren. Wenn es dann aber doch dazu kommt, dann sind die Zuhörer überrascht über die authentische Präsentation der Problematik – und geschockt. Meist jedoch gehen Schulleitungen und andere Verantwortliche davon aus, dass die im Lehrplan vorgesehene Information oder etwa die Materialien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung genug seien.
Von der Kommunalpolitik wünscht man sich generell, dass mehr auf die Gruppen aufmerksam gemacht wird, denn Formationen wie diese Selbsthilfegruppen sind weit und breit die kompetentesten Ansprechpartner für Frauen, die durch sexuellen Missbrauch in Not geraten sind.

Kontakt: «Lebenslinie – Selbsthilfegruppe für sexuell missbrauchte Frauen» in Feucht, Telefon 0151/57571987 oder per E-Mail Lebenslinie@kabelmail.de; «Sege – Trauma sexualisierte Gewalt» in Nürnberg, Telefon 0911/2349449 oder per E-Mail damit-leben@web.de; Selbsthilfegruppe imFränkischen Seenland, Telefon 09172/685610.

Gisa Spandler

Quelle: http://www.der-bote.de/artikel.asp?art=1065336&kat=18