Beweise hat man erst, wenn die Opfer sprechen

Interview: Seraina Gross, Nyon;Aktualisiert am 10.10.2008

Opfer sexueller Ausbeutung in der Kindheit sollen jederzeit eine Anzeige machen können. Das fordern Christine Bussat, Aline Jeanneret und Alain Zogmal von «Marche Blanche». Ihre Initiative kommt am 30. November zur Abstimmung.

Christine Bussat (37) ist Präsidentin von «Marche Blanche». Sie hat die Organisation vor sieben Jahren in der Westschweiz ins Leben gerufen und aufgebaut. Sie ist selbstständige Schmuckverkäuferin und Mutter zweier Kinder, eines Knaben (16) und eines Mädchens (12).

Aline Jeanneret (37) ist verantwortlich für die Kommunikation. Zudem ist sie Ansprechperson für die Opfer, die sich bei «Marche Blanche» melden. Sie ist Mutter von zwei Mädchen im Alter von 10 und 15 Jahren.

Alain Zogmal (55) ist Jurist und verantwortlich für die Kampagnen von «Marche Blanche». Er ist Vater von zwei erwachsenen Kindern im Alter von 17 und 22 Jahren. Alle drei Interviewpartner arbeiten ehrenamtlich für «Marche Blanche».

«Marche Blanche» kämpft für wirksamere Gesetze gegen die Pädokriminalität

Die Bewegung «Marche Blanche» entstand in den Neunzigerjahren, nachdem die Affäre um den Kindermörder Marc Dutroux in Belgien verheerende Ermittlungsmängel bei Polizei und Justiz zutage gefördert hatte. 1996 nahmen 350 000 Menschen in Belgien an einer «Marche Blanche» teil. Seither sind die weissen Ballons und Plüschtiere vor allem im französischsprachigen Europa zum Symbol im Kampf gegen die Pädokriminalität geworden. «Marche Blanche» Schweiz wurde 2001 gegründet. Seither macht sie jeden Herbst mit mehreren Weissen Märschen auf den sexuellen Missbrauch von Kindern und die Ausbeutung durch die Kinderpornografie-Industrie aufmerksam.

«Marche Blanche» ist zwar ständig in Kontakt mit den Opfern, ist aber keine Opferhilfeorganisation. Ihr Ziel ist es, die Gesetze zur Bekämpfung der Pädokriminalität und zum Schutz der Opfer zu verbessern. 2003 erreichte die Organisation, dass der Bund eine Stelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität schuf. 2006 reichte «Marche Blanche» mit 120 000 Unterschriften eine Volksinitiative für die Unverjährbarkeit sexueller und pornografischer Straftaten an Kindern ein. Bundesrat und Parlament lehnen die Initiative ab. Das Parlament hat die Verjährung aber aufgrund der Initiative angehoben. Sie soll mit dem 25. Altersjahr des Opfers enden. «Marche Blanche» ist parteipolitisch ungebunden, wird jedoch von zahlreichen Politikern und Politikerinnen unterstützt – etwa von Christophe Darbellay, Präsident der CVP und Nationalrat (VS), den Nationalrätinnen Lucrezia Meier-Schatz (CVP, SG) und Regine Aeppli (SP, ZH) oder Oskar Freysinger (SVP, VS).

Mehr Informationen über «Marche Blanche»:
www.marche-blanche.ch
www.cybercrime.ch

Ihre Adresse hier in Nyon ist vertraulich. Warum?

Alain Zogmal: Aus Sicherheitsgründen. Man soll uns nicht besuchen können, ohne sich vorher anzumelden. Wir geben deshalb nur unsere Postadresse in Lausanne allgemein bekannt.
Christine Bussat: Es gibt viele Leute, die sich ärgern, dass es uns gibt.

Wurden Sie bedroht?

Christine Bussat: Ja, am Anfang wurden wir massiv bedroht. Aber das hat sich inzwischen gelegt.

Sie fordern, dass Sexualstraftaten an Kindern nicht verjähren sollen. Warum?

Christine Bussat: Die Opfer sexuellen Missbrauchs brauchen sehr viel Zeit, bis sie darüber sprechen. Als Kind schweigen sie, weil sie Angst haben. Die Täter drohen ihnen, dass ihren Geschwistern, ihrer Mutter oder anderen Menschen, die sie lieben, etwas passiere, wenn sie sich jemandem anvertrauen würden. Oft wird ihnen auch gesagt, sexueller Missbrauch sei etwas Normales. Das ist der grosse Unterschied zwischen den Opfern sexuellen Missbrauchs und den Opfern anderer Straftaten. Wer bestohlen oder ausgeraubt wird, der geht zur Polizei und erstattet eine Anzeige. Die Kinder vertrauen sich niemandem an.

Warum schweigen die Opfer weiter, wenn sie erwachsen sind?

Christine Bussat: Als junge Erwachsene sind die Opfer damit beschäftigt, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Sie brauchen ihre Energie dafür, selbstständig zu werden. Zudem ist es häufig so, dass die Opfer nicht um ihrer selbst Willen eine Anzeige machen, sondern weil sie verhindern wollen, dass andere Kinder das gleiche Schicksal erleiden. Wir haben in Kanada einen Mann getroffen, der sich zu einer Anzeige entschloss, nachdem er erfahren hatte, dass sein kleiner Bruder vom selben Mann wie er missbraucht wurde.

Das Parlament hat einen Gegenvorschlag zu ihrer Initiative gemacht und die Verjährungsgrenze von 25 auf 33 Jahre heraufgesetzt. Ist das nicht genug?

Christine Bussat: Nein. Wenn es die Grenze bei 45 Jahren gesetzt hätte, so hätte man darüber diskutieren können. Aber 33, das reicht wirklich nicht. Die Opfer sind 35, 40 Jahre alt oder noch älter, bis sie in der Lage sind, eine Anzeige zu machen.
Aline Jeanneret: Sexueller Missbrauch zerstört die Persönlichkeit eines Menschen. Es braucht Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, bis sie wiederhergestellt ist und die Voraussetzungen für eine Anzeige da sind. Wenn sich die Opfer dann dazu entschliessen, so darf es nicht heissen: Entschuldigung, aber wir können nichts machen, weil die Taten verjährt sind. Das Opfer soll jederzeit die Wahl haben: Anzeige, ja oder nein?

Wie ist es zu erklären, dass viele Opfer keine bewusste Erinnerung an den Missbrauch mehr haben?

Aline Jeanneret: Sexueller Missbrauch ist etwas so Traumatisierendes, dass er häufig vollständig verdrängt wird. Es ist einfach nicht passiert. Häufig sind es extreme Ereignisse wie zum Beispiel der Verlust einer nahe stehenden Person oder die Geburt eines Kindes, welche die Erinnerung an den Missbrauch wieder aufleben lassen. Die ersten Erinnerungsfetzen tauchen meistens im Alter zwischen 30 und 35 Jahren auf. Häufig haben die Opfer über eine längere Zeit Albträume. Bis sie sich bewusst erinnern können, dauert es meistens nochmals ein paar Jahre. Dann sind sie häufig 40 oder gar 50 Jahre alt.

Die Gegner der Initiative argumentieren, nach so vielen Jahren sei es kaum mehr möglich, genügend Beweise für eine Verurteilung vor Gericht beizubringen. Was sagen Sie dazu?

Christine Bussat: Das Gegenteil ist der Fall. Das hat uns ein Staatsanwalt in Kanada, wo sexuelle Straftaten an Kindern bereits heute nicht verjähren, klar bestätigt. Beweise, das sind im Fall von Kindsmissbrauch Zeugenaussagen. Diese hat man erst, wenn die Missbrauchsopfer, die Mütter, die Geschwister oder andere Familienmitglieder zu sprechen beginnen. Das ist meist erst Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte nach dem Missbrauch.

Sie sprechen im Initiativtext von pornografischen Straftaten an Kindern. Was verstehen Sie darunter?

Aline Jeanneret: Wir haben diesen Begriff gewählt, um die Aufmerksamkeit verstärkt auf das enorme Ausmass der Pädokriminalität im Internet zu lenken. Es gibt Millionen von Internetseiten mit kinderpornografischen Inhalten. Auf einigen gibt es bis zu 350 000 kinderpornografische Bilder. Hinter jedem dieser Bilder steckt ein Kind, dass an diesem Missbrauch ein Leben lang tragen wird. Die Kinderpornographie ist deshalb ein ebenso schweres Verbrechen wie der sexuelle Missbrauch von Kindern. Das besonders Perverse an der Kinderpornografie ist zudem, das das Kind nicht nur – erstens – sexuell missbraucht und – zweitens – gefilmt wird, sondern dass die Bilder des Missbrauchs – drittens – auch noch in Jahrzehnten im Internet zu sehen sein werden. Das Opfer kann jederzeit auf die Bilder stossen und wir sagen ihm: Wir können nichts machen, weil die Taten verjährt sind. Das darf nicht sein.

Ihre Gegner kritisieren, dass es unverhältnismässig sei, wenn der Konsum von Kinderpornografie nicht mehr verjähre. Was sagen Sie dazu?

Christine Bussat: Die Initiative stellt den sexuellen Missbrauch und die Herstellung und den Vertrieb von kinderpornografischen Bildern und Filmen ins Zentrum. Ob der Konsum nicht mehr verjähren soll, wird das Parlament entscheiden, wenn die Initiative angenommen ist.

Die Gegner meinen zudem, dass ein Freispruch des Täters das Opfer erneut traumatisieren könnte. Was sagen Sie dazu?

Christine Bussat: Das ist das zweite Argument, mit dem die Gegner vom Thema ablenken wollen. Von Kanada wissen wir, dass das nicht der Fall ist. Die Befragung von Opfern hat gezeigt, dass diese froh waren, den Täter vor Gericht gebracht zu haben, selbst wenn es nicht zu einer Verurteilung kam. Sie hatten im Minimum erreicht, dass sich der Täter stellen musste. Alain Zogmal: Die Möglichkeit eines Freispruchs besteht immer. Das ist das Risiko jedes Prozesses und hat nichts mit der Verjährung zu tun. Das Opfer muss sich darüber Rechenschaft ablegen, bevor es eine Anzeige macht. Es ist seltsam, manchmal betrach- tet man die Opfer als unschuldige Kinder, die vor sich selbst geschützt werden müssen, manchmal betrachtet man sie als böse Erwachsene, die lügen und Unschuldige vor Gericht bringen wollen. Die Haltung gegenüber den Opfern ist voller Widersprüche.

Laut Initiativtext bezieht sich die Unverjährbarkeit auf Straftaten gegen Kinder «vor der Pubertät». Ihre Gegner kritisieren, das sei ein unklarer Begriff.

Alain Zogmal: Die Altergrenze muss vom Parlament in der Tat noch genau bestimmt werden. Heisst «vor der Pubertät» jünger als zehn, elf oder zwölf Jahre? Irgendwo wird man die Grenze ziehen müssen.

Denken Sie, dass Ihre Initiative eine Chance hat?

Alain Zogmal: Wir wissen, dass es sehr schwierig ist, eine Volksinitiative durchzubringen. Das passiert alle paar Jahre einmal. Trotzdem: Die Wahrnehmung der Politik und der Leute, die sich mit dem Thema der Pädokriminalität und ihrer Opfer befassen, klaffen diametral auseinander. Viele Leute sind der Meinung, dass zu wenig gegen die Pädokriminalität gemacht wird. Wir sind deshalb zuversichtlich, dass unsere Initiative angenommen wird.
Aline Jeanneret: Das Volk weiss, dass die Pädokriminalität bei den Opfern enorme Schäden anrichtet und dass sie – nicht zuletzt – auch eine Menge kostet. Viele der Opfer sind psychisch krank, brauchen Medikamente und Therapien, sind drogen- oder alkohlsüchtig. 80 bis 90 Prozent der Drogensüchtigen wurden als Kind sexuell missbraucht. Das Volk will, dass etwas dagegen unternommen wird. Die Kinder von heute sind die Erwachsenen von morgen. Man muss deshalb die Kinder schützen, damit es der Welt gut geht.

Wie sind Ihre Kontakte mit dem Justizministerium?

Christine Bussat: Wir hatten einen sehr guten Kontakt zu Bundesrätin Ruth Metzler. Mit ihrem Nachfolger Christoph Blocher hatten wir weniger häufig zu tun. Unsere Vizepräsidentin, Chantal Besson, hat Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf einmal getroffen. Generell lässt sich sagen, dass sich die Mitarbeiter im Justizministerium des Themas durchaus bewusst sind. Wir hoffen deshalb, dass wir in den Prozess der Gesetzgebung einbezogen werden, sollte die Initiative angenommen werden. (Baz.ch/Newsnetz)

Quelle: http://www.bazonline.ch